Kapitel 12

Rose parkte den Wagen ihrer Mutter neben den Gebäuden an der Pferderennbahn von Casterton. Ihr Blick wanderte über die leere Rennbahn und über die Hitzeschwaden, die über den fernen Baumwipfeln aufstiegen. Die Haupttribüne stand weit aufgerissen da wie ein riesiger, gähnender Mund. Der weite, verdörrte Rasen, auf dem sich noch vor kurzem die Menschen gedrängt hatten, strahlte eine gespenstische Leere aus.

»Hallo?«, rief sie, als sie den Kopf in das Büro der Rennleitung streckte. Keine Antwort. Nur das Klicken der Hitze in dem Blechdach. Dann hörte sie Hufschläge hinter sich. Sie fuhr herum, und im selben Moment stockte ihr der Atem, weil über ihr ein Mann auf einem unruhigen Pferd aufragte. So vor der grellen Sonne hätte es Sam auf Oakwood sein können. Aber als das Pferd in den Schatten tänzelte, erkannte sie, dass es Billy O’Rourke war, der ein weiteres Jungpferd für einen Kunden zuritt.

»Hallo, Rosie. Auf der Suche nach deinem Iren?«, fragte Billy.

»Allerdings.« Rosie fand es bewundernswert, wie ruhig er auf dem nervösen jungen Pferd saß.

»Geh nur rein. Da drin steht ein ganzer Aktenschrank mit alten Papieren. Du kannst gern ein bisschen darin rumkramen. Ich gehe nur schnell den Schlüssel holen. Bin sofort wieder da.«

Im Büro der Rennleitung rammte eine Fliege unermüdlich ihren Kopf gegen die Fensterscheibe, während Rosie die Fotos an der Wand betrachtete. Auf einem Foto standen feine Damen in weißen Kleidern im Schatten riesiger Eukalyptusbäume. Rosie überflog das Bild, um die Männer unter den Fotografierten zu entdecken. Es waren kaum welche unter den Ladys. Vielleicht, dachte sie, waren alle weggegangen, um sich die Pferde anzusehen. Sie schoss herum, als Billy lächelnd in den Raum trat.

»Das wird interessant«, sagte er.


Als Rosie über den Viehrost am Eingang zur Highgrove Station fuhr, kam ihr Julian entgegengefahren. Sein Collie beugte sich eifrig über die Seitenwand des Pick-ups. Sie hielt an und kurbelte das Fenster herunter. Julian blieb stehen und stieg aus.

»Wo ist Mum?«, fragte er.

Rosie zuckte mit den Achseln. »Ich hab’ sie abserviert.«

»Im Ernst?«

»Nein. Reines Wunschdenken. Sie lässt sich später von irgendwem heimfahren.«

»Ach so. Na ja, ich hätte es dir nicht verdenken können.«

»Wo willst du hin?«, fragte Rosie, der die Taschen hinten auf seinem Pick-up aufgefallen waren.

»Ich gehe.«

»Hast du was in Melbourne vor?«

»Nein. Ich meine, ich gehe. Endgültig. Du weißt schon.«

»Was?« Rosie sprang aus dem Pajero und baute sich vor ihrem Bruder auf. »Das kannst du nicht!«

»Und wie ich das kann.«

»Aber was ist mit Mum und Dad?« Rosie schüttelte den Kopf. »Ich meine mit deinem Dad.«

»Es geht nicht um sie. Sondern um mich«, sagte Julian.

»Aber… die Station? Du – «

»Es ist nicht meine Station. Ich wollte sie nie haben – nicht solange mir Dad im Nacken sitzt.«

»Aber ich brauche dich. Was ist mit Sams Hunden und Pferden? Du musst mir mit ihnen helfen.«

»Nur darum geht es, oder?« Julians Kiefermuskeln mahlten grimmig. »Braucht jemand Hilfe? Julian muss her! Er kann es reparieren, er kann es wegschleppen, er kann es füttern, er kann es tränken, er kann es jäten, zurückschneiden, abhacken, wegkarren. Nein, Rose. Ich bin fertig hier. Ich gehe.«

»Aber – «

»Begreifst du nicht? Mein ganzes Leben lang stehe ich unter Druck. Und jetzt, wo die Wahrheit über dich ans Licht gekommen ist, hat sich der Druck verzehnfacht. Ich will nicht der alleinige und einzige Goldschatz sein. Leckt mich doch alle! Jetzt wird sich Dad auf dich verlassen müssen, ob es ihm gefällt oder nicht. Du bist die einzige Angehörige, der er diese Station noch überlassen kann. Ich will sie nicht, verflucht noch mal. Ich habe sie nie gewollt.«

»Aber Jules …« Rosie legte die Hand auf seinen Arm und machte einen Schritt auf ihn zu. Er sah gleichzeitig wunderschön und verletzlich aus.

