Dunrobin Station

Jack wickelte die Wolldecke um die Schultern und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Seiten des Buches. Die klein gedruckten Buchstaben wurden vom Schein der Kerzen erhellt, die hektisch flackerten, weil die Zugluft durch die Ritzen zwischen den ungeschälten Planken der Hüttenwand hereindrang.

In seinem Text hatte Charles Dickens geschrieben:


Ich kenne einen zottigen schwarz-weißen Hund, der sich einen Treiber hält. Er ist ein Hund von friedlicher Wesensart und erlaubt diesem Treiber allzu oft, sich zu betrinken. Bei solchen Anlässen pflegt der Hund draußen vor dem Public House sitzen zu bleiben, ein paar Schafe im Auge zu behalten und nachzudenken.


Jack seufzte. Er war mittlerweile seit einem Monat auf Dunrobin und wünschte sich von Herzen einen richtigen Hund. Faulpelz war das Gespött aller Männer, die auf Dunrobin arbeiteten. Statt nachts auf die Herde aufzupassen, kratzte er allabendlich an Jacks Tür und winselte darum, hereinkommen und am Feuer schlafen zu dürfen. Er schlief die ganze Nacht durch, während Jacks Schafe die schadhaften Stellen in den windschiefen Nachtpferchen fanden und über das uneingezäunte Land in der Flussebene zogen. Manche von ihnen querten gar den im Mondschein glänzenden Fluss und grasten am anderen Morgen auf dem anderen Ufer, das zur Warrock Station gehörte. An solchen Tagen schwang sich Jack schon vor Tag und Tau in den kalten, harten Sattel und ritt Bailey in einem weiten Bogen, bis er alle Streuner wieder eingesammelt und die Schafe über den Fluss zurückgetrieben hatte. Faulpelz tanzte dann, nach gut durchschlafener Nacht, vor Aufregung um ihn herum und half Jack gelegentlich, ein Schaf aus einem besonders struppigen Unterholz zu treiben. Jack wünschte sich sehnlichst einen Hund mit Abstammung. Einen Hund, dem er vertrauen konnte.

Jack klappte das Buch zu, blies die Kerze aus und bückte sich, um einen Scheit auf das knisternde Feuer zu werfen. Den Blick gedankenversunken in die Flammen gerichtet, erinnerte er sich daran, wie er den Weg nach Dunrobin hinaufgeritten war, um bei Mr Murray vorzusprechen. Kaum hatte er an die Hintertür geklopft, hatte ihm Mr Murray persönlich geöffnet, und wenig später hatten er und Jack einander unter dem schattigen Baldachin hinter dem Haus die Hand gereicht. Damit war es abgemacht: Jack war von nun an Viehtreiber.

Anfangs war er einem älteren Mann nachgelaufen, um sich über seine Aufgaben kundig zu machen, die Station kennen zu lernen und ein Auge für die Ohrmarken und Brandzeichen der Herden zu entwickeln. Dunrobin hatte die amtliche Lizenz, dreißigtausend Schafe zu halten, aber bislang grasten lediglich neunzehntausend Tiere auf den nicht eingezäunten Weidegründen. Jack bekam eine eigene Herde anvertraut und Anweisung, sie entlang der Route Casterton-Apsley nach Norden zu treiben, wo er sie am Glenelg River grasen lassen sollte, genau an der Grenze zur Warrock Station. Ein Lastpferd, mit Essen und Ausrüstung beladen, wurde ihm gestellt. Bobby war ein flohgeplagter Grauschimmel mit wackligen Sprunggelenken und einem großen, hässlichen Haupt. Aber er war ein gutes Pferd und achtete darauf, seine Lasttaschen nicht zu zerkratzen, wenn der Weg durch dicht stehende, rauborkige Eukalyptushaine führte. So hatte sich Jack auf die Tagesreise vom Haupthaus zur Hirtenhütte gemacht.

