Kapitel 26

Als Rosie wieder auf den Hof gefahren kam, nachdem sie den ganzen Vormittag nach den frisch markierten Lämmern gesehen hatte, hörte sie das laute Schrillen des Telefons schon von weitem. Ihre Mutter kam bereits mit einem Arm voll Spinat beladen aus dem Gemüsegarten gelaufen.

»Ich gehe schon dran«, rief Rosie ihr zu, trat sich die Stiefel von den Füßen und rannte ins Haus.

Sie riss den Hörer von der Gabel. »Hallo?«

»Rosie?«, hörte sie die Stimme ihres Bruders aus dem Apparat.

»Hi Julian! Wie geht’s denn so?«

»Bitte entschuldige, dass ich mich nicht schon früher gemeldet habe, um mich zu erkundigen, wie es bei euch läuft. Ich habe versucht, hier was auf die Beine zu stellen.«

»Ist schon okay. Jim und ich kommen zurecht.«

»Gut. Ich will euch bald besuchen kommen, damit ich euch bei allem, was so ansteht, zur Hand gehen kann«, kündigte er an.

»Super! Warum willst du kommen?«

»Ehrlich gesagt würde ich gern wissen, ob sich die Atmosphäre auf der Station geändert hat, seit Dad nicht mehr da ist.«

»Aber ja. Und wie. Wann kommst du?«

»Wäre morgen okay?«

»Du hast das Lämmermarkieren verpasst.«

»Verdammt!«

»Ich wusste, dass dich das treffen würde.«

»Kannst du Mum sagen, dass ich komme? Und dass ich jemanden mitbringe.«

»Aha!«, sang Rosie. »Jemand Besonderen, wie?«

»Bis morgen«, verabschiedete sich Julian mit einem Lächeln in der Stimme.

Als Rosie die Neuigkeiten ausrichtete, ließ Margaret den Spinat fallen und klatschte in die Hände.

»Und er bringt jemanden mit!«, jubilierte sie. »Dann muss ich sofort anfangen zu kochen!«

»Übertreib’s nicht«, wiegelte Rosie ab, weil sie an die Einkaufsorgien ihrer Mutter und an die langen Monate denken musste, bis wieder Geld auf dem Geschäftskonto eingehen würde. Sie hatte ihre Mutter in die Buchhaltung eingearbeitet, und bislang schien sich das auszuzahlen.

»Keine Angst«, sagte Margaret. »Ich werde nicht in die Stadt fahren. Es kommt alles aus unserem Garten.«

»Danke, Mum«, sagte Rosie erleichtert und wandte sich ab.

»Wie wär’s heute Abend mit einem netten Essen?«, rief ihr Margaret fast bettelnd nach. »Vielleicht möchte Jim ja mit uns essen?«

Rosie seufzte. Wie lange sollten sie noch Theater spielen? Ihre Mutter wusste genau, dass sie die Nächte bei Jim im Quartier verbrachte. Aber sie vermied es sorgsam, das anzusprechen. Und Rosies Vater war als Thema ebenso tabu. Rosie musste zugeben, dass sich ihre Mutter gebessert hatte, seit sie um ein Haar ihre Tochter verloren hätte, aber sie klammerte sich immer noch an die Hoffung, dass Gerald eines Tages heimkommen und das Leben so weitergehen würde, wie sie es für normal hielt. Und eine Beziehung zwischen ihrer Tochter und einem Viehtreiber hielt Margaret definitiv nicht für normal. Trotzdem sagte sie nichts dazu, abgesehen von einer gelegentlichen, spitzen Frage wie: »Ist er wirklich dein Typ?« oder: »Glaubst du, er bleibt länger hier?« Rosie fühlte sich hin und her gerissen zwischen ihrer so offenkundig einsamen Mutter und ihrem glühenden Bedürfnis, mit Jim zusammen zu sein.

»Tut mir Leid, Mum. Jim und ich sind todmüde. Wir haben ein paar mörderische Tage hinter uns. Wir machen uns drüben im Quartier ein paar Sandwiches. Also dann, bis morgen früh.«

»Oh«, war alles, was Margaret sagte.


