Kapitel 33

Als Rosie am Morgen aus ihrem befremdlichen Traum erwachte, sehnte sie sich mehr denn je nach Jims Wärme. Sie setzte sich in ihrem Bett im Quartier auf und versuchte, die düsteren Vorahnungen abzuschütteln.

Wenig später ließ sich Rosie drüben im Haupthaus vor dem Computer nieder, breitete ihre Notizen aus und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen, um die Geschichte von Jack Gleeson und den Anfängen der Kelpie-Rasse am Ufer des Glenelg River aufzuzeichnen. Ein mitternächtlicher Tausch von einem Pferd gegen einen Welpen in einer nebligen Nacht. Die Leidenschaft eines Mannes, die immer weiter wuchs, je kräftiger sich die Flüsse der Abstammungslinien vereinten oder teilten, bis sich eine ganze Flut exzellenter Hütehunde aus dem Western District von Victoria in Richtung Norden ergoss: in die Riverina von New South Wales und weit darüber hinaus.

Das Läuten des Telefons riss Rosie aus ihren Gedanken.

Wenig später erschien Margarets Kopf in der offenen Tür. »Ich wollte dich eigentlich nicht stören, aber da ist eine Nachricht für dich. Von Billy O’Rourke. Er kommt dich heute Vormittag besuchen. «

Zum ersten Mal seit Monaten klang Margaret angespannt. Sie schaute kurz auf die Uhr. »Er wird gleich da sein. Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es mir lieb, wenn du ihn draußen erwartest. «


Draußen im Gehege zeigte Rosie Billy, wie jeder einzelne Hund arbeitete, indem sie ihn eine kleine Herde frisch abgestillter Lämmer treiben ließ. Sie wurde nie ungeduldig oder laut. Die Hunde warteten still, aber leicht zitternd und höchst gespannt an ihren kurzen Ketten, bis sie an der Reihe waren.

»Jim hat dich gut ausgebildet«, sagte Billy.

»Du meinst wohl, er hat die Hunde gut ausgebildet.«

»Nein. Er hat dich gut ausgebildet. Es kommt vor allem auf die Führung an. Diese Tiere haben von Natur aus einen ausgeprägten Hütehundinstinkt. Aber offenbar hast du auch einen natürlichen Hirteninstinkt, sonst hättest du es auch unter Jims Anleitung nicht so schnell so weit gebracht. Manche Menschen brauchen Jahre, um so viel zu lernen, und andere bringen es nie so weit.«

Rosie spürte, wie ihr bei Billys Lob warm ums Herz wurde, und hob die Hand. »Sitz«, befahl sie der grau-braunen Hündin namens Jess.

»Die hier kannst du Dubbo überlassen«, meinte Billy und nickte zu Jess hin. »Sie zeigt einen ausgeprägten Instinkt für die Arbeit auf der Weide. Binde sie fest, dann arbeiten wir mit den anderen vier weiter. Ich zeige dir, was sie für die Auktion können müssen. «

»Sollte ich mit den Gutmütigeren anfangen?« Rosie deutete auf den großen grau-braunen Rüden. »Chester ist arrogant wie sonst noch was und kann eine echte Plage sein.«

»Du brauchst einen Hund wie ihn, wenn du was lernen willst«, widersprach Billy. »Fang mit ihm an, solange du noch Kraft hast. Danach sind die übrigen Welpen das reinste Kinderspiel.«

Rosie hob ein Stück Plastikrohr auf, ließ Chester die Herde einkreisen und schwor sich gleichzeitig, ihm Paroli zu bieten, doch schon bald rannte er mitten in die Herde hinein und trieb sie auseinander.

»Bring ihn zur Ruhe«, hörte sie Billys Mahnung.

Rosie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hörte im Geist Jims Stimme: »Zeig Format, Mädchen!« Im nächsten Moment hatte sie sich vor Chester aufgebaut und verstellte ihm mit ihrem Körper den Weg. Sie wälzte ihn auf den Rücken, sodass er vor ihr im Staub lag.

»Ich lasse mir das nicht bieten, Chester«, knurrte sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen an, wobei sie ihn mit festem Klammergriff am Fang festhielt. »Du hörst jetzt auf mich.«

Er klopfte demütig mit dem Schwanz auf den Boden und wich ihrem Blick aus, als würde er sich vor ihr schämen. Als sie ihn wieder freigab, schüttelte er sich, als wollte er den Respekt vor ihr wieder an den richtigen Fleck rücken. Von da an lenkte er die Schafe ruhig und duckte sich, als sie ihn mit einem Pfiff innehalten ließ, sofort flach auf den Boden.

»Schon viel besser!«, lobte Billy vom Rand des Pferches her. »Und jetzt mach das Gatter auf, dann zeige ich dir, wie du ihm beibringst, auf Kommando zurückzusetzen und anzuschlagen.«

Als sie später mit Clyde arbeitete, dem gedrungenen rotbraunen Rüden, sprang er die Schafe von hinten an. Billy hatte ihr schon bei Chester gezeigt, wie sie die Leine einsetzen musste, um den Hund zu sich zu holen.

