Kapitel 29

Der scharfe Huf des Kalbes knallte schmerzhaft gegen Rosies Schienbein.

»Autsch! Du kleiner Mistkerl!«, rief sie aus und hüpfte auf einem Bein, doch schon im nächsten Moment hatte sie zwischen die Beine des Kalbes gefasst und seine Hoden gepackt. Sie brachte das Messer so in Position, wie Jim es ihr gezeigt hatte.

»Ich kann es ihm nicht verübeln«, sagte Jim und lud die nächste elektronische Marke in das Schießgerät. Es war sein erster Versuch einer scherzhaften Bemerkung an jenem Tag, und Rosie sah mit einem erleichterten Lächeln zu ihm auf. Sein Schweigen hatte ihr zu schaffen gemacht.

Heute trennten sie die frühen Kälber von den Müttern und führten sie in die Gestelle. Anfangs hatte Rosie angenommen, Jim sei nur müde und habe keine Lust zu reden. Aber im Verlauf des Tages war unübersehbar geworden, dass ihn irgendwas beschäftigte. Solange im Pferch nebenan die Kühe muhten und die Kälber entsetzt aufschrien, wenn sie beim Markieren das Messer zu spüren bekamen, unternahm Rosie nicht einmal einen Versuch, ihn zu fragen, was ihn beschäftigte. Das müsste bis zum Abend warten.

Sie griff nach der Impfspritze und jagte die Nadel durch die ledrige Haut des Kalbes. Dann ging sie zum nächsten Kalb weiter.

»Auf das hier habe ich gewartet«, verkündete sie, als sie schließlich das letzte Kalb aus dem Gestänge ließ.

Während sie auf der Heckklappe des Pick-ups saß und die Ohrmarken ordnete, schaute Rosie immer wieder zu jener fernen Hügelkette auf, wo tief im Busch die Hütte stand. Sie dachte an die Nächte zurück, die sie dort mit Jim verbracht hatte. Obwohl es nur ein paar Monate her war, kam es ihr vor wie aus einem anderen Leben. Seither war so viel auf der Farm und in ihrer Familie passiert. Rosie seufzte. Damals, in jenen ersten Tagen, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie beide füreinander bestimmt waren, aber in letzter Zeit wirkte Jim distanziert und in sich gekehrt. Sie rätselte, was sie noch sagen konnte, um ihm klar zu machen, wie viel er ihr bedeutete. Dass sie ihn nicht nur hier haben wollte, damit die Arbeit auf der Station erledigt wurde. Dass es ihr scheißegal war, was die Leute dachten.

Jetzt ließ er sich neben ihr nieder. Sie legte die Hand auf seinen Schenkel und spürte zu ihrer Erleichterung die Wärme von Jims Hand, die er auf ihre gelegt hatte. Sie wandte sich ihm zu und wollte ihm gerade erklären, wie sehr sie ihn liebte, als Margaret sie vom Haupthaus aus rief.

»Besuch für dich, Rosie!«

Dubbo trat hinter Margaret hervor. Er kam zu den Rinderpferchen herüber, zurechtgemacht und korrekt gekleidet mit einem rotgestreiften Hemd und Hosen aus Englischleder. Seine Stiefel blinkten, und sein dünnes, blondes Haar war frisch gestutzt.

»O Mann!«, sagte er, als er Rosies windschiefen Hut, ihr dreckverschmiertes Gesicht und das getrocknete Blut an Händen und Kleidern in Augenschein genommen hatte. »In Arbeitsklamotten habe ich dich noch nie gesehen!«

Rosie sah achselzuckend an sich herab. Jim hievte geräuschvoll die halbe Regentonne mit den Geräten zum Markieren vom Heck des Pick-ups. Er nahm Dubbo mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.

»Ich geh’ das Zeug abwaschen«, sagte er zu Rosie und verschwand im Quartier.

»Ich wollte mir Sams Welpen ansehen«, sagte Dubbo. »Falls du gerade Zeit hast.«

Sams Welpen, dachte Rosie missmutig. Natürlich. Obwohl sie in ihren Augen längst ihre eigenen waren. Sams Namen zu hören löste befremdliche Schuldgefühle aus. Plötzlich merkte sie, dass sie wochenlang nicht mehr an ihn gedacht hatte, bis Dubbo sie an ihn erinnert hatte. Sie drehte sich auf dem Absatz um.

