Wollongough Station, um 1879

»Ach, du bist das Abbild deiner Mutter«, sagte Jack und hob die feste, kleine, schwarz-braune Hündin hoch. Einen Augenblick fühlte sich Jack, auf dem roten Boden der Riverina kauernd, in jene gespenstisch neblige Nacht am Ufer des Glenelg River zurückversetzt, als er Kelpie zum ersten Mal in seine Jacke gepackt hatte.

»Du bist schlicht und einfach die junge Kelpie«, sagte er und kraulte dabei liebevoll das rosa Bäuchlein. Jack konnte der Versuchung, die kleine Hündin zu behalten, kaum widerstehen, aber trotzdem war er hierher gekommen, um sie auf der Wollongough Station am Humbug Creek abzugeben. Schon kam Jacks Schwager Charles King mit einem offenen Lächeln auf ihn zu.

»Du wirst es nicht bereuen, dass du sie mir gibst, Jack«, versprach er.

Jack merkte, wie die Trauer sein Herz umklammerte, als er die kleine Hündin hergab. Es war genau wie damals, als er Cooleys Leine an George Robertson-Patterson übergeben hatte, aber auch diesmal wusste er, dass es das Beste war. Charles King war ein Mann von Stand und verfügte über die nötigen Mittel, um die junge Kelpie bei den größten Hundevorführungen im Land antreten zu lassen.

Jack musste daran denken, wie Launcelot Ryan seinen besten Whisky geköpft hatte, als vereinbart worden war, dass seine Tochter Kate in die Familie der Kings einheiraten würde. Jetzt lebte sie in Wohlstand und Luxus – im Unterschied zu ihrer Schwester Mary. Jack schaute stirnrunzelnd auf die abgestoßenen Spitzen seiner Stiefel. Manchmal suchte er, wenn er erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrte und Mary schlafend im Sessel vorfand, in ihrem hübschen, schlafenden Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass ihre Leidenschaft für ihn erkaltet war wie die Glut in der Asche. Sie war ein kräftiges, geduldiges, fröhliches Mädel, aber die ständige Hausarbeit und das lange Warten, bis er von den Weiden heimkehrte, zehrten an ihr. Mit dem wenigen Geld, das ihnen blieb, musste sie ihn und sich ernähren und alle Kleider sauber und geflickt halten. Sie war zu stolz, um die Hilfe anzunehmen, die ihre Mutter und ihre Schwestern ihr anboten.

Jack betrachtete den gut gekleideten Mann, der vor ihm stand. Wenn er Charles King die junge Kelpie überließ, würde sich der Ruf von Jacks Kelpies im ganzen Land verbreiten. Im Gegensatz zu King, der von einer Hundevorführung zur anderen reiste, zog es Jack vor, seine Hunde wirklich arbeiten zu lassen, und schickte sie auf die Weiten der Yellow Box Plans hinaus, um ausgerissene Nachzügler und Streuner einzufangen. Er kraulte die junge Kelpie ein letztes Mal hinter dem Ohr.

»Sorg dafür, dass du sie gut ausbildest. Und hoffen wir, dass sie dir in Forbes Ehre macht«, sagte Jack.



Margaret schob Duncan und Rosie zwei Tassen mit dampfendem Tee hin. Als Duncan aufsah, schenkte ihm Margaret ein dankbares Lächeln und tätschelte ihm die Schulter. Rosie begann, mit der sonoren Stimme eines Nachrichtensprechers aus früheren Zeiten, einen Zeitungsartikel vorzulesen:

»Die Weidewirtschafts- und Landwirtschaftsschau in Forbes«, tönte sie wichtigtuerisch. »Bei den heutigen Vorführungen der Hütehunde gab es sieben Anmeldungen, unter denen auch einige der besten Hunde im ganzen Land zu finden waren. Nach einer Reihe von strengen Prüfungen teilten die Richter das Preisgeld zwischen Mr Charles Kings Kelpie und Mr C.F. Gibsons Tweed auf. Letzterer war eigens für diese Vorführung aus Tasmanien hergebracht worden. Beide Hunde leisteten großartige Arbeit, und es ist wahrscheinlich, dass das Preisgeld von 20 Guineen für den ersten Platz verdoppelt wird, damit beide Besitzer den gleichen Betrag erhalten. Die Schafzüchter kamen aus einem Umkreis von 150 Meilen, um die Vorführungen zu beobachten, und versicherten danach, es sei der beste Wettstreit gewesen, den sie je gesehen hätten. Die Hunde arbeiteten jeweils einmal mit einem und mit drei Schafen, und ungeachtet des ständigen Regens verfolgten mehrere hundert Zuschauer den Wettstreit über sechs Stunden hinweg, ohne dass ihr Interesse erlahmt wäre.«

»Das ist immens phänomenal«, äffte Duncan sie nach.

Rosie sah von ihrem Artikel auf.

»Es war dieser Trial, durch den sich hauptsächlich herumsprach, wie phantastisch Jacks Hunde waren. Die Nachfrage nach Welpen von Kelpie oder der jungen Kelpie explodierte. Kings Kelpie wurde anschließend noch mehrmals von dem alten Moss gedeckt. Aus dieser Kreuzung stammen einige der berühmtesten Hunde wie Gibsons Chester und Grand Flaneur.«

Margaret schien ihr nicht mehr zuzuhören, aber das merkte Rosie gar nicht. Sie klang genauso aufgeregt wie Mr Seymour, wenn er über Hunde sprach.

»Außerdem gab es noch Kings Red Jessie und MacPhersons Robin. Es waren die besten Vorführ- und Hütehunde weit und breit, und sie gewannen praktisch jeden Trial.«

Duncan nickte ihr aufmunternd zu.

