Kapitel 9
Das Rascheln und Schnauben der Pferde, die unruhig in ihren Boxen standen, weckte Rosie schon bei Tagesanbruch. Sie streckte sich und stand auf, sofort aufbruchbereit und mit ihren Gedanken nur bei den Tieren, ohne Zeit mit Waschen oder Umziehen zu vergeuden. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Mutter oder der Wahrheit ins Auge sehen. Von Julian war nichts zu sehen. Er hatte offenbar verschlafen, schloss Rosie.
In seiner Box blieb Oakwood starr und steif stehen wie ein königliches Gardepferd, während sie sich hochreckte und ihm mühsam das Zaumzeug über die Ohren zog. Geduldig wartete er ab, bis sie den Sattel auf seinen Rücken gehievt hatte. So weit, so gut, dachte Rosie und zog den Gurt um ein weiteres Loch an. Aber sobald er draußen im Freien war, wirkte er wie verwandelt. Er tänzelte und warf jedes Mal, wenn Rosie am Gebiss ruckte, den Kopf zurück.
»Bleib stehen!«, rief sie frustriert, aber Oakwood drehte sich weiter im Kreis. Vor Anstrengung stand ein leichter Schweißfilm auf ihrer Stirn. Sie blieb kurz stehen, atmete langsam und tief durch und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Dann fasste sie die Zügel fester.
»Steh!«, befahl sie energisch. Diesmal kam Oakwood zur Ruhe. Sie kletterte in den Sattel und merkte zu ihrer Erleichterung, dass sich Oakwood unter ihr entspannte. Sein schlanker Hals schien sich endlos vor ihr zu erstrecken, und seine Ohren zuckten vor und zurück, während er sich im Hof umsah. Sie fühlte sich wie in schwindelnder Höhe. Sassy, die inzwischen in einem Pferch hinter dem Stall weidete, trottete ängstlich wiehernd am Zaun auf und ab. Rosie spürte, wie Oakwood unter ihr erbebte, als er ihr aus vollem Hals antwortete.
»Ach, krieg dich wieder ein!«, sagte sie. »So schlimm ist es nicht!«
Ehe sie Oakwood gesattelt hatte, hatte sie die Hunde aus dem Stall gelassen, die jetzt überall im Hof herumschnüffelten. Der größte, der schwarz-braune Diesel, hob in aller Seelenruhe das Bein an Margarets Topfpflanzen, und die rauchfarbene Hündin Dixie setzte gerade mitten im Hof einen Haufen.
Rosie schaute ihnen zu und spürte so etwas wie Schadenfreude. Der Groll gegen ihre Mutter wallte von neuem auf. Die ganzen Jahre hatte sie sich von Margaret herumschubsen und herumkommandieren lassen müssen, dieser scheinbar perfekten Dame — dabei war alles nur Fassade. Ihre Mutter hatte sie belogen! Tja, von jetzt an würde sie ihre Träume ausleben, sollte ihre Mutter doch denken, was sie wollte. Rosie nutzte ihre Gefühle dazu, ihre Nerven zu stählen, bevor sie Oakwood lostraben ließ, durch den Torbogen hindurch, am Scherstall vorbei und dann an den Pferchen entlang.
Sie war erst eine halbe Stunde geritten, als die Hunde die Schafe witterten. Rosie sah sie im Wind schnuppern und dann leicht geduckt voranlaufen, elastisch trabend. In der Ferne konnte sie die Schafe erkennen, die im Morgenlicht am Weiher tranken. Die Hunde gingen tiefer und stellten die Ohren auf. Vorsichtig schlichen sie näher.
»Nein«, sagte Rosie. »Kommt, Hunde!«
Aber sie reagierten nicht. Gibbo, der jüngste Hund, zitterte vor Aufregung. Als sie näher kamen, hob eines der trinkenden Schafe den Kopf und machte einen Satz zurück, wodurch es den Rest der Herde aufschreckte. Die Schafe begannen, unruhig vor den Hunden zurückzuweichen. Gibbo schoss los wie ein Windhund und hetzte in vollem Lauf auf die Schafe zu. Diesel umkreiste die Herde in einem weiten Bogen, während Dixie, die mit den Welpen in ihrem Bauch nicht so schnell laufen konnte, auf die andere Seite der Herde trottete.
»Nein! Hunde! Kommt her! Diesel! Gibbo! Gibbo! Dixie! Kommt her! Verdammte Scheiße!«
Die Hunde reagierten nicht. In jugendlichem Überschwang trennte Gibbo ein paar Schafe von der Herde ab und jagte sie herum, wobei er nach ihren Gesichtern schnappte. Währenddessen gaben Diesel und Dixie ihr Bestes, die Herde zusammenzutreiben. Sie umkreisten die Schafe und lenkten sie auf Rosie zu, wobei sie dem Weiher immer näher kamen.