Spät am nächsten Tag waren Margaret und Rosie gerade damit beschäftigt, ein Abrechnungsprogramm auf dem Computer zu installieren, als sie unerwartet einen Lastwagen den Hügel heraufbrummen hörten. Jim hörte ihn ebenfalls und kam gerade rechtzeitig aus der Werkstatt, um zu beobachten, wie das Gefährt durch das Gartentor hereinrollte und mit zischenden Bremsen hielt. Auf der Seitenwand stand in riesigen Buchstaben zu lesen: »Bäume fürs Leben… Wir geben der Umwelt das Land zurück.«

Rosie und Margaret traten von der Veranda auf die Zufahrt. Aus der Kabine purzelte Julian, braun gebrannt und schlank, in ausgebeulten Khakiklamotten und mit dünnen schwarzen Lederbändchen um Hals und Handgelenk. Seine Haare waren blond gesträhnt. Er hatte geschnürte Buschstiefel an und ein breites Grinsen aufgesetzt. Sein Collie hüpfte hinter ihm aus dem Laster, dann knallte er die Tür zu. Auf der Fahrerseite sprang ein kleiner, schwarzhaariger Mann aus dem Wagen. Er trug die gleiche khakifarbene Uniform wie Julian.

»Jesses!«, sagte Rosie zu Julian. »Du siehst aus wie Crocodile Dundee!« Dann warf sie sich in seine Arme. »Willkommen daheim! «

Margaret drückte ihn ebenfalls an ihre Brust. Julian deutete auf den Mann an seiner Seite.

»Das ist Evan, mein Partner. Evan, meine Schwester Rosie und meine Mum Margaret.«

»Schön, euch kennen zu lernen.« Evan reichte ihnen nacheinander die Hand, und neben seinen braunen Augen bildeten sich tiefe Lachfalten.

»Und du bist bestimmt Jim«, sagte Julian, trat vor und schüttelte Jims Hand. »Von dir habe ich schon eine Menge gehört.«

»Das glaub’ ich wohl«, bestätigte Jim.

»Ha!«, rief Evan aus. »Du hörst dich an wie Pater Dougall aus dieser Pfaffenserie!«

»Aber hoffentlich nicht ganz so blöd«, erwiderte Jim.

»Also, ich weiß nicht recht«, neckte ihn Rosie, und Jim versetzte ihr einen strafenden Schubs. »Was ist das für ein Lastwagen? «, fragte sie.

»Das ist Evans Unternehmen. Ich arbeite mit ihm zusammen an verschiedenen Aufforstungsprojekten.«

»Es ist eine halb private, halb öffentlich subventionierte Initiative«, erklärte Evan. »Wir schützen die innerstädtische Tierwelt, indem wir möglichst natürliche Lebensräume für sie anlegen.«

»Und wir dezimieren eingeschleppte Tierarten, wenn sie überhand nehmen.«

»Könnt ihr euch nicht auch um Jim kümmern? Er ist nicht hier geboren… also irgendwie auch eingeschleppt, oder Mum?«

Aber Margaret hatte ihnen gar nicht zugehört. Sie grübelte immer noch darüber nach, wie Julian seinen Freund vorgestellt hatte.

»Du hast gesagt, du wärst Evans Partner?«, fragte sie übertrieben fröhlich.

»Na ja, also, Geschäftspartner sind wir eigentlich nicht«, schränkte Evan ein.

»Aber trotzdem sind wir Partner«, ergänzte Julian und legte den Arm um Evan.

»Ach so. Ich verstehe.« Margaret wurde blass.

Verlegenes Schweigen machte sich breit, bis Jim ein bisschen zu laut sagte: »Na dann«, und Julian auf den Rücken schlug. »Wie wär’s mit einem Abstecher ins Pub? Rosie ist garantiert mit von der Partie. Wie steht’s mit euch?«

»Jesses!«, sagte Rosie noch mal, immer noch damit beschäftigt, die Eröffnung ihres Bruders zu verdauen. Sie spürte, wie sich in ihr ein warmes Gefühl breit machte. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie gespürt, dass Julian irgendwie anders war. Endlich hatte sich das Rätsel gelöst. Und nach allem, was in ihrer Familie vorgefallen war, erschien ihr diese neue Entwicklung nicht von Bedeutung. Im Gegenteil, eigentlich war es ein Grund zum Feiern.