»Soweit ich recherchieren konnte«, fuhr Rosie fort, »gab es Ende der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zwei Welpen namens Barb und Coil, die aus der Abstammungslinie der jungen Kelpie stammen. Hier steht: ›Barb war ein eng arbeitender schwarzer Hund, der besonders gute Leistungen beim Leiten im Gehege zeigte, und Coil war im Besitz der Quinns.‹ Er erreichte in Sydney in jedem Durchgang die vollen hundert Punkte. Und das Finale bestritt er mit einem gebrochenen und geschienten Bein. Mr Seymour gerät jedes Mal in Verzückung, wenn er von ihm erzählt. Er nennt ihn den ›unsterblichen Coil‹. Das wären sie also… aus den Abkömmlingen dieser Linie entstammen die Kelpies, wie wir sie heute kennen.«

»Wo wir gerade von Mr Seymour sprechen – du solltest ihm mal wieder einen Besuch abstatten«, bemerkte Duncan.

»Stimmt«, sagte Margaret. »Als ich ihm das letzte Mal sein Essen brachte, hat er erwähnt, dass er dich sehen wollte.«

Rosie schauderte bei dem Gedanken, in Mr Seymours Haus zurückzukehren, wo so viele Erinnerungen an Jim warteten.

»Wieso will er mich sehen?«

»Ich glaube, er hat etwas für dich«, war alles, was Duncan verriet.

Rosie versenkte sich wieder in die Geschichtsbücher und tat so, als würde sie darin lesen. Seit Jim weg war, hatte er genau zweimal angerufen. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sie mitten in der Nacht vom Haus aus herübergerufen hatte. Der Boden unter ihren Füßen hatte sich eiskalt angefühlt, als sie den Hörer in die Hand genommen hatte.

»Hallo?«

Sie konnte im Hintergrund Gelächter und Lärmen hören, untermalt von Musik. Dann meldete sich eine Stimme. Es war Jim. Er lallte betrunken »Uptown Girl« in den Hörer.

»Wo steckst du?«, hatte sie gebrüllt.

»Ich liebe dich, Rosie Jones ohne-Shit-Bindestrich.«

Im nächsten Moment war die Leitung tot.

Als er das nächste Mal anrief, tat er es, um sich für den ersten Anruf zu entschuldigen. Es folgte ein Gespräch voller verlegener, schmerzlicher Pausen. Auch diesmal verriet er ihr nicht, wo er war. Nur dass er irgendwo »im Norden« arbeitete.

»Komm zurück«, flehte Rosie ihn an.

»Nein, Rosie. Das kann nicht funktionieren.«

Als sie auflegte, begann sie zu glauben, dass er Recht haben könnte, dass es vielleicht wirklich nicht funktionieren würde. Geschichte, ermahnte sie sich. Sie musste aufhören, an ihn zu denken.

Rosie nahm einen Schluck Tee und konzentrierte sich wieder auf die Bücher. Plötzlich platzte Julian durch die Tür mit einer uralten Akte in der Hand.

»Schaut mal, schaut mal!«, rief er. Er fegte Rosies Bücher und Papiere beiseite und knallte die Akte auf den Tisch.

»Was?«, fragten Margaret und Rosie im Chor.

»Dad hat angerufen und es mir erzählt«, sagte er. »Schaut mal!«

Rosie starrte auf die offiziell aussehenden Dokumente. Darin stand etwas von irgendwelchen Wasserrechten.

»Und?«, fragte Rosie.

»Das bedeutet, dass unsere Familie das Wasser vom Fluss zur Bewässerung nutzen darf. Es ist keine große Quote, sie reicht nicht, um Getreide anzubauen, darum haben Dad und Grandad sie nie genutzt, aber es ist sehr wohl genug Wasser für eine Baumschule! «

»Wirklich?«, fragte Rosie, die plötzlich begriff, was Julian da vorschlug.

»Aber ja! Ich habe schon mit Evan telefoniert. Er und seine Schwester erstellen gerade einen Geschäftsplan. Das könnte bedeuten, dass wir den Betrieb hierher verlegen und expandieren!«

»Aber ich dachte, du wolltest unbedingt in die Stadt zurück!«, sagte Margaret.

»Ich wollte unbedingt zu Evan zurück, nicht in die Stadt. Ich bin gern hier auf der Station. Und ich weiß, dass es Evan hier draußen gefallen würde. Sein Unternehmen kann dort, wo es jetzt liegt, nicht weiter wachsen, weil die Grundstückspreise zu hoch sind und aus einer ganzen Reihe anderer Gründe. Er sagt, er wäre bereit umzuziehen und mit Highgrove eine Partnerschaft bei der Baumaufzucht einzugehen. Falls ihr bereit wärt, uns aufzunehmen. Ich meine, nachdem wir uns zusammengesetzt und alles durchgerechnet haben.«

»Aber ja!«, riefen Rosie und Margaret im Chor.

»Natürlich wollen wir euch hier haben«, sagte Margaret mit Tränen in den Augen.

Rosie griff nach der verstaubten Akte und blätterte in den alten Dokumenten, während sie im Geist eine Reihe von Treibhäusern mit gesunden einheimischen Pflanzen entstehen sah. Plötzlich eröffnete sich eine ganz neue Zukunft für die Highgrove Station. Eine Zukunft, die Julian und Evan einschloss. Ihre Mum und Duncan. Und sie mit ihren Tieren.

Ohne Sam. Ohne Jim. Nur mit den Pferden, Hunden, Schafen und Kühen und fortan noch Bäumen.