»Dann komm mit. Ich zeige dir Sams Welpen«, versprach sie ihm, aber Dubbo überhörte den Sarkasmus in ihrer Stimme.

Sie führte ihn durch die Ställe und wies ihn unterwegs auf Sassys Fohlen Morrison hin. Dubbo, der sich nicht für Pferde interessierte, würdigte ihn kaum eines Blickes.

»Sehr nett«, meinte er gelangweilt.

In den Hundezwingern hüpften die Welpen am Drahtgeflecht auf und ab und stemmten ihre kleinen Pfoten dagegen. Rosie befahl allen sich hinzusetzen, bevor sie die Tiere der Reihe nach herausließ.

»Sie haben alle schon die Hundeschule hinter sich und sitzen, liegen und kommen, wenn sie gerufen werden«, erzählte sie ihm. »Jim sagt, als Nächstes werden wir sie an den Tieren ausbilden. Fällt dir einer besonders ins Auge? Willst du eine Hündin oder einen Rüden?«

»Was läuft eigentlich mit ihm?«, fragte Dubbo unvermittelt und sah Rosie prüfend an.

»Mit wem? Jim? Wie meinst du das, was läuft mit ihm?«

Dubbo schüttelte den Kopf.

»Ich sag’ es dir nicht gern, aber du kannst diesen Wanderarbeitern nicht trauen, verstehst du?«

Rosie sah ihn streng an.

»Wie gut kennst du diesen Jim-Boy überhaupt?«, wollte Dubbo wissen.

»Gut genug«, erwiderte Rosie mit zornglühenden Wangen.

»Also, ich habe ein bisschen über ihn nachgeforscht. Seinen Background ausgeleuchtet. Rein vorsichtshalber, verstehst du?«

»Nein. Verstehe ich nicht.«

»Pass auf.« Dubbo trat einen Schritt auf sie zu und legte die Hand auf ihren Arm. »Ich passe nur ein bisschen auf dich auf. Weil ich das Gefühl habe, dass ich das Sam schuldig bin.«

»Ich brauche keinen Aufpasser.«

»Ich mache mir Sorgen um dich, Rose. Deshalb bin ich hier. Ich weiß, dass es dir nicht gefallen wird, aber ich muss dir unbedingt erzählen, was ich über Jim herausgefunden habe.«

»Was?«, fragte Rosie. Ihr wurde übel.

Dubbo senkte die Stimme. »Soweit ich gehört habe, hat unser Freund Jim seinen irischen Charme schon öfter spielen lassen.«

»Wie meinst du das?«

»Sagen wir einfach, der Kerl ist auf Grund aus. Offenbar war er schon zweimal verlobt – und zwar gleichzeitig. Du weißt schon, um seine Chancen zu erhöhen. Beide Mädchen waren die Töchter von großen Rinderbaronen oben im Territory. Eine hatte einen Arsch wie einen Sitzball, die andere war nicht ganz dicht. Offenbar sind beide Hochzeiten geplatzt, als ihm die Väter auf die Schliche kamen.«

»Das ist gelogen.« Rosie wich vor ihm zurück.

»Überleg doch mal, Rosie. Wie schnell hat er sich in dein Leben geschlichen? Kaum hattest du deinen Verlobten verloren, schon war er da. Peng. Genau im richtigen Augenblick, um dir beizustehen. Hör zu, ich habe mit einem seiner früheren Arbeitgeber gesprochen. Der hat alles bestätigt.«

Rosie merkte, wie sie immer unsicherer wurde. Jim zu begegnen war, als wäre ein Traum lebendig geworden. Aber jetzt beschlich sie das gleiche üble Gefühl wie damals, als sie das von Sam und Jillian erfahren hatte. Jim schien immer da zu sein, um sie zu unterstützen, aber war er in Wahrheit vielleicht genau wie Sam? Der Zweifel breitete sich wie ein Virus in Rosies ganzem Körper aus. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Im nächsten Moment spürte sie, wie Dubbo sie in den Armen hielt. Sie hatte ihr Gesicht an seine Brust gepresst, und Tränen brannten in ihren Augen. Genau in diesem Moment kam Jim aus dem Stall und erstarrte. Rosie drückte Dubbo von sich weg.

