Lake Cowal West, um 1880

Der Arzt zog Jacks unteres Lid herab und begutachtete das Weiß in seinem Augapfel. Ein gelblicher Stich hatte sich im Augenwinkel festgesetzt und ließ die sonst so strahlend blauen Pupillen matt wirken. Der Arzt trat vom Bett zurück, faltete die Hände vor dem Bauch und sah Jack ernst an.

»Leiden Sie an Übelkeit?«

»Ja«, antwortete Jack.

»Erbrechen?«

Jack nickte.

»Ich verstehe.« Der Arzt sammelte seine Instrumente zusammen. »Ich empfehle Bettruhe. In diesem Stadium kann ich nicht viel unternehmen. Wir können nur abwarten, wie die Erholung voranschreitet. «

Er drehte sich auf dem Absatz um, zog den Vorhang hinter sich zu und ließ Jack allein zurück.

Eine Million Fragen rasten durch Jacks Kopf, und die Angst packte ihn. Er entsann sich, wie der alte Albert sterbend im Bett gelegen hatte und wie sich seine gelben Altmännerfinger in die schmuddeligen Laken gebohrt hatten. Jack hielt seine Hände hoch und betrachtete seine Haut, die ebenfalls leicht gelblich wurde. Das Bauchweh meldete sich mit neuen Krämpfen zurück, woraufhin er die Augen schloss und an etwas anderes zu denken versuchte.

Hinter dem Vorhang hörte er den Arzt und Mary mit gedämpfter Stimme reden und strengte sich an, um möglichst viel zu verstehen. Aber er bekam kein einziges Wort mit. Wut kochte in ihm auf. Was sprachen die beiden da? Warum unterhielten sie sich hinter seinem Rücken?

In der Küche lauschte Mary mit bleichem, abgespanntem Gesicht dem Arzt. Instinktiv kam ihre Hand auf ihrem ungeborenen Kind zu ruhen. Sie musste die Tränen zurückhalten, während die Flüsterstimme des Arztes sie umspülte.

»Gelbsucht«, sagte er. »So lautet meine Diagnose.«

»Und was bedeutet das?«

»Es ist eine Infektionskrankheit der Leber… deshalb wirken seine Haut und seine Augen so gelb.«

»Und wo hat er sich angesteckt?«

Der Arzt zuckte mit den Achseln.

»Das kann auf unterschiedlichste Weise geschehen sein«, belehrte er sie. »Die Keime werden durch Nahrung und Wasser verbreitet. Ich würde meinen, dass es möglicherweise hier auf der Station zu einem Ausbruch der Krankheit kam… vielleicht litt eines der Kinder daran, aber Kinder zeigen meist kaum Symptome. Vielleicht haben die Eltern geglaubt, das Kind hätte eine gewöhnliche Grippe.«

Mary dachte an die vergangenen Wochen zurück. Sie unterrichtete hier in der Küche die Kinder von der Lake Cowal Station. Etwa vor einem Monat war die Zahl der unterrichteten Kinder bis auf zwei zusammengeschrumpft, weil alle anderen von der Grippe niedergestreckt im Haupthaus gelegen hatten.

»Und was ist mit unserem Kind? Wird es Schaden nehmen?«

»Nein, Mary. Das ist unwahrscheinlich.«

Sie blickte dem Arzt in das ernste Gesicht, ein Gesicht, das sie an eine Eule gemahnte. Er blinzelte sie durch seine runden Nasenkneifergläser an.

»Und Jack? Wann wird er wieder auf die Beine kommen?«

Der Doktor verstummte und starrte auf seine Schuhspitzen, als läge die Antwort vor seinen Zehen.

»Das lässt sich leider nicht sagen. Erwachsene trifft diese Krankheit… schwerer. Möglicherweise wird er sich gar nicht erholen.«

Marys Hand flog an ihren Mund, und ihre Tränen begannen zu fließen. In panischer Angst zermarterte sie sich das Gehirn.

»Sie meinen… er könnte sterben?«, flüsterte sie.

»Nun ja… das wird die Zeit zeigen… möglicherweise… ja. Ich würde Ihnen anraten, Vorkehrungen für Sie und für Ihren Sohn zu treffen. Es tut mir Leid.«

Als Mary den Vorhang zurückzog und sich an Jacks Bett setzte, verriet ihm ihre Miene alles, was er wissen musste. Sie legte sich neben ihn und streichelte mit kühlen Fingerspitzen sein kräftiges, gut geschnittenes Gesicht. Liebevoll strich sie die blonden Strähnen beiseite, die jetzt in nassen Kringeln auf seiner Stirn lagen. Sie küsste ihn mit all ihrer Liebe. Jack legte seine Hand auf ihren Bauch und ließ sie auf jenem Fleck ruhen, wo in ihrem Leib sein Kind schlummerte.


