Kapitel 24

Am nächsten Tag war der Regen zu einem Nieseln geworden, aber noch schafften es die Sonnenstrahlen nicht, die düsteren, schweren Wolken zu durchdringen. Jim und Rosie zogen ihre inzwischen getrockneten Sachen an, dann kniete Jim nieder und umwickelte Rosies Beine mit Fetzen von Sackleinen, die er mit einer orangenen Packschnur an ihre Waden band.

»Nicht gerade der letzte Schrei, aber besser, als barfuß zu gehen. «

»Es würde mich interessieren, wo meine Stiefel und mein Mantel gelandet sind. Wahrscheinlich hängen sie zwei Meter hoch in einem Baum.«

»Oder sie liegen zwei Meter unter dem Schlick im Flussbett!«

Jim redete beharrlich auf Rosie ein, seinen Sattel zu nehmen, aber sie konnte ihn überzeugen, dass sie gern ohne Sattel auf Oakwood ritt. Es gefiel ihr, wenn sie das Pferd direkt unter ihren Schenkeln spürte. Oakwoods Körperwärme und sein Muskelspiel schienen ihren steifen, schmerzenden Körper zu entspannen.

Während sie über den Hügelkamm ritten, erzählte ihr Jim, wie er am Vortag stundenlang am Flussufer nach ihr gesucht hatte, bis es zu dunkel war, um noch etwas zu erkennen. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er noch einmal die grauenvollen Sekunden durchlebte, in denen Rosie vom Fluss verschlungen wurde.

»Ich dachte, du wärst ertrunken«, sagte er so leise, dass Rosie ihn kaum verstehen konnte. »Aber dann schienen meine Hunde Witterung aufzunehmen, und in dem Augenblick wusste ich es. Ich wusste, dass du oben in der Hütte warst.«

»Dem Himmel sei Dank für die Hunde und Pferde. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich immer noch da draußen oder schon ertrunken.«

Sie schauderte, als in ihrem Geist das Bild der wirbelnden Fluten aufblitzte. Jim zügelte sein Pferd und sah sie an.

»Ich kann immer noch kaum glauben, dass du wirklich lebst. Aber jetzt ist alles okay«, sagte er. »Wir sind beide hier. Und zusammen. «

»Mir geht es genauso«, bestätigte Rosie. »Ich dachte auch, dass du ertrunken wärst. Und dabei wurde mir klar… also, mir wurde klar, dass das Leben einfach zu kurz ist.«

Jim beugte sich zu ihr herüber, machte die Augen zu und küsste sie.


Oben auf der Hügelkuppe hielten sie die Pferde an und prüften, wie hoch unten im Tal das Wasser stand. Die Wiesen in der Talniederung, auf denen tags zuvor die Rinder geweidet hatten, standen jetzt komplett unter Wasser. In den Fluten spiegelte sich der graue Himmel. In der Ferne konnten sie den angeschwollenen Fluss erkennen. Er war den stämmigen Eukalyptusbäumen entkommen, die ihn sonst wie stumme Wachposten flankierten, und lief jetzt Amok.

»Wir haben nicht die leiseste Chance, da rüberzukommen.« Jims Blick wanderte über die unheimlichen Fluten. »Im Grunde können wir geradeso gut zur Hütte zurückreiten. Wir haben für ein paar Tage zu essen. Wir werden die Sache einfach aussitzen müssen.«

»Komisch, aber ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass es so schlimm aussieht. Ich will nicht zurück, Jim. Am liebsten würde ich für immer hier draußen bleiben.«

»Vielleicht müssen wir das auch. Es sieht nicht so aus, als hätte deine Mum irgendwas unternommen. Glaubst du, ihr ist was zugestoßen? «

Rose zuckte mit den Achseln, sie wollte nicht an ihre Familie denken.

»Hoffentlich nicht«, sagte sie. Dann fiel ihr Dixie ein, die mit ihren Welpen im Stall eingeschlossen war, und Jims alter Hund, der inzwischen ein weiches Spezialfutter brauchte, weil sein Gebiss nur noch aus abgewetzten Stummeln bestand. Sie stellte sich vor, wie die arme Dixie von ihren Welpen leer gesogen und dabei dünner und dünner wurde, und wie der alte Bones erfolglos versuchte, die alten Schafsknochen durchzubeißen, die überall im Hof herumlagen. Wenigstens hatten Sassy und Morrison auf der Pferdekoppel genug zu essen und auch einen Unterstand.

