Kapitel 22

Bibbernd am Ufer stehend, schlang Rosie die Arme um Oakwoods Hals. Dann öffnete sie schwer keuchend die Schnalle des Sattelgurtes. Der durchnässte Sattel klatschte auf den Boden wie ein riesiger, toter Rochen. Er war zu schwer, um ihn aufzuheben, darum ließ sie ihn einfach liegen und führte Oakwood vom Fluss weg. Sie wateten durch nasses Sumpfland, bis sie auf den Zaun stießen. Rosie war klar, dass sie sich flussaufwärts halten musste, aber sie wusste nicht, wie weit sie gehen musste. Sie musste Jim und die Tiere wiederfinden. Also stellte sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm und schwang sich von dort aus auf Oakwoods Rücken. Sie spürte seine Körperwärme durch ihre nassen Jeans, aber sie hörte trotzdem nicht auf zu bibbern. Die Zeit schien ihr zwischen den Fingern zu zerrinnen, während sie dem Zaun folgte und sich dabei vorsichtig auf dem Rücken ihres Wallachs hielt, der sich einen Weg zwischen den kratzigen Fingern der Büsche hindurch suchte. In regelmäßigen Abständen rief sie nach Jim, aber Wind und Regen verwehten ihre Worte.

Als Rosie endlich auf eine Lichtung gelangte, sah sie vor sich den Cattleyard Swamp liegen. Immer noch standen die Kühe und Kälber als rostrote Flecken auf den stetig kleiner werdenden Inseln, die sich über die tiefer liegenden Flächen erhoben. Jim war nirgendwo zu sehen. Sie schaute sich um und brüllte seinen Namen. Tränen schossen ihr in die Augen. War er ihr gefolgt und dabei ertrunken? Sie suchte mit dem Blick den silbernen Spiegel des Wassers ab, der jetzt die Weiden zu beiden Seiten des Flusses überzog, und versuchte dabei, jeden Baum und jede dunkle Silhouette auf einer der Inseln in Jim zu verwandeln. Aber der Regen fiel immer weiter und spülte ihre Hoffnungen davon. Rosie ließ sich von ihrem Pferd gleiten, sank mitten im Schlamm auf ihre Knie und begann zu schluchzen. Nachdem sie eben am eigenen Leib erfahren hatte, wie wild der Fluss war, war sie ganz sicher, dass Jim nicht mehr zu retten war. Sie musste an den Kelpie-Geist denken… den aus dem Fluss aufsteigenden Geist in Pferdegestalt. Und begann ihn anzuflehen. Sie flehte um ihre Hunde, um die Stute und vor allem um ihren Viehtreiber. Gerade als sie halb laut »Bitte, lass sie nicht sterben« vor sich hin flüsterte, spürte sie etwas Warmes auf ihrem Scheitel. Sie schaute auf und erkannte, dass Diesel an ihr schnupperte und ihre Ohren leckte. Gibbo stand schwanzwedelnd daneben, immer noch mit Blättern und Zweigen unter dem Halsband.

»Ach, meine Hunde! Meine Hunde!« Rosie drückte sie mit aller Kraft ans Herz. Hektisch sah sie sich nach Jim um und rief ihn wieder und wieder, aber nur der in den Wipfeln wütende Wind antwortete ihr. Sie spürte, wie in ihrer Magengegend neue Panik aufflatterte, entschied sich aber, sie zu ignorieren … Sie musste um jeden Preis verhindern, dass die Kühe auf grauenvolle Weise ertranken. Sie musste den Job zu Ende bringen, den sie und Jim angefangen hatten.

Rosie nahm all ihre Kraft zusammen und kletterte erneut auf Oakwoods Rücken. Sie musste tapfer sein. Sie musste ihren Hunden und ihrem Pferd vertrauen. Genau wie Jack Gleeson es getan hätte.