Jack schämte sich seiner Krankheit zu sehr, als dass er sich von seinen Verwandten auf Wallandool verabschiedet hätte. Stattdessen ließ er Mary in ihrem Elternhaus zurück und reiste allein weiter zum Hotel der Cobb Et Co Postkutschenstation in West Wyalong. Mary hatte sich einen Nachmittag erbeten, um sich von ihrer Mutter und ihrem Vater zu verabschieden, ehe sie gemeinsam nach Süden zu Jacks Familie in Koroit reisten. Aber Jack erschien jedes Adieu überflüssig – vor allem bei Launcelot Ryan. Ryans bittere Worte bei ihrer letzten Begegnung schnitten Jack noch tiefer ins Herz, seit er wusste, wie Recht er damit gehabt hatte. Mary würde hierher zurückkehren, um bei ihrer Familie zu leben… und ganz gewiss ohne ihn.

Jack saß zusammengesunken auf einer Bank vor dem Hotel in einem Fleck der milden Abendsonne und wartete darauf, dass Mary und die Cobb Et Co Postkutsche eintrafen. Einige der Einheimischen, die auf der Straße unterwegs waren, hatten sichtbar Angst, mit ihm zu sprechen. Dieser große, schneidige Irenbursche, dieser legendäre Viehtreiber war nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Haut war gelb, sein Gesicht abgezehrt, die Muskeln an seinen Armen schrumpften dahin, und sein Rückgrat schien sich immer mehr zu krümmen, so als könnte es der Erdanziehungskraft nichts mehr entgegensetzen. Das Eigentümlichste jedoch war, dass kein Kelpie an seinem Bein lehnte oder mit gekreuzten Vorderpfoten zu seinen Füßen lagerte. Jack Gleeson war ohne Pferd und ohne Hund. Ein lebender Toter.


An einem trostlosen Morgen im August 1880 sausten kalte Winde über die Weiden auf Crossley im südlichen Victoria. Als würde es der im Hüttendach kreischende Wind quälen, schreckte das Kleinkind aus dem Schlaf und begann, in seinem Weidenkörbchen am Feuer zu weinen. Die Stirn von Sorgen zerfurcht, bückte sich Mary, um es aufzuheben. Sie hob den warmen kleinen Jungen an ihre Brust und atmete den süßen Duft seiner weichen Haut ein. Dann küsste sie ihn auf das kleine Köpfchen.

»Mach dir keine Sorgen, kleiner Mann. Der Frühling ist nicht mehr weit. Lange bleibt es nicht mehr so kalt. Den tiefsten Winter haben wir schon überstanden. Dieser Wind und der Winter sollen uns nur zeigen, dass Mutter Natur stärker ist als wir.«

Sie bückte sich, um das Feuer anzufachen, und sank dann in den Schaukelstuhl zurück. Das Baby fest an ihren Busen gedrückt, schaukelte sie vor und zurück, vor und zurück, während der Wind das Dach von der Hütte zu zerren versuchte.

Sie wartete darauf, dass Jacks Tante Margaret und seine Cousins eintrafen. Schließlich hatte sie ihnen eine Nachricht zukommen lassen, und nun waren sie gewiss schon unterwegs auf dem vier Meilen langen Weg zwischen ihrem Haus in Koroit und dieser Hütte in Crossley. Die Lippen an den Kopf ihres Sohnes gepresst, summte sie ihm eine Melodie vor. Tränen rannen ihr aus den Augen und landeten auf den samtigen Kleinkinderwangen.

»O lieber Gott«, weinte sie im Einklang mit dem Wind.

Im Schlafzimmer hinter ihr lag der Leichnam ihres Ehemannes, mit dem sie zwei kurze Jahre verheiratet gewesen war. Sie hatte schwere Pennys auf seine Augenlider gelegt und ihn von Kopf bis Fuß mit warmer Seifenlauge abgewaschen. Sie hatte ihn geküsst und ihm in die tauben Ohren geflüstert, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte seine Hände hochgehoben und jeden einzelnen Finger geküsst. So oft hatte sie diese Hände gesehen, wenn sie sich liebevoll in die weiche Haut eines Arbeitshundes gedrückt hatten. Ihn kraftvoll, gebieterisch und liebend getätschelt hatten. Auch sie hatte sich der Macht von Jack Gleesons Berührung nicht entziehen können. Jetzt lagen diese Hände still, kalt und eingekrallt da. Mary drückte sie an ihre Wangen, aber die Berührung hatte die Magie verloren.

