Warrock Station, circa 1870

Während Jack auf Bailey durch den Fluss spritzte und die verirrten Schafe von der Warrock Station das Flussufer hinauftrieb, fragte er sich gespannt, wie es auf Warrock Station wohl aussehen würde. Er hatte gehört, dass George Robertson ursprünglich ein schottischer Möbeltischler aus Port Glasgow war, der während der letzten zwanzig Jahre seiner Säge und seinen Leuten kaum eine ruhige Minute gegönnt hatte. Jetzt würde Jack das Ergebnis mit eigenen Augen sehen.

Als er schließlich das Haupthaus und die Nebengebäude der Warrock Station erblickte, meinte er, in ein kleines Märchendorf geraten zu sein. Insgesamt standen hier mindestens dreißig Gebäude, allesamt mit Kreuzblumen verziert, die stolz und kunstvoll von jedem Dachgiebel vorragten. Alle Bauten waren gut proportioniert und mit glänzender Farbe, schmucken Fensterläden und dunklem Fachwerk versehen. Auf dem Weg zum Scherstall kam Jack mit seinem Trupp verirrter Warrock-Schafe an einem Lagerhaus für die Schaffelle, an einem Schuppen, in dem Zutaten für den Kaltbrand gelagert wurden, sowie einem Verschlag mit geschlachteten Schafen für die Küche der Station vorbei. Alle waren frisch gestrichen und dekoriert. Selbst die Waschräume für die Scherer wiesen beeindruckende Schnitzereien an ihren Balken auf.

Ein Mann in Dungarees trat mit hochgerollten Ärmeln aus der Dunkelheit des Scherstalls.

»Verschonen Sie uns mit diesen wolligen Nichtsnutzen!«, begrüßte er Jack mit kaum noch hörbarem schottischen Akzent. »Ich dachte, wir wären endlich mit allen durch!«

»Sie haben drüben auf dem Gebiet von Dunrobin gegrast, wo ich arbeite, darum dachte ich, ich bringe sie wieder heim.«

»Also, Mr Robertson wird hocherfreut über Ihre Tat sein.« Der junge Mann setzte über einen Zaun, dass seine Stiefel mit einem dumpfen Schlag auf dem staubigen Boden aufkamen. Er öffnete das Gatter zu einem Pferch. Dann jedoch stieß er, statt die Schafe hineinzutreiben, nur einen kurzen Pfiff aus.

»Hierher!«, rief er. Zwei schwarze Hunde mit spitzen Ohren kamen aus dem Schuppen gehetzt, die Augen weit aufgerissen und mit heraushängender Zunge. Sie umkreisten die Schafe in einem weiten Bogen und trieben sie durch das Tor, an dem der Mann stand.

Jack warf einen strafenden Blick auf Faulpelz, der sich hechelnd im Schatten eines Eukalyptusbaumes niedergelassen hatte.

»Könntest du dir nicht etwas davon abschauen, Faulpelz?«, fragte Jack und sprang von seinem Pferd. Er wandte sich an den Mann. »Woher haben Sie diese Hunde?«

»Ach, das sind nicht meine. Sie gehören dem Boss. Sie sind aus Schottland. Die besten, die man kaufen kann. Aber er ist sehr eigen mit ihnen. Nur die Erfahrensten unter seinen Leuten dürfen mit ihnen arbeiten«, verkündete er stolz. »Archie McTavish«, stellte er sich dann mit ausgestreckter Hand vor.

»Jack Gleeson.« Sie begrüßten sich mit einem kräftigen Händedruck, über dem Archie den großen Blonden genau in Augenschein nahm.

»Kommen Sie, Jack, Sie können den Männern die frohe Kunde überbringen, dass sie noch mehr Schafe zu waschen und zu scheren bekommen! Zum Glück wird es nicht lange dauern. Wir sind zwölf Männer an zwölf Scherplätzen. Was für ein Anblick, wenn da die Klingen fliegen! Und weil wir gleich fertig sind, herrscht auch gute Stimmung. Ich bin sicher, dass sie nicht allzu verärgert sein werden.«


Noch ehe nach dem letzten Schaf des Tages die Glocke geläutet wurde, führte Archie Jack wieder aus dem Schuppen heraus.

»Was halten Sie davon, wenn ich Sie über die Station führe, ehe die Sonne untergeht?«

Während sie mit Bailey durch die Station schlenderten, gefolgt von Faulpelz und den Collies, wies Archie stolz auf die Unterkünfte für die Scherer weiter oben am Hügel. Dann zeigte er Jack den großen Speisesaal, aus dem der Duft nach gebratenem Lamm wehte.