»Wenn du dir wegen der Hunde den Kopf zerbrichst – das brauchst du nicht. Die kommen schon zurecht«, sagte Jim, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Hunde sind zäher, als du denkst. Und erfindungsreich. Ihnen wird schon was einfallen.«

Jim band Oakwood und seine Stute auf einer Lichtung nahe der Hütte an, wo sie die wild wachsenden Gräser fressen konnten. Rosie ging los, um den Kochkessel anzuwerfen. Sie füllte den rußgeschwärzten Kessel aus einer alten, riesigen Tonne, die so aufgestellt war, dass sie das vom Dach ablaufende Wasser auffing. Dann ging sie neben der Feuerstelle in die Hocke und schaute hoch in den tief hängenden, grauen Himmel. Sie schloss die Augen und atmete langsam aus.

»Was ist denn?«, fragte Jim.

»Wäre es nicht schön, wenn wir beide hier oben leben würden? Nur du und ich.«

»Und die Hunde und Pferde«, ergänzte Jim.

»Natürlich auch die Hunde und Pferde«, sagte sie und warf die trockensten Eukalyptusblätter, die sie finden konnte, in die Flammen.

»Könntest du das wirklich?«, fragte Jim und schleifte einen gefällten Stamm heran, auf dem sie sitzen konnten.

»Mit dir wäre alles möglich.«

Er beugte sich über sie und gab ihr einen langen Kuss. Ich würde wirklich gern hier oben bleiben, dachte Rosie verträumt. Ein einfaches Leben führen, so wie Jack Gleeson. Ein Leben mit harter Arbeit, Pferden, Hunden und den Nutztieren. Ein Leben draußen im Busch voller Freude an schlichten Dingen wie dem Regen und dem Sonnenuntergang und den Spielen der Tiere.

Doch dann lösten sich Jims Lippen von ihren, und er schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ich würde nicht darauf setzen, dass das deiner Familie gefallen würde.«


Bis zum nächsten Nachmittag hatte das Wasser die Weiden wieder freigegeben, und das Brüllen des Flusses war verstummt. An der Furt waren die Felsen, wo das Wasser zurückgegangen war, mit Zweigen und Gräsern bedeckt. Oakwood blieb schnaubend am Ufer stehen, und Rosie spürte, wie sich sein Körper unter ihr anspannte, aber auf den Druck ihrer Schenkel hin trat er ins Wasser und trug sie ans andere Ufer hinüber. Schweigend ritten sie den Weg entlang, spritzten durch Pfützen und sanken an den Gattern im Schlamm ein. Die Hunde trotteten hintennach, ausgezehrt und hungrig nach den Tagen ohne Fressen.

Jim, Rosie und die Hunde hatten fast drei Tage nichts Richtiges in den Magen bekommen. Sie hatten in der Hütte ein paar Dosen mit Erbsen, Karotten und weißen Bohnen in Tomatensoße gefunden, die sie mit Jims Trockensuppen kombiniert hatten. Trotzdem hatte ihnen allen der Magen geknurrt, und sie hatten lachend dem seltsamen Konzert gelauscht, das sie in der Hütte veranstalteten.

»Die Sinfonie des Hungers«, hatte Jim dazu gesagt, während er das heiße Wasser auf das letzte Päckchen Trockensuppe kippte, das sie miteinander teilen würden.

Jim und Rosie hatten regelmäßig den Fluss in Augenschein genommen und nach einem Kommando des Katastrophenschutzes Ausschau gehalten, das womöglich nach ihnen suchte. Sie hatten den Himmel abgesucht, ob nicht irgendwo ein Helikopter zu sehen war, und reglos auf das Brummen eines Geländewagenmotors gelauscht. Aber niemand war gekommen. Rosie machte sich inzwischen Sorgen um ihre Mutter. Hatte sie vielleicht zu viele von den Tabletten geschluckt, die neben ihrem Bett lagen? Auf dem Ritt heimwärts begann Rosie, das Schlimmste zu befürchten.