»Mum, wir fahren in deinem Auto«, bestimmte sie. »Komm mit, Evan. Ich kümmere mich um dich.« Dann führte sie ihn weg und warnte ihn mit gesenkter Stimme: »Nimm dich in Acht. Sie kann bissig sein.«


Sobald sie in die Wärme des Hotels traten, kam James Dean hinter seiner Theke hervor und verbeugte sich mit ausladender, galanter Geste.

»Willkommen, willkommen, willkommen, ihr Freunde und Anverwandte der lang vermissten Rosie!«

»Was hast du denn genommen?«, fragte Rosie.

»Ich übe nur für die Oscar-Verleihung«, sagte er. Dann deutete er mit einer einladenden Geste zur Theke hin.

»Wohl eher für den Homeorder-Kanal«, feixte Rosie.

»James Dean steht zu Ihren Diensten«, sagte er galant zu Margaret. »Sie sind schön genug, um Rosies Mutter zu sein.« Er half ihr auf einen Barhocker. Dann setzte er über die Theke, schenkte einen Scotch auf Eis ein und reichte ihn ihr formvollendet, ehe er ausgiebig mit Julian und Evan Hände schüttelte.

»Alle Freunde von Rosie und Jim sind auch meine Freunde«, verkündete er vollmundig. »Und jetzt, verehrte zum Alkohol Bekehrte, wird es Zeit, dass ihr die bezaubernde, vollbusige Prinzessin Amanda kennen lernt.« Er riss die Schwingtür zur Küche auf, und der Duft von gegrillten Steaks wehte in die Bar.

»Mands! Komm raus, und sag hallo zu Rosies Bagage!«, brüllte er mit seiner gewöhnlichen, rauen Stimme. Amanda trat grinsend heraus, ein Buch unter den Arm geklemmt.

»Hey, hallo alle miteinander! Gott, Rosie, dich haben wir ewig nicht mehr gesehen. Gibt wohl eine Menge zu tun auf der Station. « Dann fiel ihr wieder ein, was sie unter dem Arm trug, und sie hielt das Buch mit dem Titel Penis-Puppenspiele empor.

»Seht mal, was ich draußen im Müll gefunden habe!«

Ein paar Trinker sahen her und johlten begeistert. James Dean hob wie zur Kapitulation beide Hände.

»Wer im Showgeschäft rauskommen will, braucht eine Mehrfachbegabung. Es kann nie schaden, ein möglichst breites Repertoire zu haben.«

Amanda legte das Buch vor Rosie hin.

»Schau mal unter ›Kentucky Fried Chicken‹ nach, Rosie. Danach willst du nie wieder Hühnchen essen.«

Margaret, die unfreiwillig zugehört hatte, kippte entschlossen ihren Whisky hinunter.

»Der wird Sie auf Trab bringen«, versicherte ihr James Dean und versorgte sie sofort mit einem zweiten Scotch, ehe er hinter der Bar hin und her flitzte, um den Männern Bier zu zapfen und Rosie eine Cola Rum zu mixen. Rosie wischte das Kondenswasser von dem eiskalten Glas und spürte im selben Moment, wie die anderen Frauen im Pub sie anstarrten. Sie konnten kaum fassen, dass Sams Ex und Mrs Highgrove-Jones leibhaftig an der Bar saßen. Niemand wagte sich in ihre Nähe. Die Frauen starrten zwar auch Evan und Julian an, aber immer wieder kehrten ihre Blicke zu Jim und Rosie zurück. Rosie merkte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Sie fragte sich, was man wohl von ihr hielt. Ob die anderen Frauen wohl meinten, dass es noch zu früh war, um mit einem anderen Mann auszugehen? Rosie kippte ihren Rum. Leckt mich doch, dachte sie grimmig.