»Wenn die Männer fertig gegessen haben, finden Sie in der Hütte hinter dem Herd ein Plätzchen für Ihre Schlafrolle. Ich bin sicher, dass sich Mr Robertson geehrt fühlen würde, wenn Sie mit den Männern essen, nachdem Sie ihm einen so großen Gefallen erwiesen haben.«

»Das wäre überaus freundlich«, sagte Jack, und sein Gesicht hellte sich bei der Aussicht auf ein Abendessen in Gesellschaft auf.

»Dort hinten, dem Haupthaus zu, haben wir auch eine Schmiede, wo Sie Ihr Pferd unterstellen können. Mr Robertson ist gut zu ehrlichen, schwer arbeitenden Männern, bei Ihnen wird er da keine Ausnahme machen, davon bin ich überzeugt. Er selbst arbeitet unermüdlich an seiner Drehbank. Ein Mann, der das Holz liebt. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen noch die Werkstatt und die Sägerei, bevor ich Sie in sein Büro bringe.«

Jack war eher erpicht darauf, Robertsons Hunde zu sehen. Ihm war aufgefallen, dass die schwarze Hündin, die Archie auf den Fersen folgte, Milch in den Zitzen hatte, was bedeutete, dass es Welpen geben musste. Just in diesem Moment hatte ihn Archie an den schönsten Zwingern vorbeigeführt, die Jack je gesehen hatte. Sie waren aus rotem Backstein gemauert, und aus den Schlitzen im Mauerwerk sah er schnüffelnde, bellende Hundeschnauzen ragen. Weiße, schmiedeeiserne Pfosten reckten ihre Spitzen himmelwärts, um die Hunde am Herausspringen zu hindern.

»Also, die sind sicherlich komfortabler als meine Schäferhütte!«, sagte Jack.

»O ja«, bestätigte Archie. »Der Hundewärter ist mächtig stolz auf diesen Bau. Hier, werfen Sie einen Blick auf Mr Robertsons Hunde für die Kängurujagd. Die besten aus England.«

Jack legte das Auge an einen Spalt in dem fest gezimmerten Tor. Aus dem gepflasterten Zwinger bellten ihn vier Hunde mit herabhängenden Tränensäcken und Ohren an.

»Im nächsten Zwinger haben wir den Wurf Scotch Collies, den uns die lütte Hirtenhündin hier beschert hat. Der Hund und die kleine Schlampe waren während der Überfahrt aneinander gekettet, und das hier ist das Ergebnis. Die besten Welpen im ganzen Land.«

Archie bückte sich und kraulte die schwarze Colliehündin, die geduldig darauf wartete, wieder zu ihren Welpen zu dürfen. Jack konnte das aufgeregte und gespannte Kläffen der Welpen hören, die eben im Schutz ihres Zwingers erwachten. Als Archie die Tür öffnete, kamen fünf kleine schwarz-braune und rot-braune Welpen zu ihrer Mutter gerannt und begannen augenblicklich, an ihren Zitzen zu saugen.

»Lange wird sie sich diese grobe Behandlung nicht mehr gefallen lassen. Sie sind inzwischen acht Wochen alt und werden bald abgestillt.«

Die Welpen ließen sich auf ihren Hintern nieder und begannen, mit aller Kraft zu saugen, wobei sie mit den kleinen Pfoten die Zitzen ihrer Mutter bearbeiteten. Ihre Mäuler waren wie Klammern. Jeder sog mit aller Kraft und schubste und stupste dabei seine Mutter, die mit leicht gespreizten Beinen und schmerzverzogener Miene dastand. Als die kleinen Bäuche anzuschwellen begannen, drehte sich die Hündin knurrend um und schnappte nach dem stärksten der Welpen. Ihre Zähne schlossen sich dicht neben dem Ohr eines kleinen, schwarz-grauen Rüden. Dann spazierte sie davon und ließ die Welpen auf dem Boden liegen, wo sich die Kleinen hektisch aufrappelten, um ihr nachzulaufen. Sie sprang auf eine umgekippte Kiste in ihrem Zwinger, außerhalb der Reichweite der Welpen, und begann, ihre wunden Zitzen zu lecken. Die Welpen umtanzten die Kiste, blickten sehnsüchtig nach oben und kläfften nach ihrer Mutter. Alle bis auf einen. Die kleine schwarz-braune Hündin war mit vollem Bauch und ernstem Blick vor den Männern sitzen geblieben. Sie sah zu Jack auf und gab ein scharfes, klares Kläffen von sich, ehe sie sich auf seine Schnürsenkel stürzte.