Blinzelnd spähte sie in die Ferne.

»Was ist das?«

Jim folgte ihrem Blick.

»Sieht aus wie der Pick-up von deinem Vater.«

Als sie näher kamen, sahen sie, wie Margaret aus dem Auto sprang und auf sie zugerannt kam. Die Hunde jagten bellend und schwanzwedelnd zu ihr.

»O Gott sei Dank! Gott sei Dank!«, entfuhr es Margaret. »Ich dachte schon, euch sei was Schlimmes passiert! Ich wusste nicht, was ich tun sollte!«

Rosie stieg von Oakwood ab, und Margaret drückte sie mit aller Kraft an die Brust. Dann wandte sie sich an Jim.

»O vielen Dank! Vielen Dank, dass Sie Rosie wohlbehalten heimgebracht haben! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

»Mum«, versuchte Rosie sie zu beruhigen, »was machst du überhaupt hier draußen?«

Margaret wurde rot. »Ich habe deine Nachricht erst sehr spät entdeckt. Ich hatte bis zum Abend durchgeschlafen, verstehst du? Ich dachte, dass ich am besten auf dich warte, dass du bis zum Morgen bestimmt wieder zu Hause wärst. Aber als du mittags immer noch nicht da warst, dachte ich, ich sollte nach dir suchen.«

»Warum hast du nicht jemanden angerufen, der dir beim Suchen hilft?«

Margaret schüttelte den Kopf. Dann gestand sie leise: »Ich wollte niemandem erklären müssen, dass Gerald mich verlassen hat.«

Rosie strafte sie mit einem zornigen Blick. »Mein Gott, Mum, wir wären beinahe ertrunken!«

»Ich weiß! Ich weiß, das war dumm von mir! Ich habe euch in Gefahr gebracht, nur weil ich so stolz war! Rosie, es tut mir schrecklich Leid!« Sie drückte sie erneut. »Das ist mir klar geworden. «

»Einen Moment mal«, sagte Rosie und löste sich aus ihrer Umarmung. »Wieso bist du immer noch hier draußen?«

»Komm mit«, sagte Margaret, drehte sich um und ging zum Auto zurück.

Als sie davor standen, lachte Jim laut auf. »Das haben Sie prächtig hingekriegt, Mrs Highgrove-Jones!«

Es sah aus, als hätte der Erdboden das Heck des Pick-ups verschlungen.

»Der steckt für alle Zeiten fest«, gestand Margaret. »Und weil mir gestern Nacht so kalt war, habe ich die Heizung eingeschaltet, bis mir das Benzin ausging.«

»Das wohl kaum«, wandte Rosie müde ein.

»Wie meinst du das?«

»Es ist ein Dieselmotor.«

»Ach so. Aber es war so schrecklich kalt, und dunkel war es auch, darum habe ich die Scheinwerfer eingeschaltet.«

»Die Batterie ist also auch leer?«, fragte Rosie. Margaret nickte. »Warum bist du nicht einfach zu Fuß heimgegangen?«

Margaret schloss kurz die Augen und sah dann auf ihre verschlammten Tennisschuhe.

»Ich kenne mich hier nicht aus.«

»Du kennst dich auf deinem eigenen Grund nicht aus!«, lachte Rosie. »Das ist doch nicht zu glauben!«

Ein leises Lächeln stahl sich auf Margarets Gesicht. »Dafür habe ich im Handschuhfach ein paar Pfefferminz gefunden.«

»Das bedeutet, dass wir alle einen Mordshunger haben«, sagte Jim und schwang sich dabei aus dem Sattel. »Am besten helfe ich Ihnen auf Rosies Pferd, und dann reiten wir heim.«

Rosie kletterte wieder auf Oakwood und wartete ab, bis Jim Margaret geholfen hatte, hinter ihr aufzusteigen. Rosie spürte, wie sich die Arme ihrer Mutter um ihre Taille schlossen. Vor ein paar Tagen wäre sie vor dieser Berührung zurückgeschreckt. Jetzt, nachdem sie um ein Haar ertrunken wäre, hatten sich ihre Gefühle geändert. Sobald sich Jim auf den Rücken seiner Stute geschwungen hatte, wandte sich Margaret an ihn.