»Nicht, Rose … mach es mir nicht noch schwerer.«

»Wo willst du hin?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Pläne habe. Und ich habe Freunde. Kumpel, mit denen ich auf der Schule war.«

»Aber du kannst mich nicht allein lassen!« Rosie hörte die Hysterie in ihrer Stimme. »Nicht jetzt!«

»Du brauchst mich nicht. Du schaffst das auch ohne mich. Es wird Zeit, dass ich endlich anfange, meine Träume wahr werden zu lassen. Scheiß doch drauf, was Dad sagt. Oder was die Leute sagen. Ich lasse mir keine Angst mehr einjagen. Rose … und du solltest das auch nicht. Dafür ist das Leben zu kurz. Das hat mir Sams Tod gezeigt.«

Julian schloss sie in die Arme, und Rosie spürte die Wärme seines muskulösen, knochigen Körpers. Sie atmete seinen Duft ein. Es war ein ungewohntes Gefühl, ihn so fest zu umarmen. In ihrer Familie gab es so gut wie keine körperlichen Kontakte.

»Ich weiß, dass du zurechtkommen wirst, Rosie. Und wir bleiben in Verbindung, versprochen. Du schaffst das schon. Vertrau mir.«

Sie nickte traurig und zog ihn zu einer letzten Umarmung an ihre Brust.

Dann war er fort. Rosie schaute den Heckleuchten seines Pickups nach, bis sie verschwunden waren.


Als Rosie den Pajero in der Garage parkte, hörte sie aus dem Scherstall das Schnurren einer Schermaschine. Im Hof liefen ein paar geschorene Lämmer herum. Wen hatte Gerald so kurzfristig zum Scheren gefunden? Die Stirn in Falten gelegt, ging sie zum Scherstall. Drinnen, am anderen Ende der langen Reihe von Schurständen, stand Gerald über ein Merino-Hammellamm gebeugt. Schweiß tropfte von seiner Stirn in die Wolle, und sein Gesicht war knallrot. Ein hinter ihm stehender Ventilator pustete die abgeschorene Wolle an die Fangwände, wo sie sich in einem Haufen ablagerte wie Schaum, den die Wellen am Strand zurücklassen. Der gesamte Schurstand, auf dem Gerald unter der Schermaschine stand, war mit köttelverklebten Flusen und verfilzter und fleckiger Bauchwolle bedeckt.

»Dad?« Rosie verzog das Gesicht. Sollte sie ihn überhaupt noch so nennen? Plötzlich wurde ihr alles zu viel, und sie schloss die Augen.

Gerald sah auf, schaltete die Maschine aber nicht aus. Stattdessen schor er die letzten Streifen ab. Anschließend ließ er das Lamm wieder auf die Hufe kommen, das sofort aus der Luke in den Pferch eilte, um sich zu der restlichen geschorenen Herde zu gesellen. Gerald richtete sich auf und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. Plötzlich begriff Rosie, dass er auch Tränen von seinen Wangen wischte. Sie fragte sich, wie Julian ihm wohl beigebracht hatte, dass er wegging. Hatten sich die beiden gestritten? Oder hatte sich Julian in aller Stille verabschiedet? Plötzlich tat Gerald ihr Leid. Er hatte alles auf Julian gesetzt, sein Sohn hatte für ihn die Zukunft der Farm verkörpert. Und nun war er fort.

»Kann ich helfen?« Gerald antwortete nicht. Stattdessen verschwand er durch die Tür zum Pferch, warf das nächste Schaf zu Boden und schleifte es zum Schurstand. Rosie nahm sich einen Besen und begann zu fegen. Auf Geralds Gesicht zuckte Ärger auf.

»Kehr nicht alles auf einen Haufen, Weib«, fuhr er sie ungeduldig an. Er beförderte das Lamm in den Pferch zurück und nahm ihr den Besen ab.