Die Hütte stand unter einigen Roteukalyptusbäumen. Jack gefiel das Fleckchen Erde. Über ihm in den Baumwipfeln glucksten die Elstern, und nicht weit entfernt glitt in aller Ruhe der Fluss vorbei. Den ersten Nachmittag hatte er damit zugebracht, die Axt zu schwingen, um Schösslinge und größere Bäume zu fällen. Er verwendete sie, um die Behelfspferche zu flicken, in denen er die Schafe über Nacht einsperren würde, um sie vor den Attacken der Wildhunde zu schützen.

Die Tage in der Hütte waren zu Wochen geworden. Ab und zu kamen ein paar Treiber vorbei und nächtigten bei ihm. Oft erzählten ihm die Männer, dass man auf Warrock gute Hunde finden konnte. Jack war fest entschlossen, so bald wie möglich dorthin zu reiten, um sich davon zu überzeugen. Glücklicherweise waren ein paar Schafe aus den Herden von Warrock Station über den Fluss gestreunt und hatten sich seiner Herde angeschlossen, sodass er sie heimbringen und in George Robertsons Pferche befördern konnte. Bei der Gelegenheit würde er sich erkundigen, ob er dort einen guten, folgsamen und aufrichtigen Hund erwerben konnte.

Jack kletterte in seine Bettrolle am Feuer und war gerade weggedöst, als Faulpelz wieder einmal winselnd an der Tür kratzte.

»Dir auch eine gute Nacht«, sagte Jack ärgerlich, aber in seiner Stimme lag, ohne dass er es wollte, ein Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Wenn es stimmt, was man über die Hunde auf Warrock sagt, wirst du dich bald aufs Altenteil zurückziehen können.«



Rosie räkelte sich verschlafen unter ihrer Decke und strampelte sie dann fort. Dösend, nur in ihrer Unterhose und einem weißen Baumwollunterhemd lag sie da und streckte die braunen Glieder in der Hitze von sich. Sie wusste, dass sie verschlafen hatte, aber ihr Körper war noch erschöpft vom Tränken der Schafe und vom Klauenschneiden bei den Lämmern und weigerte sich aufzuwachen.

»Gehört das Dornröschen mit zur Unterkunft?«, hörte sie eine Männerstimme fragen. In der Stimme lag ein unüberhörbar irischer Singsang.

Rosie riss die Augen auf. In der Tür stand die hohe Silhouette eines jungen Mannes.

»Jack?« Sie rieb sich die Augen und befürchtete schon, den Verstand verloren zu haben.

»Rosemary!« Von draußen schallte die Stimme ihrer Mutter herein. »Ach du Schreck! Ich dachte, du wärst längst auf!«

Als Rosie begriff, dass die Erscheinung keine Erscheinung war, sondern ein leibhaftiger Mann, zog sie hastig die Decke an die Brust und fragte mit großen Augen: »Mum?«

Margaret drängte sich an dem Mann vorbei in den Raum.

»Das ist meine Tochter Rosemary.«

»Rosie«, korrigierte Rosie entschieden.

»Das ist unser neuer Viehtreiber. Jim Mahony.«

»Vielleicht ist das nicht der richtige Moment, uns bekannt zu machen, Mrs Highgrove-Jones. Wie wär’s, wenn wir ihr erst mal Zeit lassen, sich anzuziehen?«, meinte Jim mit einem Funkeln in den Augen.

Rosie erkannte, dass es dieselben blauen Augen waren, die sie in Mr Seymours Flur gesehen hatte. Jim Mahony war kein Geist. Er war ein durchaus lebendiger Ire in Jeans und einem blauen Arbeitshemd. Die Hemdfarbe und seine braune Haut ließen seine Augen noch blauer wirken. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, löste sich sein Gesicht in einem entspannten Lächeln auf, und seine breiten Schultern füllten den Türstock fast vollständig aus. Ohne dass sie es wollte, fiel Rosies Blick abwechselnd entweder auf die schlanken Hüften, den flachen, durch einen beschlagenen Ledergürtel abgesetzten Bauch oder auf die blitzblank polierten Stiefel.

