Kapitel 18

Verwirrt und verlegen, nachdem ihr Jim nach ihrem Kuss eine so barsche Abfuhr erteilt hatte, lief Rosie durch den dunklen Hausgang.

»Kacke!«, fluchte sie, als sie über die Krocketschläger stolperte, die die Gäste ihrer Mutter liegen gelassen hatten. Vor der offenen Küchentür sah sie ein helles Viereck auf dem Teppich liegen. Der Gestank von Verbranntem hing wabernd unter der Decke.

In der Küche stand Margaret, schon im Schlafrock, und schenkte sich aus einer Ginflasche ein Glas voll ein. Auf dem Grill brutzelte eine vollkommen verkohlte Frittata.

»Was machst du da, Mum?« Rosie zog die Bratpfanne herunter und schaltete den Grill aus.

»Das ist das Abendessen für deinen Vater«, erklärte Margaret gedankenverloren. Rosie stellte die Pfanne in die Spüle, wo das heiße Metall unter dem Wasserhahn aufzischte. Dann nahm sie ihrer Mutter die Flasche ab.

Margaret schob die freie Hand in die Manteltasche und holte eine kleine Plastikdose heraus. Sie zog den Deckel ab und kippte mehrere Tabletten auf den Tisch, wo sie die Pillen mit dem Zeigefinger zu kleinen Häufchen sortierte.

»Mum? Was machst du da?«, wiederholte Rosie.

»Ist doch egal. Mein Leben ist sowieso vorbei.«

Margaret zitterte am ganzen Leib.

»Was redest du da?«

»Dein Vater hat mich verlassen.«

»Dich verlassen? Aber warum denn?«

Margaret drehte sich zu ihr um und sah sie befremdlich an. »Warum fragst du das nicht deine geliebte Tante?«

»Was?« Rosie begriff gar nichts mehr.

»Sie wollte ihn immer für sich selbst haben.«

Rosie versuchte zu begreifen, was ihre Mutter da sagte. Giddy und Gerald? Erst erschien ihr das völlig absurd. So absurd, dass Rosie fast losgelacht hätte. Aber dann blitzten vor ihren Augen immer mehr Erinnerungen an Gerald und Giddy auf. Wie die an letzte Weihnachten, wo Gerald Giddy so liebevoll geküsst und so laut mit ihr gelacht hatte. Er hatte sie zum Bleiben überreden wollen. Er hatte ihre Hand gehalten. Und an jenem Tag war er aus seiner üblichen schweigsamen Muffigkeit aufgetaut und hatte fröhlich und glücklich gewirkt. Und dann war da noch Margarets frostige Reaktion auf ihre Schwester. Seit Rosie denken konnte, war da etwas zwischen ihnen gewesen… eine unausgesprochene Verbitterung.

»Bist du sicher?« Rosie war immer noch bemüht, diese letzte Wendung der Ereignisse zu verdauen.

Margaret schlug leise mit der Stirn gegen die Tischplatte und begann hysterisch zu lachen.

»Ob ich sicher bin? Glaubst du etwa, ich hätte mit einem Schafscherer geschlafen, wenn ich Gerald nicht in flagranti mit Giddy ertappt hätte? Wofür hältst du mich?«

Glaubst du etwa, ich hätte mit einem Schafscherer geschlafen? Die Worte hallten in Rosies Kopf wider. Sie wich langsam zurück, während sich ein Puzzleteilchen zum anderen fügte. Margaret, die vor so vielen Jahren das Liebespaar überrascht und daraufhin Rache genommen hatte. Eine Liebelei mit einem Schafscherer. Einem Schafscherer. Ihrem Vater. Rosie bekam keine Luft mehr. Sie stolperte in den dunklen Hausgang. Immer noch hörte sie ihre Mutter in der Küche schreien, dass ihre Stimme im ganzen Haus widerhallte.

