Kapitel 21

Während Rosie, gefolgt von ihren Hunden, in dem Pick-up den unteren Weiden entgegenholperte, gelobte sie Jim und ihrer Herde, ihr Bestes zu geben.

An der Weide am Fluss kreisten Diesel und Gibbo die Herde in vorbildlichem Einklang ein. Jim hatte ihr beigebracht, die Hunde beim Herantreiben der Herde ihrem natürlichen Instinkt folgen zu lassen. In dem sicheren Wissen, dass die Hunde die Schafe zu ihr treiben würden, fuhr sie langsam auf das Tor zu.

Nachdem sie die Gatter der Weiden bei der Homestead geschlossen hatte, fuhr Rosie so schnell über den Feldweg, dass der Schlamm von den dicken Reifen des Pick-ups bis auf die Türen spritzte. Die Scheibenwischer verschmierten braune Tröpfchen auf der Windschutzscheibe, und Rosie beugte sich vor, um überhaupt etwas zu erkennen, während der Pick-up über den Weg hüpfte, holperte und sprang. Schließlich sah sie Jim mit den beiden Pferden am Gatter stehen. Sie stieg aus und rannte zu ihm hin.


Als sie die Pferde am Flussufer zügelten, holte Rosie erst einmal tief Luft. Der Fluss sah bedrohlich aus. Weißer, braun gesprenkelter Schaum sammelte sich in wirbelnden Strudeln und setzte sich in dem am Ufer verkeilten Gewirr aus Borkenstücken, Geäst und Laub fest. In der Flussmitte schoss das Wasser vorwärts, als wollte es überkochen. Weiter flussabwärts hatten sich über den Felsen an den flacheren Stellen Stromschnellen gebildet, über denen die weiße Gischt in die Luft schoss. Rosie rutschte erschrocken in ihrem Sattel zurück, als sie das sah. Dampf stieg von den warmen Pferderücken auf, während Jim und Rosie die Lage in Augenschein nahmen.

»Wo sollen wir deiner Meinung nach rüber?«, brüllte Rosie gegen den Regen an.

Sie war schon öfter zum Picknicken an der Furt gewesen, immer hatte der Fluss gleißend und ruhig dagelegen; und sie hatte ihren Körper in der Sommerhitze in die erfrischende Kühle getaucht. Aber die Aussicht, den Fluss während einer Überschwemmung zu durchqueren, machte ihr Angst. Am anderen Ufer standen die Kühe hilflos auf einigen flachen Anhöhen in den überschwemmten Weiden und muhten aufgeregt nach ihren Kälbern. Die Kälber tollten in den Untiefen des steigenden Wassers herum, hoben die kleinen Schwänze und schlugen verspielt mit den Hinterläufen aus. Sie schienen nicht zu begreifen, in welcher Gefahr sie schwebten. Die Kühe trotteten ihnen eindringlich muhend hinterher.

»Hier bei der Furt müsste es noch gehen«, sagte Jim, dessen Stute bereits über die glitschigen Ufersteine und den Schlamm tänzelte. »Die Pferde schaffen das schon. Ich habe in Kimberley schon schlimmere Flüsse durchquert.« Er streckte die vor Kälte gerötete Hand aus und strich Rosie übers Gesicht. »Verlass dich auf Oakwood. Er kann dich ans andere Ufer tragen.«

»Und die Hunde?«, fragte sie.

»Für die ist die Strömung zu stark. Wir müssen sie hochnehmen.«

Er befahl seine Hunde mit einem Pfiff zu sich. »Rauf«, befahl er, und sofort sprangen Thommo und Daisy hoch, um sich vor und hinter seinem Sattel niederzulassen. Seine Stute legte die Ohren an, als die Hunde auf ihrem Rücken landeten, aber sie blieb ruhig stehen.

»Probier aus, ob deine Hunde das auch machen«, sagte er.

Rosie schlug sich ans Bein und sagte: »Rauf.« Diesel und Gibbo reagierten nicht.

»Du musst es sagen, als würdest du es ernst meinen, Mädchen! «, sagte Jim. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Rauf!«, befahl sie mit einer Stimme, die gar nicht wie ihre klang. Diesel sprang augenblicklich auf und legte sich quer vor den Sattel. Sam hatte ihm das ganz eindeutig beigebracht. Gibbo schreckte winselnd zurück. Er setzte widerstrebend die Pfoten auf Rosies Fuß im Steigbügel und klemmte den Schwanz zwischen die Hinterläufe. Sie beugte sich nach unten, wobei sich ein Wasserschwall aus ihrer Hutkrempe auf den Boden ergoss, zog den schlaksigen Hund nach oben und drapierte ihn über Oakwoods Rumpf. Oakwood scheute kurz, kam aber sofort wieder zur Ruhe.

