Kapitel 28

Inzwischen war es Spätnachmittag, und Rosie begann, die schlaflose Nacht in Mr Seymours Haus zu spüren. Sie und Jim hatten den Vormittag draußen im Cattleyard Swamp verbracht, wo sie die Kühe und Kälber ausgesondert hatten, die am nächsten Tag markiert werden sollten. Während sie die Rinder auf die Weiden rund um die Homestead heimtrieben, sah Rosie mit zusammengekniffenen Augen zu Jim hinüber.

»Und wir streiten ganz bestimmt nicht mehr?«

»Natürlich nicht«, sagte er und fasste herüber, um an Oakwoods Zügel zu ziehen, bis der Wallach näher an seine Stute heranrückte. Dann küsste er sie. »Ich bin nur müde. Deshalb bin ich nicht besonders gesprächig.«

Wieder zu Hause angekommen, konnte es Rosie kaum erwarten, mit Jim ins Bett zu steigen. Davor mussten sie nur noch die Hunde füttern, das Kraftfutter für Sassy und Morrison mischen und das Impfmittel, die Ohrmarken und die Messer für die morgige Arbeit zurechtlegen. Dann essen und ins Bett schlüpfen. Ihre Gedanken wurden unvermittelt unterbrochen, als ihre Mutter den Essensgong schlug.

»Es überrascht mich, dass sie fit genug zum Kochen ist«, sagte Jim und sah von seiner Schleifmaschine auf. Rosie schmunzelte. Wie Julian ihnen verraten hatte, war Margaret erst heute Morgen auf der Homestead aufgetaucht, lang nachdem Jim und Rosie losgeritten waren, um die Kühe und Kälber auszusondern. Allem Anschein nach war sie aus Duncans Sportwagen gestiegen, hatte ihn zärtlich zum Abschied auf den Mund geküsst und war dann kichernd wie ein Schulmädchen ins Haus gelaufen.

Als Rosie und Jim ins Haupthaus traten, schlug ihnen das delikate Aroma eines indischen Currys entgegen. Wie sich herausstellte, saßen Margaret, Julian und Evan bereits lachend und Bier trinkend am Küchentisch. Sie begrüßten Rosie und Jim mit lautem Jubel und hocherhobenen Bierflaschen.

»So ist es recht«, meinte Rosie, eine Hand in die Hüften gestemmt und ein Lächeln auf dem Gesicht. »Jim und ich buckeln den ganzen Tag, während die feinen Herrschaften feiern!«

Sie nahm die Flasche Bier entgegen, die ihr Julian in die Hand drückte, und riss sich halb verhungert ein Stück Naan-Brot ab.

»Alles zu Tisch!«, befahl Margaret. »Das Essen ist serviert!«

In dem dunklen, holzgetäfelten Esszimmer wurden verführerisch duftende Gerichte am Tisch herumgereicht, während alle gleichzeitig durcheinander redeten. Jim hielt unter dem Tisch Rosies Hand. Beschienen vom Glanz des silbernen Kandelabers lehnte sich Rosie zurück und betrachtete ihre Familie. Ihre Mutter sah verändert aus. Irgendwie jünger. Zum einen sahen ihre Kleider nicht so aus, als wären sie ihr an den Leib gebügelt worden. Auch ihr sonst mit Spray festlackiertes Haar fiel heute in weichen, natürlichen Wellen. Und sie benahm sich anders als sonst. Wann hatte Margaret eigentlich aufgehört, ihr wegen ihres Aussehens Vorwürfe zu machen?, rätselte Rosie. Sie beschwerte sich nicht mehr über Rosies zerrissene Arbeitshemden, ihre durchgewetzten Jeans und ihr langes, ungebändigtes Haar. Rosie konnte nicht genau sagen in welcher Hinsicht, aber ihre Mutter hatte sich verändert… oder zumindest war etwas in ihr in Bewegung geraten. Rosie verkniff sich ein Schmunzeln. Gestern Abend war definitiv etwas in ihr in Bewegung geraten, dachte sie boshaft. Etwas von Duncan Pellmet. Rosie prustete lachend los.