»Bei den Highgrove-Joneses hat sich noch nie jemand scheiden lassen!«, tobte Margaret. »Niemals! Pah! Und jetzt das! Nach all den Jahren brennt Gerald mit meiner Schwester durch!«

Rosie lief auf die Veranda vor dem Haus und konnte gerade noch sehen, wie ihr Vater in dem uralten Mercedes ihres Großvaters losfuhr. Im Schein der Verandalampe erkannte sie, dass er stur und mit versteinerter Miene nach vorn blickte. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er fuhr einfach davon, bis die Heckleuchten wie schmale rote Augen in der Ferne verschwanden.

»Dad?«, brüllte ihm Rosie hinterher und krümmte sich zusammen, weil ihr alles so unfassbar erschien. Er hatte kein Wort davon gesagt. Er war gegangen, ohne mit ihr zu reden. Panik überkam Rosie, sie fühlte sich unendlich allein und unerwünscht. Sie brachte einfach nicht die Kraft auf, wieder ins Haus zu gehen und ihrer tobenden Mutter gegenüberzutreten, aber Jim konnte sie ebenso wenig ins Gesicht sehen.

»O Gott«, flüsterte sie. »Was soll ich denn nur tun?«


Draußen bei den Pferchen riss Rosie scharf an Oakwoods Zügel, warf ihm dann einen Sattel über und öffnete das Gatter. Noch bevor sie sich richtig aufgeschwungen hatte, trieb sie ihn mit den Hacken in den Galopp und ritt in den Nebel hinaus.

Verschlafen und mit verquollenen Augen trat Jim mit blanken Füßen auf die Pflastersteine im Hof und blieb bibbernd stehen. Er spähte in die dunkle, kalte Nacht.

Oakwood kam im Nebel kurz ins Straucheln und fiel daraufhin in einen langsamen Trott, die Nüstern dicht über dem Boden, um den Weg zu erschnüffeln und um sich schnaubend und behutsam durch die Dunkelheit vorzuarbeiten. Die niedrigen Äste der Bäume zerkratzten Rosies Gesicht und hinterließen rote Striemen auf ihren Wangen, aber sie spürte so gut wie nichts. Die Gedanken rasten so schnell durch ihren Kopf, dass ihre Schläfen pochten und sich ein stechender Schmerz hinter ihrer Stirn breit machte. Immer tiefer ritt sie in die Nacht. Plötzlich fiel der Weg steil ab, und Rosie lehnte sich im Sattel zurück, während Oakwood die Hinterbacken zusammenzog. Halb schlitternd, halb stolpernd rutschte er das Steilufer hinunter. Jeden Schritt bekam Rosies Körper schmerzhaft zu spüren. Sie war nicht sicher, wohin der Weg sie führte, aber das war ihr auch egal. Es war ihr egal, selbst wenn sie tagelang im Gestrüpp umherirren musste, das am Fluss wuchs. Hauptsache sie war weit weg von ihrer durchgeknallten Familie und dem riesigen alten Haupthaus, in dem die düsteren Porträts von Menschen hingen, die plötzlich nicht mehr ihre Verwandten waren.

Unten am Ufer folgte Oakwood durch das Dickicht einem schmalen Tunnel, der eher ein Wallaby-Wechsel war. Immer wieder blieben Rosies Füße an schlanken Baumstämmen hängen und wurden aus den Steigbügeln gerissen. Die Büsche kratzten ihr die Arme auf und gaben ihr das Gefühl, mit Spinnweben überzogen zu sein, während über ihren Nacken lauter kleine Spinnen liefen.