»Schau zu. Die fleckige Wolle kommt auf einen Haufen. Die Köttel kommen auf einen anderen. Die Wolle vom Kopf und die saubere Rückenwolle kommt in die Tonne, und die Bauchwolle kommt in diese Ecke hier.« Beim Reden hob Gerald jeweils die entsprechende Wollsorte hoch. Rosie nickte ernst und konzentrierte sich ganz aufs Sortieren und Kehren. Schweigend arbeiteten sie nebeneinander her. In Rosies Kopf überschlugen sich die Gedanken. Warum war Julian weggegangen, und wie würde ihre Mutter wohl darauf reagieren? Wie musste Gerald unter der Last der Verzweiflung leiden? Aber gleichzeitig arbeitete sie unermüdlich weiter, immer schneller werdend, sodass der Arbeitsbereich bald sauber war und sie die Wolle in lockerem Rhythmus sortieren konnte. Sie bemerkte, wie Gerald sich stöhnend mit jedem Schaf abmühte. Sie hatte ihn kaum je bei einer körperlichen Arbeit gesehen und sah ihm an, wie sehr er sich anstrengen musste. Kaum dass der Pferch leer war und er sich im Aufrichten das Gesicht abwischte, baute er sich zu voller Größe auf und verschwand dann zu den Pferchen hinter dem Stall, um noch mehr Schafe zum Scheren zu holen. Während sie die letzten Köttelklumpen beiseite fegte, hörte sie, wie er vergeblich versuchte, die aufgeregten jungen Schafe in den Pferch vor dem Scherstall zu treiben. Nervös schaute Rosie nach draußen, wo sich ihr Vater lautstark fluchend abmühte.

»Verfluchte Biester!«, sagte er, als die Hammellämmer wieder knapp vor dem Gatter abdrehten. »Die Mistdinger wollen einfach nicht«, sagte er und warf dabei ein junges, verwirrtes Lamm in Richtung Tor. »Herrgott noch mal, Rosemary, geh da weg! Solange du da stehst, lassen sie sich garantiert nicht reintreiben!«

»Die lassen sich auch nicht reintreiben, wenn ich nicht hier stehe! Gib also nicht mir die Schuld!«

Gerald sah zu ihr auf.

»Warum holst du nicht einen von diesen sündteuren Hunden? «, meinte er müde. »Nachdem dein Bruder seine nutzlosen Köter mitgenommen hat, solltest du Sams Hunde einspannen.«

Als Rosie erneut zum Besen griff, fühlte sie sich schon viel aufgeräumter. Diesel war ihr gehorsam in den Schuppen nachgetrottet, und hatte, kaum dass sie »Bring!« gesagt hatte, den Zaun übersprungen und alle Schafe zu ihr getrieben. Sobald alle Lämmer zum Gatter drängten und nicht mehr hin und her rannten, hatte sie kurz gepfiffen und in die Hände geklatscht. Daraufhin war Diesel hinter die Herde gelaufen und hatte zu bellen begonnen. Wenige Augenblicke später war der Scherpferch gefüllt. Sie hatte den Hund zu sich an den Scherplatz gerufen, »Platz«, befohlen, woraufhin er sich auf den kühlen Holzboden gelegt hatte, die Pfoten dicht nebeneinander, und aus ernsten braunen Augen die Lämmer beobachtete, die eins nach dem anderen unter die Schermaschine geschleift wurden. Natürlich hatte sie gehofft, dass ihr Vater sie loben würde, aber der Anblick des vollen Scherpferchs schien ihn nur noch wütender zu machen.

Grob schleifte er ein weiteres Lamm heran und wollte schon die Maschine anwerfen, als Rosie ihn fragte: »Kannst du mir das beibringen?«

Ehe er ablehnen konnte, hatte sie sich vorgedrängt und ihn dabei mehr oder weniger beiseite geschubst. Sie packte die Vorderbeine des Lammes, das aufrecht auf dem Brett stand. Auf Geralds Gesicht trat für einen Moment ein angewiderter Ausdruck. Aber er war zu müde, um mit ihr zu streiten, und zu erleichtert, dass er wieder aufrecht stehen konnte. Also ging er nach nebenan in den Raum des Aufsehers, schaltete die Neonlampen über dem Schurstand ein und begann, Rosie zu zeigen, wie man Schafe schert. Rosie spürte, wie der warme Scherkopf in ihren Händen vibrierend zum Leben erwachte. Sie war erschrocken, wie warm das Handgerät wurde und wie eigensinnig es zu sein schien. Aber als sie Scherkamm und Scherblatt durch die Wolle zu führen begann, sah sie zu ihrem Vater auf.

»Schau, ich bin ein Naturtalent.«

Gerald sah sie säuerlich an und griff zum Besen, um die Köttel wegzufegen.