Alle drehten sich zu ihr um und sahen sie an. Die Hand vor den Mund gepresst und die Augen gegen die Tränen zugekniffen, schüttete sie sich fast aus vor Lachen.

»Was?«, fragten die anderen wie aus einem Mund. Was sie noch mehr zum Lachen brachte. Kaum zu glauben, dachte sie, dass sie hier an dem aus England importierten Esstisch ihres Ururgroßvaters saß und heimlich mit dem Viehtreiber Händchen hielt und füßelte. Damit nicht genug, der Viehtreiber saß auch noch am Kopf der Tafel, wo über Generationen hinweg nur Männer vom Stamm der Highgrove-Joneses gethront hatten. Währenddessen unterhielt sich auf der anderen Tischseite ihr schwuler Bruder mit seinem Lebensgefährten. Außerdem saß am Tisch noch Mrs Highgrove-Jones, die die letzte Nacht mit ihrem jungen Gespielen – immerhin war Duncan bestimmt gute sieben Jahre jünger als Margaret – verbracht hatte. Der Highgrove-Jones’sche Ahnherr, der den Tisch nach Australien gebracht hatte, rotierte bestimmt in seinem Grab. Wahrscheinlich wirbelte er um die eigene Achse wie ein amerikanischer Rapper. Aber andererseits war, wie Rosie wieder einmal bewusst wurde, Mr lang dahingeschiedener Highgrove-Jones sowieso nicht mehr ihr Ururgroßvater! Ihr echter Ururgroßvater war möglicherweise ein fahrender Landarbeiter gewesen, der hier einmal angeklopft und um ein warmes Essen gebettelt hatte.

»Was ist denn so komisch?«, fragte Julian.

Sie wischte die Lachtränen weg und brachte dann mühsam heraus: »Das hier!«, wobei sie mit einer Handbewegung den ganzen Raum umfasste. »Wir!«

»Wie meinst du das?«, fragte Margaret.

»Na, da ist zum einen Julian… ein warmer Bruder. Nimm’s nicht persönlich, Evan. Und du, Mum … poppst den Herausgeber des Chronicle, nachdem dein Mann mit deiner Schwester durchgebrannt ist. Was für ein Irrsinn! Und dann bin da noch ich … ein Bastard, sozusagen. Mit einem so grauenvollen Vater, dass mir Mum nicht verraten will, wer er war. Und jetzt habe ich mich mit dem Vormann eingelassen.« Sie hob die Hand, in der sie Jims hielt, über die Tischkante. »Könnt ihr euch vorstellen, was Prudence Beaton dazu sagen würde? Oder die Chillcott-Clarks?«

Alle im Raum verstummten, alle Blicke kamen auf ihr zu liegen. Das Lächeln auf Rosies Gesicht erlosch, als sie sich umsah. Jim starrte sie mit Pokermiene an, ihre Mutter hatte die Lippen zusammengekniffen, und Evan legte fürsorglich die Hand auf Julians Schulter. Dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, begannen auch Margaret, Evan und Julian loszuprusten, und bald lachten sie alle laut genug, um die Geister der Dienstboten aus dem Speicher zu verjagen. Aber noch während ihre Familie fröhlich lachte, merkte Rosie, wie sich in ihrer Magengrube ein unsicheres Gefühl breit machte. Jim hatte still und heimlich seine Hand aus ihrem Griff gezogen.

Bis Rosie die Küche sauber gemacht hatte und ins Quartier zurückkehrte, lag Jim schon in tiefem Schlaf. Statt sich an seinen warmen Leib zu schmiegen, kehrte ihm Rosie den Rücken zu. Was machte ihm so zu schaffen? Und wie konnte sie schlafen, wenn sie für ihr Leben gern herausfinden wollte, wer ihre wahren Verwandten waren? Seufzend fasste sie nach der Zeitung des Working Kelpie Council neben dem Bett und begann zu lesen.