Plötzlich flammte Zorn in ihr auf, denn ein neuer Viehtreiber bedeutete natürlich, dass sie nicht länger in der Unterkunft bleiben konnte. Ihre Mutter hatte ihr wieder mal einen Strich durch die Rechnung gemacht.

»Kommen Sie, Mr Mahony. Wir haben noch Zeit für eine Tasse Tee. Lassen wir Rosie allein, dann kann sie sich ankleiden und ihre Sachen zusammensuchen, damit Sie gleich einziehen können. «

»Nur wenn es keine Umstände macht. Ich möchte niemanden aus seinem Heim werfen.«

»Aber nein, keineswegs! Rosie gehört nicht hierher. Sie schläft hier nur, wenn es draußen zu heiß wird, nicht wahr, Liebes?«

Margaret schob Jim nach draußen und verschwand plaudernd mit ihm über den Hof. Sie setzte ihn auf einen alten Hocker im Wintergarten. Dann ging sie in die Küche, um ihm Tee zu machen – im Becher natürlich, nicht in einer Tasse – und einen Teller mit Keksen – aus der Packung, nicht selbst gebacken – zusammenzustellen.

Rosie schlüpfte eilig in ihre Jeans. Immer noch im Unterhemd hüpfte sie barfuß über den Hof und knallte die Fliegentür vor dem Wintergarten zu.

»Verzeihung«, sagte sie mit hochrotem Kopf, bevor sie an Jim vorbei ins Haus rannte. Er schaute ihr nach, schlug die Beine übereinander und begann, in der vorletzten Ausgabe der Weekly Times zu blättern, während er sich im Stillen fragte, was in aller Welt mit dieser Familie los war.

In der Küche zischte Rosie ihre Mutter an: »Was sollte das?«

»Ich kann doch nichts dafür, dass du nicht angezogen bist.«

»Nein! Nicht das!«

Margaret kippte kochendes Wasser in die Teekanne – die alte aus Porzellan, nicht die feine Silberkanne. »Nun, wie soll ich meine Tochter denn sonst wieder ins Haus bekommen, wo sie hingehört? Und für Gerald ist es die positive Überraschung, die er so dringend braucht. Jetzt, wo Julian weg ist, ist es noch wichtiger, ihn glücklich zu machen.«

»O Mann, Mum!« Rosie war entnervt. »Wir kommen super zurecht – und außerdem könnte nichts Gerald glücklich machen. Er wurde schon miesepetrig geboren.«

»Hör zu«, mahnte Margaret, »dein Vater ist kurz davor, uns zu verlassen. Ich kann das spüren.«

»Hör auf, so paranoid zu sein«, zischte Rosie sie an. »Und außerdem ist er nicht mein Vater! Klar?«

Margaret schüttelte traurig den Kopf. Rosie kniff die Augen zusammen.

»Wo hast du diesen Typen überhaupt aufgelesen? Auf einer Müllkippe?«

»Sei nicht albern, Rose. Ich habe ihn kennen gelernt, als ich Mr Seymour das Essen brachte. Ihre Familien sind in Irland verwandt, und Mr Mahony besucht den Western Distrikt in der Hoffnung, auf einer Station Arbeit zu finden.«

»Ach so. Und worin ist er gut – im Kartoffelpflanzen?«

»Er hat mehr Erfahrung in der Schafzucht als du, junge Dame, darum will ich keine Widerrede mehr hören.«

Margaret kehrte Rosie den Rücken zu und ließ sie allein in der Küche stehen. Sie trug das Tablett in den Wintergarten und setzte unterwegs ein gütiges Lächeln auf. Um ihre Ehe zu retten, würde sie alles tun, auch diesen jungen Mann zum Bleiben bewegen.