Kapitel 32

Unter ihre Decke gekuschelt, während Bones auf einer Matte neben dem Bett schlief, schlug Rosie Mr Seymours Skizzenbuch auf. Auf den ersten Seiten waren Bilder von ihm als Jungen in Irland zu sehen.

»Mein Junge, du warst’n hübscher Bengel damals«, stellte sie fest, während sie Mr Seymours hübsche Gesichtszüge studierte. Auf der nächsten Seite waren Fotos von einer Familie vor einer Hütte aus Naturstein aufgeklebt. Darunter stand geschrieben »Die Mahonys«. Rosie betrachtete die beiden Jungen, die sich vor ihrer Mutter aufgebaut hatten. Der kleinere war Jim, erkannte sie. Zärtlich fuhr sie mit dem Finger über sein Abbild.

»Niedlich«, flüsterte sie.

Weiter hinten im Buch fanden sich vergilbte Zeitungsausschnitte, die mit Tesastreifen befestigt waren. In einem der Ausschnitte hatte Mr Seymour die folgenden Zeilen unterstrichen: Es ist bemerkenswert, wie viele der bekanntesten Hütehundezüchter und -ausbilder damals in einem einzigen kleinen, entlegenen australischen Distrikt zu finden waren: Gleeson, die Kings, Quinns, Willis, Beveridge und die McLeods von Bygalorie.

Rosie fragte sich, ob Jim auf der Suche nach Arbeit und nach den Spuren der alten Kelpie-Stammbäume wohl hoch nach New South Wales gewandert war, in genau jenen Distrikt der Riverina nahe Ardlethan. Seufzend blätterte sie weiter. Es war schön und gut, die Abstammungslinien der einzelnen Hunde zurückzuverfolgen, aber eigentlich wollte Rosie vor allem wissen, wie es Jack und Mary damals ergangen war. Hatte ihre Ehe trotz aller Differenzen gehalten? Rosie ließ den Kopf auf das Kissen sinken und versuchte, das Gefühl von Jims Berührung heraufzubeschwören. Bald darauf war sie eingeschlafen.


In ihrem Traum begann Wasser zu rinnen, das in kurzer Zeit zu wahren Sturzbächen anschwoll. Die silbernen Rinnsale breiteten sich wie Adern über die grünen Winterweiden aus. Wasser gleißte weitläufig und grau auf den ebenen Koppeln und drängte zu den tiefen Bachläufen und Flussbetten. Die Flüsse schossen wie im Widerhall des strömenden Regens durch immer tiefer werdende Lehmschluchten, bis sich riesige Felsbrocken aus den Wänden lösten und in dunkle Grotten polterten, in denen zornig das Wasser tobte. Eine Hütte hatte sich aus ihren Fundamenten gelöst und wurde von den reißenden Wassern fortgetragen.

In Todesangst lag Rosie auf einem Feldbett mit nichts als einer kratzigen Decke auf dem nackten Leib. Die Hütte wirbelte durch die Fluten, rammte Bäume und rummste gegen die kopfunter schwimmenden, aufgeblähten Kadaver von Kühen und Pferden. Rosie war klatschnass und bibberte vor Kälte. Aber noch während sie in panischer Angst befürchtete, weggeschwemmt zu werden, spürte sie, wie sich eine warme Hand über ihren Körper bewegte. Ein Mann war über ihr und ließ seine Finger in ihre feuchte Wärme gleiten. Sie war schwer vor Müdigkeit und trunken vor Begierde. Sie hörte, wie ihr Atem schneller wurde, bis sie beinahe zu hecheln begann wie ein Hund. In der Dunkelheit der dahintreibenden Hütte, an deren grob gehauenen Innenwänden der Regen herabrann, blickte Rosie in Sams Gesicht auf, das dicht über ihr schwebte. Sie versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sam lächelte sie an, aber es war ein grausames Lächeln, und aus der angenehm weichen Berührung wurden plötzlich schmerzhafte Stöße, mit denen er seine Finger in sie jagte. Sie versuchte sich zu wehren, aber ihre Arme waren so schwer, dass Rosie sie kaum vom Bett heben konnte. Sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte nichts tun, außer in aller Stille zu weinen, während ihr Sam die Seele raubte.

Als sie schließlich die Gegenwehr aufgab und die Augen aufschlug, sah sie, dass sich Jim über ihr bewegte. Er küsste sie und ritt sie im Rhythmus der Wellen und des Regens, der auf das Dach prasselte. Von neuem ging ihr die Seele auf. Sie zog Jim an ihren Busen und vergrub das Gesicht in seiner warmen Halsbeuge. Doch als sie wieder aufsah, blickte sie in das Gesicht eines fremden Mannes. Die hellbraunen Stoppeln auf seinem Kinn fühlten sich rau an, dafür war sein blondes Haar umso weicher, und seine Augen waren genauso blau wie Jims. Während er rhythmisch in sie drang, rief er immer wieder einen Namen.

»Mary«, stöhnte er wieder und wieder. »Mary.«