Da es ein langes Wochenende war, war der Pub ungewöhnlich voll, und die lärmenden Besucher hatten sich den Nachmittag über schon in Stimmung getrunken. Aus der Jukebox röhrten Lieder von Lee Kernaghan, und um den Billardtisch hatte sich eine Gruppe von Schafscherern versammelt, die eifrig Bier tranken und weniger eifrig ihre Kugeln spielten. In einigen von ihnen erkannte Rosie ehemalige Arbeiter von der Highgrove Station wieder. Sie schauten ungläubig auf Margaret, die an der Bar thronte, ihre Handtasche unter den Arm geklemmt hatte und einen Scotch in der Hand hielt. Ihr Blick huschte verunsichert zu den Männern hinüber, dann setzte sie sich auf dem Hocker zurecht, sodass sie ihnen den Rücken zukehrte. Und dann stellte sie Evan jene Frage, die ihr schon seit der Abfahrt von der Station auf der Seele brannte.

»Und«, fragte sie, »woher kennen Sie meinen Sohn?«

Rosie und Jim beugten sich gespannt vor.

Evan zog sich einen Hocker heran und setzte sich neben Margaret.

»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Margaret, aber ehe Sie Ihr Urteil über mich fällen, sollten Sie wissen, dass Sie es auf keinen Fall mit meinen italienischen Großeltern aufnehmen können! Warten Sie nur, bis Sie meine italienische Nonna kennen lernen«, versprach er lächelnd. Er imitierte die Stimme einer alten Frau und begann, wild zu gestikulieren.

»Evan! Warum du nicht verheiratet? Es gibt so viel gute italienische Mädchen hier, no? Du bist so schöner Junge. Du brauchst eine Frau!« Er packte sich an beiden Wangen und kniff sich selbst.

Rosie lachte. Niedlich und witzig, dachte sie.

»Jules und ich waren Klassenkameraden. Wir waren Freunde. Gute Freunde. Aber ohne… Sie wissen schon. Ich habe mich um ihn gekümmert, das arme Landei, und ihn unter meine Fittiche genommen. Sie wissen wahrscheinlich, dass er im Internat zeitweise sehr unglücklich war. Als wir uns neulich in Melbourne wieder begegnet sind, wurde mir endlich klar, dass … dass wir zusammengehören. « Evans tiefbraune Augen blickten lächelnd in Margarets. »So sind wir zusammengekommen. Und er ist in mein Familienunternehmen eingestiegen. Ihr Sohn ist, ganz ehrlich, einfach perfekt.«

Margaret nickte lächelnd.

»Ich weiß, dass er perfekt ist. Immerhin ist er mein Sohn.« Sie sah Julian an, nahm seine Hand und drückte sie. »Und ich habe ihn nie glücklicher gesehen.« Sie drehte sich wieder zur Theke um und hob ihr Glas. »Wo steckt denn dieser Barmann? Meine Güte, was für ein Faulpelz!«

Rosie und Julian sahen einander an und zogen eine »Nicht-zuglauben«-Grimasse. Nach allem, was passiert war, hatte ihre Mutter endlich gelernt loszulassen, dachte Rosie. Sie sah in Jims Augen auf und lächelte. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

»Du bist dran«, sagte sie.

Genau in diesem Moment platzte Dubbo mit einer Clique von Sams früheren Freunden durch die Tür. Sein Blick überflog die Menge und landete auf Rosie.

»Hi!«, begrüßte er sie enthusiastisch und kam sofort auf sie zu. »Super, dich wieder unter Leuten zu sehen. Du siehst gut aus!« Er pflanzte einen Freudenkuss auf ihre Wange und quetschte ihren Arm zusammen. »Der untere Pub hat gerade zugemacht, da haben wir gedacht, wir ziehen hierher weiter.«

Dubbo sah Jim an und grüßte ihn mit einem knappen Nicken. Er hatte schon einiges intus, erkannte Rosie. Seine Augen leuchteten, doch ohne Sam, für den er sich zum Clown machen konnte, wirkte er irgendwie verloren. In den Monaten seit dem Unfall hatte er sichtbar an Gewicht verloren.