»In Ordnung?«, fragte Jim.

Rosie nickte und schluckte die Angst tief hinunter in die Magengrube. Oakwood stapfte ungerührt Jims Stute hinterher in den Fluss, als wäre dies der Ausritt eines Ponyclubs. Dann schossen seine Ohren beunruhigt vor, und er schnaubte, als er die reißende Strömung an seinen Beinen spürte. Vor ihnen rutschten Äste über die Felsen, und Jims Stute scheute kurz zurück, aber Jim redete beruhigend auf sie ein und drängte sie voran, wobei er ihr jedoch bei jedem Schritt Zeit ließ, einen festen Stand zu finden. Als sie in tieferes Wasser kamen, zerrte die Strömung mit erschreckender Gewalt an ihnen. Die Pferde schnaubten vor Anstrengung und versuchten, auf den abgeschliffenen, unsichtbar unter den schäumenden Stromschnellen liegenden Flusskieseln nicht aus dem Tritt zu kommen. Das Wasser stieg bis an Oakwoods Brust, und Rosie beobachtete, wie der Schweif von Jims Stute von der Strömung zur Seite gerissen wurde. Zweige und Blätter verfingen sich darin. In Rosies Stiefel schwappte eiskaltes Wasser, das an ihren Jeansbeinen nach oben stieg, aber gerade als sie glaubte, sie würden mitgerissen, wurde das Wasser wieder flacher, und die Pferde kamen besser voran.

Eher vor Angst als vor Kälte schlotternd und mit einem Seufzer der Erleichterung begann sich Rosie zu entspannen. Aber genau in diesem Moment geriet Oakwood mit den Vorderfüßen in ein Loch und kam ins Straucheln. Seine Schulter kippte unter Rosie weg, und sein Maul tauchte in das schlammige Wasser. Hilflos schlugen seine Hufe aus. Dann wurde sein Leib zur Seite gedrückt, und er stürzte. Rosie ging mit unter. Die Hunde wurden von Oakwoods Rücken gerissen, und aus dem Augenwinkel sah Rosie ihre winzigen Köpfe davontreiben. Im selben Augenblick spürte sie, wie ihr das Wasser die Brust einengte. Kälte und Angst schnürten ihr so die Kehle zu, dass sie keine Luft mehr bekam. Sobald sie in das wütende Wasser eintauchte, merkte sie, wie ihre Beine nach oben trieben und aus dem Sattel gehoben wurden. Die Wellen versuchten, ihre Füße aus den Steigbügeln zu zerren, und begannen, ihren Körper flussabwärts zu ziehen.

»Jim!«, schrie sie. Sie und Oakwood waren von der Furt weggetrieben worden und befanden sich jetzt im tiefen, wirbelnden Wasser, wo sie in rasendem Tempo flussabwärts geschwemmt wurden. Sie sah, wie er sich umdrehte, und das Entsetzen auf seinem schlagartig kreidebleichen Gesicht war das Bild, das ihr vor Augen stand, als sie von der eisigen Strömung unter Wasser gezogen wurde. Ihre Finger grabschten fieberhaft nach Oakwoods Mähne oder Sattel. Egal was. Was sie nur zu fassen bekam. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Oakwoods Muskeln waren steinhart vor Angst und Anstrengung, aber er kämpfte eisern gegen die Strömung an, um ans Ufer zu gelangen.

Als Rosie an Oakwood und seine Zügel geklammert wieder an die Oberfläche kam, sah sie, wie panisch er mit den Augen rollte. Er atmete und schnaubte so schwer, dass die Nüstern abwechselnd weit aufgebläht und rot wie die eines Drachens waren, um im nächsten Moment zu erschlaffen und flach anzuliegen, während gleichzeitig seine großen Hufe durchs Wasser stampften. Rosie spürte den Zorn des Flusses. Er wollte ihr die Stiefel von den Füßen saugen. Der Mantel wurde ihr vom Leib gezogen wie einem Kaninchen das Fell. Immer und immer wieder wurden sie und Oakwood unter die Wasseroberfläche gezogen und herumgewirbelt. Äste und Stämme trafen sie. Ertrunkene Schafe schwammen mit aufgeblähten Leibern, angeschwollenen, blutleeren Zungen und glasigen Augen an ihnen vorbei wie Zombies oder prallten an ihnen ab.