»Hört auf!«, schrie Rosie.
Aber die Hunde wollten nicht aufhören. Bald lagen die ersten Schafe im Wasser und strampelten mit den Beinen in der Luft wie auf dem Rücken liegende Käfer. Instinktiv setzte Rosie Oakwood mit einem energischen Stoß in die Flanke in Marsch, aber er war kein Kinderpony, weshalb ihn der Druck ihrer Stiefel direkt angaloppieren ließ. So hielten sie auf den Weiher zu, Rosie saß gefährlich schief im Sattel, während sie gleichzeitig auf die Hunde einschrie.
»Folgt mir!«, kreischte sie. Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. Ihr Herz begann zu rasen, als Oakwood auf das erhöhte Weiherufer zu und darüber hinweg galoppierte. Als unübertroffenes Treiberpferd, das er war, kam er nur Zentimeter vor dem Wasser zum Stehen. Rosie spürte, wie die Luft an ihr vorbeirauschte, als sie über seinen Hals flog. Die Zügel fest in der Hand, schien sie wie in Zeitlupe tiefer und tiefer zu fallen. Dann spritzte um sie herum kaltes Wasser auf, und ihr Hinterteil prallte mit einem schmerzhaften Schlag, der ihr die Luft aus den Lungen trieb, auf dem schlammigen Grund des Weihers auf. Weil die Hunde immer noch alles daransetzten, die Herde zu ihr zu bringen, sah sie sich bald von aufgeregt mähenden Schafen umringt. Nach Luft schnappend ließ sie die Zügel los und griff stattdessen nach einem auf dem schlammigen Wasser treibenden Stock, den sie wütend in Richtung der Hunde schwenkte.
»Sitz! Sitz! Sitz!« Die Hunde hörten ihren Zorn und setzten sich tatsächlich. Die Schafe am Rand des Weihers kamen langsam zur Ruhe. Rosie stand schwer keuchend da, und ihre Brüste hoben und senkten sich unter ihrem klatschnassen Teddybären-T-Shirt. Die Trainingshose hing, schlammbraun und mit Schafsdung verschmiert, schwer unter ihrem Hintern. Oakwood war bis zu den Knien ins Wasser gewatet und stampfte jetzt mit den Hufen auf die Wasseroberfläche. Vor Anstrengung grunzend drehte Rosie ein paar durchnässte Schafe auf die Beine, damit sie wieder auf trockenen Boden trotten konnten. Als Gibbo die Bewegungen der wasserschweren Schafe sah, raste er erneut in die Herde hinein, aber diesmal rannte Rosie, den Stock drohend erhoben, ihm entgegen.
»Sitz, du verflixter Taugenichts! Sitz!«
Gibbo wich ein paar Schritte zurück, sah nervös zu ihr auf und senkte widerstrebend den Hintern auf den Boden, allerdings ohne seinen gebannten Blick von den Schafen zu wenden.
Bis Rosie Oakwood aus dem Wasser geholt und die Hunde von den Schafen weggelockt hatte, war sie völlig erschöpft. Ein scharfer Schmerz pulsierte in ihrer rechten Hinterbacke, mit der sie wahrscheinlich auf einem spitzen Stein gelandet war. Sie setzte sich ans Wasser und betrachtete ihre schlammverklebten Hände. Dann erkannte sie entsetzt, dass Sams Verlobungsring verschwunden war. Hastig watete sie ins Wasser zurück, wo sie im Schlick und Schlamm herumtastete und auf das Strahlen von Gold und Saphiren hoffte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»O nein! O Sam!«
Schließlich gab Rosie die Suche nach dem Ring auf und richtete sich mitten im Wasser auf. Die Arme weit ausgebreitet, ließ sie ein langes, frustriertes Heulen zum Himmel aufsteigen, bei dem die Hunde die Ohren anlegten und unsicher den Blick abwandten. Dann ließ sie sich rückwärts ins Wasser fallen, als sollte sie getauft werden.
Rosie sank in das faulig stinkende Wasser im Weiher und wünschte sich, sie würde ertrinken. Sie hielt den Atem an, schloss die Augen und lauschte dem Pochen ihres Herzens. Erst als ihre Lungen zu platzen drohten, tauchte sie wieder auf und sah die drei Hunde ängstlich am Ufer sitzen und nach ihr Ausschau halten. Sie heulten und bellten, als wollten sie Rosie anbetteln, aus dem Wasser zu kommen.
»Okay, okay«, rief sie. Ich hab’ schon kapiert.«
Sie watete ans Ufer, ging in die Hocke und schloss alle drei Hunde fest in die Arme.