»Hast du immer noch einen Welpen für mich?«, fragte Dubbo.

»Was für einen suchst du denn?«, fragte Rosie.

»Einen Allrounder.«

»Das sagen sie alle«, meinte Jim zu Rosie. Dubbo warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Na gut. Einen für die Arbeit auf der Weide.«

»Ich hätte da einen für dich«, antwortete Rosie. »Aber nur gegen einen guten Preis.«

»Ich dachte, du wolltest mir einen schenken? Immerhin sind es eigentlich Sams Welpen.«

Das war ein unfairer Kommentar, aber ehe Rosie ihm die Bemerkung vergelten konnte, mischte sich ihre beschwipste Mutter ein.

»David, Darling!« Sie küsste ihn auf beide Wangen.

»Mrs Highgrove-Jones?« Dubbo traute seinen Augen nicht. »Sie machen sich einen netten Abend mit Rosie und Ihrem Viehtreiber? «

»Ja! Und Julian ist auch wieder da. Kennst du Jim Mahony schon? Er leitet die Farm, zusammen mit Rosie selbstverständlich. Und kennst du schon Evan, Julians … Evan, meinen… Evan«, beendete sie den Satz ratlos.

Evan begrüßte Dubbo mit einem Nicken.

»Ich kenne Jim nicht persönlich, aber ich habe schon viel über ihn gehört«, sagte Dubbo.

Dubbo und Jim waren gleich groß, aber Jim war fitter und kräftiger. Während sie sich die Hand gaben, schoss Rosie das Bild zweier Hunderüden durch den Kopf, die sich mit gesträubtem Nackenfell anknurrten.

»Jim hat unserer Rosie das Leben gerettet«, fuhr Margaret fort. »Wir sind ihm ja so dankbar. Er hat die Farm während der letzten Monate über Wasser gehalten, nicht wahr, Jim?«

»Ach ja?«, fragte Dubbo misstrauisch.

»Na ja, Rosie hat auch Knochenarbeit geleistet. Sie ist ein zähes Mädel«, schränkte Jim ein.

Plötzlich kam ein rotgesichtiger, rothaariger Scherer herangeschwankt und legte den Arm um Margarets Schultern.

»Hallo, Mrs H-J«, hauchte er ihr mit Säuferfahne ins Gesicht. »Kennen Sie mich noch?«

Margaret sah ihn mit schmalen Augen an, ohne dass ihre Miene eine Spur des Wiedererkennens gezeigt hätte.

»Carrots«, half er ihr auf die Sprünge. »Ich war Ende der siebziger Jahre als Scherer bei Ihnen… bis 1980. Ich war in Billy O’Rourkes Team, bis wir alle rausgeschmissen wurden. Wissen Sie noch?«, hakte er nach.

Margaret wich zurück und wurde knallrot. »Ja«, sagte sie leise. »Ich erinnere mich.«

»Und das da ist Ihre groß gewordene Tochter?« Carrots nickte zu Rosie hin. »Ein heißes Ding. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Dann begann er zu lachen und bohrte einen Finger in ihre Rippen. »Wie? Meinst du nicht auch, Margie Darling?«

»Schön, Sie wiederzusehen, Carrots«, sagte Margaret mit fester Stimme. Damit drehte sie ihm den Rücken zu und nippte immer noch mit hochroten Wangen an ihrem Scotch.

Jim legte eine Hand auf den breiten Rücken des Scherers.

»Carrots!«, sagte er fröhlich. »Wie läuft’s denn so? Ich glaube, Damo wartet schon darauf, dass du deine Kugel spielst.« Er nickte zum Billardtisch hin, wo die anderen Spieler auf ihre Queues gestützt das Schauspiel verfolgten.

»O ja, stimmt«, sagte Carrots und schwankte von dannen.