»Ich sollte jetzt lieber gehen«, sagte Dubbo. »Den Welpen hole ich mir ein andermal, ja?«

Er ging direkt an Jim vorbei, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen, und war im nächsten Moment verschwunden. Jim baute sich schweigend vor Rosie auf. Sie konnte sehen, wie sein Kinnmuskel zuckte.

»Bitte sag mir, dass das nicht stimmt«, sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Was nicht stimmt?«

»Dass du nur auf mein Land aus bist. So wie bei den Mädchen im Territory.«

»Das hat er dir erzählt?«, fragte Jim.

Rosie nickte.

»Und du hast ihm geglaubt?« Er ließ das Zaumzeug fallen, das er in der Hand gehalten hatte.

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll! Vielleicht sind tatsächlich alle Männer Arschlöcher!«

»Das zeigt, was du wirklich von mir hältst.«

Jim kehrte um, lief ins Quartier und knallte die Tür so wütend hinter sich zu, dass die Fensterscheiben klirrten und die Welpen aufgeregt herbeigerannt kamen, um sich um Rosies Stiefel zu scharen. Schluchzend schickte Rosie die Welpen in ihren Zwinger zurück. Dann ging sie in die Hocke und hielt sich an Chester fest, der ihr die Tränen von den Wangen leckte. Sowie sie die Worte ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie nicht wahr sein konnten. Dubbo log. Er war eifersüchtig, und er trauerte immer noch um Sam. Rosie drückte Chester ein letztes Mal fest an sich und stand auf. Sie musste Jim um Verzeihung bitten.

Sie fand ihn im Stall, wo er seine Pferde aus den Boxen führte. Sein Pferdehänger stand mit offener Klappe im Hof. Sein grimmiges Gesicht war knallrot angelaufen.

»Was tust du da?«, fragte Rosie und versuchte dabei, das ängstliche Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Wonach sieht es denn aus?«

Er führte seine Stute und sein Fohlen in den Anhänger und schloss die schwere Klappe mit einem Scheppern. Dann rannte er direkt an Rosie vorbei und verschwand im Arbeiterquartier. Rosie folgte ihm, immer panischer werdend, je mehr Kleider Jim in seinen abgewetzten Reisesack schleuderte.

»Ich habe die Nase voll von deiner Familie und deinen piefigen Freunden, die mich wie Abschaum behandeln«, erklärte er ihr gepresst.

Rosie machte den Mund auf, um ihm zu widersprechen, aber zusehen zu müssen, wie Jim seine Sachen in die Tasche stopfte, verschlug ihr die Sprache.

»Das zwischen uns läuft einfach nicht, Rosie. Uns trennen Welten. « Er zerrte am Reißverschluss.

»Aber du darfst mich nicht verlassen!« Rosie packte ihn am Arm.

Jim sah sie mit schmalen Augen an.

»Wieso? ›Weil du ohne Handlanger nicht klar kommst?‹«

»Das bist du nicht für mich! Hör auf mit dem Scheiß! Du weißt, dass du mir viel, viel mehr bedeutest. Spürst du das nicht?«

»Nach dem, was du vorhin gesagt hast, weiß ich einfach nicht mehr, was ich glauben soll.«

Jim stapfte zu seinem Pick-up, knallte die Tasche auf die Ladefläche und pfiff seinen Hunden. Er öffnete Bones die Beifahrertür und hievte den alten Hund in die Kabine.

»Jim. Nicht. Bitte.« Rosie schluchzte. Jim knallte die Tür zu. Dann kurbelte er das Seitenfenster herunter und sah sie an. In seinen Augen standen Tränen.

»Du weißt, dass ich dich liebe, Rosie.« Seine Stimme drohte zu versagen, aber gleich darauf hatte er sich wieder gefangen. »Aber mit einem anderen bist du besser bedient.«

»Jim, fahr nicht. Lass uns darüber reden.«

Doch er drehte den Zündschlüssel und brauste davon.