Als sie endlich aus dem Dickicht stießen, hatte sie das Gefühl, eben durch den magischen Schrank gegangen und in Narnia gelandet zu sein. Der Nebel wich zurück und gab den Blick auf eine abgeschiedene Lichtung frei. Der verhangene Mond goss sein kühles Licht auf eine heitere, mit Gras bewachsene Uferstelle. Riesige Eukalyptusbäume reflektierten das Mondlicht, und der flache, silbrige Fluss glitt lautlos vorbei. Ein aufgeschreckter Vogel ergriff die Flucht und klatschte dabei mit den Flügeln blindlings durch das Geäst, woraufhin Rosie, nicht aber ihr Pferd, erschrocken zusammenzuckte. Sie glitt von Oakwoods Rücken und wickelte die Zügel um einen liegenden Baumstamm. Dann setzte sie sich ins feuchte Gras und begann zu weinen. Ihre Tränen waren still und silbern wie der Fluss. Die Knie an die Brust gezogen, saß sie bibbernd in feuchten Jeans und einem T-Shirt da. Ihre Zähne begannen zu klappern. Sie wischte die heißen Tränen von ihren kalten, blutigen Wangen und wiegte sich leise vor und zurück.

Nach einer Weile wurde das Bibbern übermächtig. Rosie wusste, dass es nicht nur von der Kälte, sondern auch vom Schock her rührte. Sie schlang die Arme um Oakwoods festen Hals und wärmte ihr Gesicht unter seiner langen Mähne. Dann schob sie die Hände unter seine warme Satteldecke und weinte noch mehr Tränen an seinen Hals. Am liebsten wäre sie hier und jetzt gestorben. Sie wünschte sich, der Fluss würde mit einem Mal ansteigen und sie wegreißen.

Dann hörte sie ein Rascheln zwischen den Büschen, und ihr Herz setzte vor Angst einen Schlag aus. Eine schwarze Silhouette trat aus dem Dickicht. Erst dachte Rosie, es sei ein wilder Dingo. Aber die schwarze Silhouette wedelte mit dem Schwanz, und gleich darauf leckte ihr Diesel winselnd und glückselig die Hand.

»Du bist mir gefolgt!«, sagte sie zu Diesel. »Aber wie bist du aus deinem Zwinger gekommen?«

Diesel bellte sie aufgeregt an und lief ins Gebüsch zurück. Gleich darauf erschien Jim auf seiner kastanienbraunen Stute zwischen den Büschen. Er konnte Rosies weißes T-Shirt im Mondlicht leuchten sehen und machte das Gleißen der Steigbügel und des Gebisses aus, das Oakwood trug.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie ihn wütend.

Jim ritt bis vor sie hin. Oakwood wieherte leise und reckte die Nase vor, um Jims Stute zu begrüßen.

»Ich habe dich nicht gefunden. Die Tiere haben mich hergeführt. Sie sind viel schlauer als ich.«

»Geh weg.« Beschämt wandte sie ihm den Rücken zu. Er glitt von seinem Pferd und legte die Hände auf ihre nackten Arme.

»Oh, aber du bist halb erfroren! Hier, lass mich.«

Er schlug seinen weiten, wachsbeschichteten Langmantel auf und legte ihn um sie, bis er sie an seine Brust gezogen hatte. Liebevoll sah er auf ihr Gesicht herab und wischte dann vorsichtig den Dreck und das Blut von ihren Wangen.

»Du hast dich geschnitten.«

»Ich weiß. Es brennt.« Rosie tupfte mit der Fingerspitze auf die Wunde. Es war befremdlich, wie ein bemitleidenswertes Mädchen in Jim Mahonys Armen zu stehen. Sie wollte nicht schwach und bemitleidenswert sein. Er hob ihr Gesicht an, bis sie ihn ansah. »Was hat dich so durcheinander gebracht?«

Weil sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte, schüttelte sie wortlos den Kopf.

»Dad hat eben Mum verlassen.«

»Oh.« Jim zog sie an sich.

»Aber das ist nicht alles. In Wahrheit bin ich gar keine Highgrove-Jones. Ich habe eben erfahren, dass sich Mom von einem Schafscherer vögeln ließ. Und der ist mein leiblicher Vater.« Im nächsten Moment brach sie wieder in Tränen aus.