Unter ihr, im schlammigen Grund des Flusses, meinte Rosie die Finger der Toten zu spüren, die nach ihren Knöcheln schnappten und sie hinabzuziehen versuchten. Einen Moment war sie in der dunklen, tosenden Unterwelt gefangen, im nächsten blickte sie wieder in den grauen Himmel und sah das Flussufer vorbeiziehen. Sie konnte spüren, dass Oakwood den Kampf verloren geben wollte. Er wurde müde. Auch ihre Muskeln schmerzten vor Erschöpfung. Die Panik in ihrem Kopf, dieser akute Überlebensinstinkt, wurde spürbar schwächer. Rosie begann, sich zu entspannen. Und auf eine ganz ruhige, eigenartig losgelöste Weise begriff sie, dass sie und Oakwood mitsamt den beiden Hunden ertrinken würden.


Manchmal wurden sie in die Flussmitte gezogen, dann wieder an den Rand getrieben. Äste zerkratzten Rosie das Gesicht, und ihre Haut wurde an den Felsen unter der Wasseroberfläche aufgeschürft. Als sie um eine scharfe Biegung trieben, schwemmte sie der Fluss unter ein paar am Ufer stehende Weiden. Die Äste hingen wie Tentakel ins Wasser und bogen sich in der Strömung. Rosie streckte die Hand nach oben und bekam eine Hand voll schlanker Weidenzweige zu fassen. Sie spürte, wie die Blätter unter ihren Fingern vom Holz gezogen wurden, weil der Fluss so heftig an ihrem Körper riss. Verzweifelt packte sie im Vorbeiziehen noch mehr Weidenzweige und schaffte es sich festzuhalten, halb in der Luft baumelnd, während die Strömung sie unten wegzudrücken versuchte. Mit der anderen Hand hatte sie sich an Oakwoods Zügeln festgekrallt. Er strampelte wie wild mit den Beinen, um in ihrer Nähe zu bleiben, aber er schaffte es nicht. Rosie begriff, dass sie ihn loslassen musste. Sie schaute ihm nach, während er mit rollenden Augen schnell und flach atmend von ihr weggetrieben wurde. Sie war wie betäubt vor Trauer. Sie hatte ein wunderschönes Pferd zu Tode geritten. Die Hunde hatte sie auch ertränkt. Ihre Schultern schmerzten, aber trotzdem hielt sie sich mit aller Gewalt an ihrem rettenden Baum fest. Sie versuchte, sich wie ein Affe zu einem kräftigeren Ast weiterzuschwingen, aber die Strömung hielt sie in ihrem eisernen Griff. Sie hing fest. Schicksalsergeben sah sie ein letztes Mal nach Oakwood.

Zu ihrer Überraschung war er noch nicht außer Sichtweite getrieben worden, sondern schwamm immer noch wenige hundert Meter flussabwärts im Wasser. Die Strömung hatte ihn in eine Art kleine Bucht getragen. Schon hatte Oakwood die Ohren aufgestellt und begann im Herzen des ruhigen Wassers zu schwimmen. Er kam tatsächlich voran. Jetzt war er aus der Strömung heraus und schwamm dem Ufer entgegen. Rosie sah, wie er sich aus dem Wasser zog. Seine Hufe glitten im Schlamm aus, aber bald stand er auf festem Boden und schaute zu ihr her. Er senkte den Kopf bis dicht über den Boden und schüttelte, immer noch schwer schnaubend, das Wasser aus seinem Fell. Der Sattel hing lose unter seinem Bauch. Die Satteldecke hatte ihm der Fluss vom Leib gerissen und mitgenommen. Das Zaumzeug saß schief auf seinem einen Ohr, und die abgerissenen Zügel baumelten unter seinem Maul.

Rosie begriff, dass sie nicht ewig in den Weiden hängen bleiben konnte. Sie musste darauf setzen, dass die Strömung auch sie in diese kleine Bucht treiben würde. Sollte das Schicksal entscheiden. Ehe sie ihre steif gefrorenen Finger von den Weidenzweigen löste, schloss sie die Lider und rief sich Jim vor Augen. Wenn sie schon sterben sollte, wollte sie dabei wenigstens sein Gesicht vor Augen haben. Seine sanften, gütigen Augen und seine vollen, so genial küssbaren Lippen. Die Art, wie er sie mit einem Lächeln aufmuntern oder beschwichtigen und beruhigen konnte. Sie fühlte sich so unendlich bereichert durch die Begegnung mit ihm, diesem Viehtreiber Jim Mahony. Dem ersten Mann, der an ihre Seele gerührt hatte. Dann zog der Fluss sie fort. Sie streckte die Arme nach vorn und ließ sich von Stämmen und Ästen rammen. Halb auf den Rücken gedreht, schaute sie noch einmal zu den tief am Himmel hängenden grauen Wolken auf. Dann merkte sie, wie sie ganz still wurde und im nächsten Moment gemeinsam mit dem übrigen Treibgut, das der Fluss angesammelt hatte, ausgespien wurde. Und sie begann mit letzter Kraft zu schwimmen.