Jack Gleesons Seele war von dem kalten Wind über Crossley weggeweht worden. Der Wind blies in Richtung Norden und trug Jacks Seele in das weite offene Land zurück, wo all seine Hunde lebten. Dorthin, wo er hingehörte. Seine Seele, die für alle Zeiten in den braunen Augen tausender spitzohriger Hunde eingebettet lag. Mary küsste ihren Gemahl ein letztes Mal und wartete darauf, dass seine Familie kam, um seinen Leichnam zu holen.


An eben jenem Tag im August marschierte Charles King zu den Zwingern hinab, um seinen Hunden Auslauf zu geben. Während die übrigen Hunde voller Freude im morgendlichen Sonnenschein wirklich tanzten, blieb, wie er bemerkte, Moss am Ende seiner Kette auf der Seite liegen. Der schwarze Rüde rührte sich nicht. Charles ging in die Knie und legte seine Hand auf die Flanke des alten Hundes. Kalt und steif lag Moss da. In diesem Augenblick wusste Charles King es. Er wusste, dass sein Freund Jack von ihnen gegangen war. Unvermittelt musste er weinen. Er löste die Hundekette, trug Moss hinüber zu einem liegenden Baumstamm, setzte sich und streichelte lange den leblosen Leib.

Charles King starrte unter Tränen auf den roten Boden unter seinen Stiefeln, denn ihm war klar, dass Moss sich aufgemacht hatte, seinen Herrn zu finden. Gemeinsam mit Jack und Kelpie beschritt er nun eine Straße, die nicht von dieser Welt war. Alle waren jetzt wieder vereint, Jack, Kelpie, Bailey und Moss, auf dieser luftigen Straße, auf der es weder Vergangenheit, noch Gegenwart oder Zukunft gab. Behutsam legte Charles den toten Hund auf die kalte Wintererde und richtete sich auf, um eine Schaufel zu holen.



Als Rosie aufwachte, war es Morgen und der Jahrestag von Sams Tod. Sie fuhr mit den Händen über ihre nassen Wangen und erkannte urplötzlich, dass sie im Schlaf geweint hatte. Fast ängstlich streckte sie die Arme unter der Decke hervor, bis ihre Fingerspitzen auf dem Pamphlet zu liegen kamen, das ihr der Hobbyhistoriker geschickt hatte. Noch einmal betrachtete sie das schwarz-weiße Foto von Jack Gleesons Grabstein auf dem Friedhof von Tower Hill. Sie konnte die Inschrift nicht entziffern, aber der Autor des Buches hatte in Druckschrift darunter erklärt: »Errichtet von Mary im Angedenken an ihren geliebten Gemahl John Dennis Gleeson, der am 29. August 1880 im Alter von 38 Jahren aus diesem Leben schied.«

Ein Schauer überlief sie. Jack war so jung gestorben. Eigentlich hätte er als glücklicher alter Mann sterben sollen, umgeben von all seinen Kindern. Und seine Hunde abrichten sollen, bis er nicht mehr laufen konnte. Rosies Gedanken wanderten weiter. Arme Mary. Ihren noch so jungen Mann zu verlieren und vor sich zu sehen, wie sie ihren Sohn ohne Vater großziehen sollte. Rosie merkte, wie die alte Panik in ihr hochstieg, weil Jack Gleesons Tod Emotionen wachrief, die sie so angestrengt zu kontrollieren versucht hatte: ihre Gefühle bezüglich Sams Tod; Jims Verschwinden; der gescheiterten Ehe ihrer Eltern. Auch für sich sah sie niemanden, der die Zukunft mit ihr teilte. Wozu also das Ganze? Tränen stiegen ihr in die Augen. Zornig schwang sie die Beine aus dem Bett und trat dabei versehentlich auf Bones’ Schwanz.

»Aus dem Weg!«, fuhr sie ihn wütend an. Aber er regte sich nicht. In dem hellen Strahl der Morgensonne sah sie in seine starren, leblosen Augen.

»O Gott«, hauchte Rosie. »Lazy Bones?«

Sie bückte sich und streichelte seine Flanke. Er fühlte sich steif unter ihren Fingern an. Sie merkte gar nicht, dass sie einen erstickten Schrei ausstieß.

»O nein. Bitte nicht!« Sie kniete neben dem alten Hund nieder und flüsterte immer und immer wieder seinen Namen. Dann begann sie, das Schlimmste zu fürchten. Sie blickte zu den Kieferpaneelen an der Decke auf und schloss die Augen.