»Schieb, schieb, schieb«, befahl sie nochmals, und Clyde raste von neuem die Rampe hoch, die großen Pfoten auf der Schafwolle, während er gleichzeitig tief und kehlig bellte.

Als Nächstes arbeitete Rosie mit Clydes Bruder Coil, der eher schüchtern und ruhig war.

»Lass ihn erst einmal das erste Schaf hochschieben, und hol ihn dann sofort wieder herunter, damit er das Gefühl hat, einen Fluchtweg zu haben. Du musst darauf achten, dass er sich immer sicher fühlt«, erklärte Billy.

Bald schob auch Coil die Schafe von hinten auf die Rampe und bellte auf Kommando.

Als Letzte kam Sally, die Kleinste und Schwächste aus dem Wurf, in den Pferch. Sie war eine lebhafte kleine schwarz-braune Hündin mit wachen Knopfaugen. Flach zu Rosies Füßen liegend, wartete sie auf ihr Kommando. Rosie pfiff und ließ sie die Schafe von links einkreisen. Sally lief dicht an den Schafen vorbei und drängte sie so auf die Rampe. Minuten später hatten Billy und Rosie ihr beigebracht, die Schafe einzeln auf die Rampe zu schieben.

»An ihrem Bellen müssen wir noch arbeiten. Das fällt ihr schwer. Aber ich glaube, für heute hat sie genug. Mehr als eine kurze, scharfe Lektion können sie nicht aufnehmen.«

Billy nahm Sally hoch, kraulte sie hinter den Ohren und lud sie dann auf Rosies Armen ab.

»Du kannst wirklich stolz auf dich sein«, lobte Billy. »Du hast hervorragende Arbeit geleistet. Sie sind manchmal noch ein bisschen ungestüm, aber daran werden wir arbeiten. Wir haben noch alle Zeit der Welt. Und vergiss nicht, ich helfe dir, wenn du willst. Du kannst mich jederzeit anrufen.«

Rosie labte sich an seinem Lob, hob Sallys Schnauze an ihr Gesicht und atmete tief durch. Sie hatte festgestellt, dass Hundepfoten rochen wie ein frisch gemähter Rasen an einem Sommertag. Erleichtert seufzte sie auf.

»Gott sei Dank bist du der Meinung, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Ich dachte schon, ich hätte sie vernachlässigt.«

»Du hast sie gut behandelt«, versicherte ihr Billy. »Aber man muss ständig mit ihnen arbeiten. Jetzt lass ich dich lieber in Frieden. Margaret hat erzählt, du hättest an deinen Artikeln gesessen, als ich dich unterbrochen habe.«

»Ach, ist schon okay. Die Informationen habe ich inzwischen zusammen. Jetzt muss ich sie nur noch ausformulieren. Das größte Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich die Serie beenden soll. Bislang habe ich noch kein Buch gefunden, in dem steht, wie es mit Jack und Mary weiterging.«

»Grab nur weiter, dann wirst du schon fündig werden«, sagte Billy.


Während die Sonne das satte Grün des Frühlings auszudörren begann und die Tage wärmer wurden, verbrachte Rosie die meisten Abende damit, die Serie über Jack Gleeson zu verfassen, und die meisten Tage draußen auf den Weiden von Highgrove. Evan war inzwischen bei ihnen eingezogen, und die Treibhäuser standen bereits. Jetzt ging es darum, die Bewässerungsleitungen zu verlegen. Wenn Rosie nicht auf der Station arbeitete, dann arbeitete sie mit ihren Kelpies. Billy hatte ihr einen kleinen Übungsparcours gebaut, und dort hatte sie gelernt, wie wichtig es war, eindeutige Kommandos zu geben und die Stimme wie auch die Körpersprache richtig einzusetzen. All diese Techniken hatte ihr Jim gezeigt, ehe er gegangen war. Billy rief öfter abends an, und gemeinsam arbeiteten sie mit Sassys Fohlen. Er zeigte Rosie, dass die Ausbildung eines Pferdes ähnlich verlief wie bei einem Hund. Es ging immer nur um Anforderung und Belohnung. Ruhige, stille, sanfte Viehtreiberfähigkeiten, die sie tagein, tagaus einübte.

Schließlich fragte sogar Julian, der oft neben ihr auf den Weiden und in den Pferchen arbeitete, wie er seinen Hund zu mehr Leistung anspornen konnte.

»Komm schon, Schwesterchen«, drängte er. »Verrat mir deine Berufsgeheimnisse.«

»Das sind keine Geheimnisse. Zuerst einmal solltest du dir einen anständigen Hund zulegen«, neckte sie ihn, weil sein schlappohriger, zotteliger Collie wieder mal hechelnd im Schatten lag.