»Pst«, tröstete Jim sie und umfasste mit beiden Händen ihren Kopf, dessen Wange sie an seine breite, warme Brust geschmiegt hatte. »Ich bin bei dir.«

Rosie sah zu ihm auf, und im nächsten Moment küsste er sie. Sie spürte, wie Leidenschaft in ihr wach wurde. Seine Lippen waren so warm. Unwillkürlich legte sie den Kopf in den Nacken und erwiderte seinen Kuss. Weil sie ihn mehr wollte als alles andere. Vor Lust wurde ihr die Brust eng, und so küsste und küsste sie Jim Mahony, den Iren, dort unten am Fluss. Sie konnte ihn schmecken, und sie schmeckte ihr eigenes Blut von dem Schnitt an ihrer Unterlippe. Lust und Schmerz trieben sie zur Raserei. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle ins hohe Gras sinken lassen und ihn in sich aufgenommen. Sie lud seine Hände ein, über ihren Rücken zu gleiten und sich unter ihr nasses T-Shirt zu schieben. Rau und warm strichen seine großen Hände über ihre weiche, kalte Haut. Sie spürte, wie sich sein Körper gegen ihren presste. Dann wich Jim unvermittelt zurück. Er sah ihr ins Gesicht und strich ihr die Haare hinter die Ohren. Begierde glühte in seinen blauen Augen.

»Ach, Rosie«, seufzte er im weichsten irischen Singsang, »du bist so wunderschön wie eine Sirene. Wie ein Wassergeist. Als wärst du aus dem Fluss gestiegen, um mich in Versuchung zu führen. Wohin entführst du mich, mein Mädchen?«

Seine Stimme klang rauchig vor Lust. Rosie war so sanfte Töne nicht gewohnt, sie hatte bisher nur Sams grobe, wortlose Annäherungsversuche erlebt. Hier jedoch, mit Jim, ließ sie allein seine Stimme und das tiefe Gefühl darin dahinschmelzen.

Jim nahm Rosie bei der Hand, setzte sie auf einen umgefallenen Baumstamm und sich dicht daneben. Dabei sah er ihr die ganze Zeit in die Augen und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie fuhr mit den Fingern durch sein weiches, blondes Haar und über das markante Kinn, das bis zum Morgen von einem rostigbraunen Schatten überzogen sein würde. Sie verlor sich in seinen vollen Lippen und seinen lächelnden Augen.

So saßen sie am Ufer des schimmernden Flusses und schauten sich in die Augen, bis der Nebel von neuem heranrollte und sich eine dicke schwarze Wolke vor den Mond schob. Es war, als hätte sich der Vorhang über die romantischste Szene in Rosies Leben gesenkt. Sie musste kichern, als sich Jims Gesicht in der tiefschwarzen Dunkelheit auflöste.

»Heiliger Schiet, ist das aber mal dunkel«, sagte sie, seinen Akzent nachahmend. Der leichte Nebel wurde immer dichter und trieb bald in heftigen, eisigen Regenschleiern vom Himmel.

»Komm!«, lachte Jim und nahm sie bei der Hand. »Nichts wie weg hier! Wir werden noch pitschnass.«

Während sie durch die Dunkelheit heimwärts ritten, atmete Rosie, obwohl ihr eiskalt war und der Regen ihr den Nacken hinabrann, bei jedem Luftholen die Schönheit der Nacht ein.

»Jim?«, rief sie, als sie sich wieder einmal unter einem Ast durchduckte.

»Mm?«

»Glaubst du, es war eine Nacht wie diese, als Jack Gleeson seinen Kelpie-Welpen bekam?«

»Wenn ja, dann hatte er hoffentlich was Wärmeres an als du«, sagte Jim. »Aber wenigstens hast du die Scheinwerfer eingeschaltet, damit ich was sehen kann.«

»Die was?«

Jim grinste, und Rosie ging auf, dass er im Dunkel ihre Brustwarzen beäugte, die sich deutlich sichtbar unter ihrem klitschnassen T-Shirt abzeichneten. Rosie zog Jims Mantel fester um ihren Leib und lenkte Oakwood an seine Seite, um ihm einen Schlag auf den Arm zu verpassen.