»Darf ich?«, fragte Jack Archie.

»Nur zu. Der Hundewärter sagt, je mehr man mit ihnen spielt, desto besser.«

Jack hob die kleine Hündin hoch und hielt sie auf Augenhöhe. Sie sträubte sich nicht und winselte auch nicht. Stattdessen entspannte sie sich in seinen Händen und blickte mit ihren tiefbraunen Augen in seine. Dann schnüffelte sie neugierig an seiner Haut.

»Na, du bist aber ein Goldstück, hm?«, sagte er freundlich zu ihr, und die kleine Hündin wedelte mit dem Schwanz.

»Wie viel müsste ich wohl aufbringen, um die Kleine zu kaufen?«, fragte Jack.

»Nun ja«, antwortete Archie, »jedenfalls ein hübsches Sümmchen. «



Rosie hielt das winzige Neugeborene fest umschlossen in der Hand und hob es an ihr Gesicht. Gerade als sie es vorsichtig neben Dixie absetzte, hörte sie, wie die Stalltür aufging. Es war Jim.

»Wie viele sind es?«, fragte er und ging im gleichen Moment neben Dixie und der wimmelnden Welpenmasse in die Hocke.

»Ähm. Fünf. Das Letzte ist um zehn gekommen.«

»Jetzt ist es fast zwölf. Dann ist sie mit Sicherheit fertig.«

Rosie blickte auf die Ansammlung winziger bläulicher, roter und schwarzer Welpen, die an den Zitzen ihrer erschöpften Mutter hingen.

»Oh. Ein wirklich guter Wurf«, fuhr Jim fort. »Meinst du nicht, dass sie über Nacht gern was zu beißen hätte? Ich hab noch was in meiner Unterkunft. Ich werde es ihr bringen.«

»Du musst wirklich nicht… ich kann doch …«

»Ich weiß, dass ich nicht muss. Aber ich tue es gern.«

Rosie sah ihn zweifelnd an und zupfte einen Strohhalm aus ihrem Haar. »Wieso bist du plötzlich so hilfsbereit? Warum bist du vorhin nicht dageblieben?«, fragte sie unvermittelt.

»Du hast meine Hilfe nicht gebraucht. Das Buch erklärt dir genau, was du zu tun hast. Außerdem wirst du nie was lernen, wenn du nur dabeisitzt und den Männern das Arbeiten überlässt. «

»Wie meinst du das?«

»Ich habe mit deinen Freunden im Pub geplaudert. Mit James Dean und seiner Lady. Sie haben mir von dem Ärger erzählt, den du hattest. Ich habe auch das von deinem Verlobten gehört. Es tut mir Leid.«

Rosie wandte sich von der Güte in Jims Blick ab, denn sie wollte auf keinen Fall vor ihm weinen. Sie beschloss, nicht länger wütend auf ihn zu sein. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich wieder zu ihm um und lächelte traurig.

»Danke — aber ich bin sicher, dass dir James Dean die düstere Wahrheit über Sam und unsere… Beziehung erzählt hat.«

»Du bist ein tolles Mädchen, Rosie Jones«, versicherte ihr Jim und schlug ihr kräftig auf den Rücken.

»Danke.« Sie wandte sich wieder den Welpen zu und begann, Dixies Flanke zu streicheln.

»Tja«, sagte Jim. »Wir sehen uns dann morgen früh.«

»Es ist schon Morgen, du großer irischer Tölpel«, sagte Rosie lächelnd.

Jim zog eine Grimasse und lachte leise, ehe er in seine Unterkunft verschwand und die Tür entschieden ins Schloss zog. Rosie ließ sich wieder ins Stroh sinken und schaute den Welpen beim Schlafen zu. Ihre winzigen Bäuche hoben und senkten sich regelmäßig, und ihr Fell begann bereits zu glänzen. Sie brachte einfach nicht die Kraft auf, ins Haupthaus und in ihr eigenes Bett zu gehen. Sie fühlte sich dort oben so allein. Sie hätte sich gewünscht, dass Jim noch länger bei ihr geblieben wäre… dass er ihr mehr über sein Leben erzählte. Hatte er Geschwister? Was machten seine Eltern? Was hielt er wirklich von Rosie Jones ohne Bindestrich und ihrer Mutter und ihrem Vater mit Bindestrich? Rosie zuckte mit den Achseln. Vorerst konnte sie nur abwarten. Sie beugte sich wieder über die Welpen und streichelte sie mit dem Zeigefinger.

»Jeder von euch ist ein kleines Wunder«, flüsterte sie leise.