»Jim?«, rief sie. »Jim?«

Aber tief im Herzen wusste Rosie Jones, dass Jim Mahony nicht mehr in ihre Welt gehörte.

Rosie bückte sich und rollte den schon steifen Leichnam des alten Lazy Bones in die Matte, auf der er gestorben war. Als sie ihn anhob, lösten sich faulige Gase aus seinen Gedärmen. Der vertraute Gestank ließ sie den Kopf abwenden.

»So ist es recht, Bones«, sagte sie. »Hinterlass mir was ganz Besonderes, damit ich dich in Erinnerung behalte.«

Sie trug ihn zu der Schubkarre im Stall und legte ihn hinein.

»Bitte sehr, Lazy Bones – der perfekte Fleck für dich. Du kannst einfach liegen bleiben, und ich schiebe dich. Du brauchst in Zukunft wirklich keine Energien mehr zu vergeuden.«

Sie wischte die Tränen aus ihren Augen, legte eine Schaufel neben ihn und rollte ihn durch die Seitentür in den Obstgarten hinaus.

Unter einem Zitronenbaum begann Rosie zu graben. Sie spürte, wie sich die Muskeln in ihren Armen anspannten, und roch die Fruchtbarkeit des feuchten Erdreiches, in dem es von winzigen Lebewesen wimmelte. Das Gesicht angewidert verzogen, durchschnitt sie die Leiber fetter Regenwürmer, die sich auch zweigeteilt weiter zu entwinden versuchten. Hier im Obstgarten war alles voller Leben – von den in den Bäumen lärmenden Vögeln bis zu der Spinne, die auf dem Rücken eines sattgrünen Blattes ihr Netz spann. Rosie fühlte sich so jung und lebendig. Und doch lag neben ihr ein unübersehbares Mahnmal des Todes. Bones’ glasige Augen starrten zu den Wolken auf, die lautlos über den blauen Himmel zogen. Seine rosa Zunge war jetzt blass und trocken. Seine schwarzen Lippen wirkten wie aus Plastik, und seine Nase glänzte nicht mehr unter seinem feuchten Atem. Sie streichelte seinen struppigen Rücken, ehe sie ihn mitsamt seiner Matte ins Grab senkte. Anschließend begann sie, Erde auf ihn zu schaufeln, und schaute zu, wie ihn allmählich das dunkle Erdreich bedeckte. So würde er monatelang in seinem Todesschlaf hier liegen und langsam verwesen, bis sein Leichnam durch die Bäuche der Würmer und winzigen Wesen, die sich von ihm ernährten, wieder mit dem Leben verbunden war. Und zuletzt bliebe von Bones, wie sein Name es sagte, nichts als… Knochen.

Rosie schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, dass sie ein Gebet sagen sollte, aber wozu waren Gebete gut? Sie kniete auf dem Gras nieder und klopfte die Erde zu einem gleichmäßigen Hügel. Hier befand sich ein Grab unter der Erde. Ein Grab, das, so fühlte es sich an, ihre Vergangenheit enthielt. Sie atmete tief aus und glaubte, weinen zu müssen… aber es kamen keine Tränen. Ihre Tränen lagen unter ihr in der Erde. Sie hatte sie zusammen mit Bones beerdigt. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie erst jetzt Sam und die Erinnerung an ihn zu Grabe getragen. Genau wie ihre Hoffnungen auf eine Zukunft mit Jim. Er war weg, genau wie seine Hunde. Und zusammen mit Jim begrub sie die Tragödie von Jack Gleesons unglücklicher Witwe und seinem vaterlosen Kind. Zu guter Letzt begrub sie damit auch Rosemary Highgrove-Jones und die Vergangenheit, die sie so lange eingezwängt hatte. So ein kleines Grab, dachte sie, und so viel liegt darin.

Rosie stand auf und begann, die feuchte Erde festzutreten. Fast als wollte sie den Boden festtrampeln, damit sich nichts von all dem wieder in ihr Leben schleichen konnte. Sie begann, auf und ab zu springen, hoch in die Luft zu hüpfen und mit einem dumpfen Schlag auf der frisch gewendeten Erde zu landen. Zu stampfen. Zu treten. Das Alte zu begraben. Den Tod zu zertrampeln. Sie biss die Zähne zusammen und lachte hysterisch. Was war die Alternative zum Leben? Es war der Tod, Rosie wusste das nur zu gut. Und so hüpfte sie wie eine Besessene in ihrem Obstgarten herum. Sie lebte, sie hüpfte, sie atmete, sie lebte ganz in diesem Augenblick. Weil sie das kostbare Leben, das sie hatte, bewahren wollte.