Sie war überglücklich, dass Julian heimgekehrt war. Er und Evan hatten ihr geholfen, einen Investitionsplan zu erstellen. Sie wollten die Hammelställe in einen Betrieb umwandeln, der superfeine Wolle aus Stallhaltung produzierte. Wenn die alten Silos während einer guten Saison mit Getreide aufgefüllt werden konnten, dann läge die Gewinnspanne bei einer arbeitsintensiven Wollproduktion weit über jener der traditionellen Weidewirtschaft auf Highgrove.

Tagsüber schien Rosie von unerschöpflicher Energie getragen, doch dafür fiel sie jede Nacht völlig erschöpft in ihr Bett im Quartier. In manchen Nächten träumte sie von Jim, aber sein Gesicht verschmolz immer mehr mit dem geisterhaften Antlitz Jack Gleesons, weshalb Rosie nach diesen Träumen immer mit einem Gefühl der Leere und völlig verwirrt aufwachte, so als hätte es Jim nie gegeben. Um ihr Gesellschaft zu leisten und Trost zu spenden, schlief Bones auf der Matte neben ihrem Bett. Im Lauf der Zeit gewann sie das leise Schnarchen lieb, und wenn sie sich besonders allein fühlte, fasste sie nach unten, um seine seidigen Ohren zu streicheln. Bisweilen kam es Rosie so vor, als wäre der alte Hund der einzige Beweis dafür, dass Jim je da gewesen war.

In einer heißen Dezembernacht hatte Rosie eben einen weiteren Artikel über Jack zu Papier gebracht und wollte gerade das Licht ausschalten, als jemand an ihre Tür klopfte.

»Bist du noch wach, Schwesterherz?«

Julian kam in den Raum geschlendert. Rosie wusste, dass er gekommen war, um ihr Trost zu spenden. Morgen jährte sich Sams Tod zum ersten Mal.

»Alles okay soweit?«, fragte er.

»Schon. Ehrlich«, bekräftigte sie und legte ihre Papiere beiseite. »Irgendwie kommt es mir so vor, als wäre das alles in einem anderen Leben passiert.«

Julian blieb am Fuß des Bettes stehen.

»Vermisst du ihn?«

»Ich denke kaum noch an ihn. Obwohl ich mich das kaum zu sagen traue.«

»Schon okay. Sam war nie der Richtige für dich. Wahrscheinlich hättest du dich nach einem Jahr wieder scheiden lassen.«

»Oder seine Schafscherer gepoppt«, meinte sie ironisch.

Julian schmunzelte kurz.

»Und vermisst du Jim?«, fragte er.

»Jim?« Rosie biss sich auf die Lippe und nickte. »Jede Minute.«

»Was ist mit Dad? Vermisst du ihn auch?«

Rosie zog die Stirn in Falten und sah Julian an. Dann lachten beide prustend los.

»Manchmal«, meinte sie liebevoll. »Manchmal vermisse ich den alten Mistkerl.«

»Dann sollten wir nach Weihnachten runterfahren und ihn besuchen«, schlug Julian vor.

Rosie nickte.

»Ja. Das wäre schön. Das sollten wir wirklich.«

»Also, dann bis morgen, Schwesterherz.«

Gerade als Julian die Tür zuziehen wollte, zog er einen Brief aus seiner hinteren Hosentasche und ließ ihn auf ihr Bett segeln. »Hab’ ganz vergessen, dass du Post bekommen hast.«

»Danke«, sagte Rosie und schnappte sich den Brief. Ihr Herz machte einen Satz, als sie die fremde Handschrift sah, mit der die Adresse gekrakelt war. Kam er von Jim? Hatte er endlich geschrieben? Sie konnte sich kaum bremsen, ihn aufzureißen.

»Nacht dann«, sagte sie zu ihrem Bruder.

»Nacht«, und er schloss die Tür. Rosie hatte den Brief eben aufgerissen, als Julian noch einmal den Kopf ins Zimmer streckte. »Stinkst du so, oder ist das der Hund? Das ist ja der Hammer!«

»Der Hund!«, beteuerte Rosie. »Wenn Lazy Bones in irgendwas fleißig ist, dann im Furzen.«

»Übel«, konstatierte Julian, rümpfte die Nase und zog die Tür wieder zu.

Rosies Herz wurde wieder schwer, als sie aus dem Umschlag einen Brief zog, der um ein Heft mit einem Kelpie auf dem Umschlag gefaltet war.

Der Brief kam keineswegs von Jim, sondern von einem hiesigen Amateurhistoriker – einem prähistorischen Historiker obendrein, der zittrigen Handschrift nach zu urteilen, dachte Rosie. Er bot ihr ein paar zusätzliche Informationen für ihre Kelpie-Artikel an. Sie merkte, wie sie vor Enttäuschung kraftlos wurde. Dann begann sie, das Heft zu lesen, und ihre Enttäuschung verwandelte sich in tiefe Traurigkeit, als sie erfuhr, auf welch tragische Weise Jack Gleesons Leben endete.