Prolog

Belfast, Port Phillip, 1856

Der Junge hörte das Muhen der Kühe, die in den schlammigen Pferchen bei den Docks nach ihren Kälbern riefen. Er atmete ihren Duft und die schneidende Meeresbrise ein, als wäre es Gottes schönstes Parfüm. Jack schnaufte in einem tiefen Seufzer aus. Dann rannte er auf die Docks zu, duckte sich dabei unter den Mäulern der Zugpferde weg und schlängelte sich zwischen Ponys und Karren durch, die sich auf der breiten Straße vorbeischoben. An den Höfen kletterte Jack auf den Lattenzaun, um das Vieh zu begutachten, das nervös in den Pferchen herumlief.

»Also, wenn das nicht mein junger Viehtreiber-Lehrling Jack Gleeson ist«, begrüßte ihn der alte Albert vom Pferch her, während sein kleiner Terrier aufgeregt die schlammigen Stiefel umtanzte. Hinter ihm stand Mark Tully. Jack konnte nicht anders, er beneidete Mark zutiefst. Mark musste kaum je zur Schule und brachte die Tage meistens damit zu, unten am Hafen auszuhelfen.

»Hallo ihr zwei«, rief Jack zurück.

Albert hustete kratzend.

»Maria, Joseph und heiliger Jesus. Ich muss heute bei Gott schwer für meinen Whisky arbeiten«, keuchte er. »Einen Penny für deine Gedanken. Was hältst du von diesen Tieren, Junge?«

Jack ließ den Blick über die Rinder wandern.

»Die meisten sehen gut aus, aber die da , die da würde ich nicht nehmen.« Jack deutete auf eine kleine Färse dicht am Zaun. »Die hat einen Kopf wie ein Sumpftroll, und ihre Zitzen sitzen ganz falsch am Euter.«

»Ah, gut gesprochen. Ich bin ganz und gar deiner Meinung. Und die hier? Was sagst du zu der?« Er deutete mit dem abgewetzten Treiberstock auf eine kleine schwarze Färse mit glänzenden, hochgedrehten Hörnern.

»Die ist in Ordnung.«

»Von wegen in Ordnung.« Albert ließ den Stock auf den Rumpf der Kuh knallen. »Mit diesen schmalen Stelzen wird sie sich beim Kalben verflucht schwer tun. Vor solchen wie ihr musst du dich in Acht nehmen, Jack. Das ist so, wie wenn du eine Frau anschaust – du brauchst die Gabe, unter ihre Kleider zu schauen oder noch besser unter ihre Haut, um zu sehen, ob sie wirklich gut für dich ist.«

Jack wusste nicht genau, wie Albert das meinte, aber er sah sich die Färse noch mal genauer an und nickte.

»Wo gehen die hin?«

»Die gehen überhaupt nicht – die kommen. Die sind den ganzen Weg über die sieben Weltmeere gesegelt und werden jetzt noch Hunderte von Meilen über die Straße bis nach Glenelg getrieben. Wenn du mich fragst – was die meisten Leute nicht tun – würde ich solche Rinder wie die hier nicht um die halbe Welt schicken, jedenfalls nicht so eine zusammengewürfelte Herde wie diese. Es ist eine echte Kunst, Gottes Vieh auszulesen, Jack, und manche von diesen Fatzkes daheim im Mutterland passen einfach nicht auf, was uns der Herr da alles zusammengepackt hat. Die sind viel zu beschäftigt mit ihren Papieren, ihren Stammbäumen und Rassen, als dass sie mit bloßem Auge ein gutes Rind erkennen könnten. Das ist eine Kunst, die ihr beide erlernen müsst, du und Mark, wenn ihr tatsächlich Viehtreiber werden wollt, so wie ihr immer sagt.«

Jack bemerkte zwei Männer, die auf sie zugeritten kamen. Es waren große, breitschultrige Männer, die locker auf ihren trabenden Pferden saßen. Ihre Satteltaschen waren prall gepackt, und jeder der vielen Sattelringe war behängt. Mit einer Bettrolle, einem Trinkbecher, einem kleinen Henkelmann mit Tee und Mehl. Für den langen Viehtrieb bepackt. Jack spürte, wie sein Herz schneller schlug. Arthur tippte mit dem Stock gegen Jacks Knie und nickte zu den Männern hin.

»Die beiden Burschen haben diese Gabe – sieh sie dir an. Schau dir ihre Pferde an, sieh dir die Hunde an. Schau zu, wie ruhig sie die Herde über die volle Straße treiben.«

Der Hund des Treibers jagte herbei, um Alberts Terrier zu inspizieren. Neugierig umkreiste der große schwarze Hirtenhund den Kleinen mit dem drahtigen Fell. Beide beschnüffelten das Hinterteil des anderen. Der schwarze Hund hatte die Rute hoch nach oben gereckt, während Alberts Hund seine flach und schnell hin und her wedelte.

»Siehst du die Hunde, Bursche? Siehst du, wie sie sich gegenseitig am Arsch schnüffeln? Weißt du, warum sie das machen?«

»Nein«, sagte Jack, leicht vorgebeugt und begierig, mehr von dem alten Mann zu lernen.

»Vor langer, langer Zeit, als Gott genau diese Erde erschaffen hat, auf der ich jetzt stehe.«

Albert rückte näher an Jack heran und senkte die Stimme.

»Also«, begann er. »Gott war schon tagelang am Arbeiten. Immerzu am Erschaffen und Erschaffen. Am zehnten Tag wurde ihm die ganze Sache allmählich langweilig, und so dachte Er bei sich, Er könnte sich ein kleines Späßchen machen… nur um ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen. Also nahm Er allen Hunden die Arschlöcher weg.« Albert zupfte mit Daumen und Zeigefinger an der Luft. »Dann warf Er sie alle in einen großen Sack und schüttelte ihn gehörig durch.« Albert schüttelte seinen imaginären Sack. »Oh, Gott lachte sich halb tot, als Er das tat – Er fand, das war ein prächtiger Scherz. Also, nachdem Er alle Arschlöcher durcheinander geschüttelt hatte, setzte Er sie den Hunden wieder hinten dran. Und seither, mein Junge, beschnüffeln die Hunde gegenseitig ihre Arschlöcher, wenn sie sich begegnen, weil sie hoffen, dass sie irgendwann ihr eigenes wiederfinden…«

Albert sah Jack stirnrunzelnd an, dann schlug er ihm aufs Bein und begann gleichzeitig zu keuchen, zu husten und zu lachen.

»Ha! Kapiert, Bursche? Von mir kannst du alles lernen, was du über Tiere wissen musst, glaub mir! Ha ha!«

Albert humpelte fort, um den Pferch zu öffnen. Der berittene Treiber pfiff, der schwarze Hund vergaß, weiter nach seinem Hinterteil zu suchen, und kreiste die Färsen ein, um sie durch das Tor zu treiben. Jack schaute zu, wie Mensch und Tier in wortlosem Einklang aus dem Ort abzogen in jenes Land, nach dem sich Jack so sehnte. Dann drehte er sich um, denn der Wind trug die Stimme seiner Tante Margaret heran, die auf dem mit Vorräten beladenen Karren saß, bereit für die Heimfahrt nach Codrington. Jack stieg vom Zaun und rannte zu seiner Tante, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und das Gesicht in grimmige Falten gelegt.

»Suchen nach ihrem Arschloch, leck mich doch«, brummelte er in dem breitesten irischen Akzent, den er zustande brachte.