Kapitel 13
Während der nächsten Tage versuchte sich Rosie an die ungewohnte neue Gestalt ihrer Familie zu gewöhnen. Alle drei schienen sich auf Zehenspitzen zu umschleichen und vor den vielen unausgesprochenen Fragen zurückzuscheuen, die jeder mit sich herumschleppte wie einen Sack Steine. Das eiserne Visier, hinter dem Rosies Eltern ihren Schmerz verbargen, war wieder fest herabgezogen. Dass Julian erst ein einziges Mal aus der Stadt angerufen hatte, wurde praktisch nicht erwähnt. Und selbst da hatte sich Margaret vor allem nach dem Wetter in Melbourne erkundigt. Ihre Mutter und ihr Vater sprachen immer noch nicht miteinander, ihre Ehe war so brüchig wie der aufgeplatzte Boden auf den staubigen Weiden. Sie benutzten Rosie, um Nachrichten zu überbringen, oder hinterließen einander kurze, scharf formulierte Notizen auf dem Küchentisch. Abends verschwand Gerald in seinem Büro, wo er Stunden am Telefon verbrachte. Margaret genehmigte sich immer öfter einen heimlichen Schluck aus der Weinbrandflasche in der Küche und warf nachts Pillen ein, um schlafen zu können.
Rosie hatte sich in der Arbeiterunterkunft häuslich eingerichtet. Die eleganten Leinendecken ihrer Mutter wirkten befremdlich in den schmucklosen, alten Räumen, aber nachdem Rosie die Regale mit Büchern und die Schränke mit von ihrem Bruder geliehenen Arbeitssachen gefüllt hatte, begann sie sich allmählich heimisch zu fühlen. Die winzige Küche stattete sie für jene Tage, an denen sie ihren Eltern nicht gegenübertreten wollte, mit Nudelpäckchen und Dosengerichten aus. Ihr Körper hatte sich immer noch nicht richtig an die schwere Arbeit gewöhnt, und psychisch hatte sie die Schocks der letzten Monate noch längst nicht verarbeitet. Tagsüber verbrachte Rosie viel Zeit mit Sams Hunden und Pferden, und nachts tauchte sie, um den Schmerz auszublenden, in die Geschichtsbücher ein, die Duncan ihr gegeben hatte. Sie las von Faustkämpfen und von gut aussehenden Viehtreibern, die gegeneinander wetteten, wer sich trauen würde, mit dem Pferd von der Brücke in den Glenelg River zu springen. Sie las von Schafhirten, die von Eingeborenen umgebracht worden waren, und von Eingeborenen, die von Schafhirten umgebracht worden waren. Sie las von einer Siedlersfrau, die nacheinander jedes ihrer fünf kränklichen Kinder zu Grabe tragen musste, ehe sie zuletzt in einen anderen Distrikt weiterzog.
Abend für Abend wühlte sich Rosie durch ausschweifende historische Schilderungen, immer auf der Suche nach einem kleinen Hinweis auf Jack Gleeson. Sie machte sich Notizen für ihre Artikelserie, bis ihr die Augen schwer wurden und sie schläfrig nach der Nachttischlampe tastete. Dann lag Rosie wach in der Dunkelheit und malte sich, während sie den schnaubenden und kauenden Pferden nebenan lauschte, aus, wie es wohl sein mochte, in einer abgelegenen Hirtenhütte zu leben.