»Vielen, vielen Dank, Jim. Sie haben wesentlich mehr getan, als Ihre Pflicht gewesen wäre. Ich werde sicherstellen, dass Sie einen großzügigen Bonus gezahlt bekommen oder dass Sie zum Ausgleich für Ihre Scherereien ein paar Tage frei haben können.«

Rosie sah, wie eine Wolke über Jims Gesicht huschte, dann trieb er seine Stute ohne ein weiteres Wort mit einem Schenkeldruck heimwärts.

Griesgrämig ritt Jim in den Hof ein, er lächelte auch kaum, als der alte Lazy Bones herausgewatschelt kam und ihn mit einem Bellen begrüßte. Er schwang sich vom Pferd, landete mit beiden Beinen auf den Pflastersteinen und half anschließend Margaret, von Oakwood zu klettern.

»Wie wäre es, wenn wir uns erst duschen und aufwärmen und ich uns dann etwas Heißes zu essen mache?«, sagte Margaret zu Rosie. »Jim, Sie können uns gern Gesellschaft leisten, wenn Sie möchten.«

Er nickte ihr zu, und sie verschwand.

Rosie koppelte Oakwood an einem Geländer an und folgte Jim in den Stall und in Dixies Box. Die Welpen stürzten sich kläffend und schwanzwedelnd auf Jims Füße. Inzwischen waren ihre Augen geöffnet und von einem bezaubernden, marmorierten Blau. Dixie war außer sich, Jim und Rosie wiederzusehen. Sie setzte die Pfoten auf Rosies Hüfte, tanzte winselnd auf den Hinterläufen durch das muffig riechende Stroh und leckte ihre Hände. Sie hatte zwar genug Wasser gehabt, aber Rosie machte sich Sorgen, dass die stillende Hündin an Kalziummangel leiden könnte.

»Wir sollten sie ausnahmsweise mit Milch und Eiern füttern«, sagte sie zu Jim und suchte dabei seinen Blick.

»Gut«, sagte er und ging an ihr vorbei. »Ich sollte die Pferde füttern.«

Rosie folgte ihm und schaute zu, wie er mit seinen breiten Händen einen Eimer mit intensiv duftendem Pferdefutter anrührte. Sein Gesicht war ernst, und die Muskeln in seinem Kinn zuckten.

»Jim, was ist los?«, fragte Rosie.

»Nichts.«

»Quatsch! Du hast was. Sag mir, was dich stört.«

Jim sah sie zornig an.

»Hast du nicht gesehen, wie sie mich behandelt hat?«

»Wer? Mum? Ach, sei nicht albern.« Rosie winkte ab. »So ist sie eben. Sie behandelt jeden so. Mach dir deshalb keine Gedanken.« Sie legte die Hand auf Jims Arm. »Wir erzählen ihr, was sich zwischen uns entwickelt hat. Sie weiß das noch gar nicht. Dann kriegt sie sich schon wieder ein.«

Jim schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte ich mir woanders einen Job suchen.«

Rosie erstarrte. »Sei nicht albern. Wie kannst du so was sagen? Außerdem brauche ich dich! Wie soll ich allein die Station leiten, nachdem Gerald und Julian fort sind? Ich brauche dich, Jim. In mehr als einer Hinsicht.« Sie zog ihn an sich und streckte sich, um ihn zu küssen. »Zählen die letzten Tage denn überhaupt nicht?«

Jim sah sie an. »Natürlich tun sie das«, er drückte sie mit aller Kraft. »Entschuldige, Rosie. Ich werde das schon wegstecken. Geh du deine Hunde füttern, und wir treffen uns später im Haus zu einem der berühmten Essen deiner Mum.«

»Du bist eine Legende, Jim Mahony«, sagte Rosie und setzte einen letzten kurzen Kuss auf seine Wange. Um ein Haar hätte sie »Ich liebe dich« gesagt, aber irgendwas hielt sie davon ab. Vielleicht war es noch zu früh dafür? Dabei wusste Rosie, dass sie genau das für Jim empfand – absolute, unauslöschliche Liebe.