Mein Gott, dachte Rosie entsetzt, könnte dieser Mann mein Vater sein? Sie kippte ihren Drink hinunter. Als sie sich wieder umdrehte, boten ihr Jim und Dubbo gleichzeitig an, einen neuen zu bestellen. Sie hob die Hände. Dann seufzte sie kapitulierend: »Ja bitte. Dann hätte ich gern zwei Drinks.«


Es war kurz vor der Sperrstunde. Dubbo, Margaret, Evan und Julian, Jim und Rosie standen einträchtig in einer Reihe, hatten die Arme über die Schultern gelegt und sangen lauthals Kernaghans »Lasso You«. Alle zusammen befanden sich auf der winzigen Tanzfläche des Pubs, schwenkten die Hüften und ließen imaginäre Lassos über ihren Köpfen kreisen.

»How’s it feel to get wrangled?«, sang Rosie und wiegte sich zur Musik. »Heart’s in a tangle.«

Dubbo schob sich neben sie, setzte die Hände auf ihre schlanken Hüften und versuchte, ihr tief in die Augen zu blicken. Er sang gerade: »I’m not going to hurt you, we’d be too good together.«

Rosie versuchte sich unauffällig aus seinem Griff zu befreien, aber Dubbo drückte sie noch fester an sich. Sie entwand sich seiner Umarmung und tanzte zu Jim hinüber. »This was bound to happen… you’re too cute under your stetson.« Worauf ihr Jim ein Lächeln schenkte, das ihr Herz zum Schmelzen brachte.

In tiefem Bariton »Bap-bapp« singend, hüpften Evan und Julian herum und gaben die Backgroundsänger für Margaret, die in ihrer eigenen, trunkenen Welt verloren war.

Gerade als Rosie aus vollem Hals die letzte Zeile des Liedes sang: »My heart’s made up its mind … lasso you«, packte Dubbo sie erneut und zerrte sie von Jim weg.

»Lass mich los!« Rosie spießte Dubbo mit einem vernichtenden Blick auf und versuchte, seinen eisernen Griff abzuschütteln.

»Du hast es gehört!«, brüllte Jim.

Ehe sich Rosie versah, hatte Jim den ersten Schlag gelandet. Dubbos Kopf kippte zurück, als Jims Faust auf seinem Kinn aufschlug. Dann packte Jim seinen Gegner und schubste ihn zwischen die Tische und Stühle, wo die anderen Gäste erschrocken aufsprangen. Das Lied endete und wurde von dem »Auf geht’s, auf geht’s, auf geht’s«-Gegröhle der Menge ersetzt. Dubbo warf sich seinerseits auf Jim, und beide knallten auf den Boden.

»Aufhören!«, schrie Rosie.

James Dean, Evan und Julian stürzten sich ins Gemenge, zerrten die beiden Streithähne auseinander und befahlen ihnen, sich hinzusetzen. Rosie warf Jim einen verletzten, wütenden Blick zu, ehe sie sich umdrehte und durch die Menge verschwand.

Auf der Damentoilette ließ Rosie die Stirn gegen den Spiegel sinken und schloss für einen Moment die Augen. Sie fühlte sich so schrecklich betrunken. Gleich darauf machte sie die Augen wieder auf und studierte ihr Spiegelbild. Da stand sie in ihren Jeans, ihrem engen, karierten Hemd, das ihre blauen Augen betonte, und mit ihrem längst nicht mehr kurzen, adretten Haar, das ihr inzwischen bis auf die Schultern fiel. Sie fragte sich, wer das Mädchen im Spiegel wohl war. War das wirklich sie? Dann hörte sie jemanden hereinkommen, huschte in eine Kabine und verriegelte die Tür.

»Die eingebildete Kuh ist also in Wahrheit bloß ein billiges Luder«, hörte sie eine weibliche Stimme. »Lässt sich mit den Arbeitern ein! Wer hätte gedacht, dass sie für so einen die Beine breit macht?«

»O Mann. Vielleicht vögelt ihre Mutter ja auch mit dem Personal. Rudelbumsen mit den Schafscherern!«, lallte eine andere. Die beiden Mädchen prusteten los. Rosie hörte eine Tür schlagen, weil eines der Mädchen in der Kabine neben ihrer verschwunden war.

»Vermisst du ihn nicht?«, hörte sie die Stimme fragen.

»Wen?«

»Sam natürlich, du blöde Kuh. Nach einem Abend wie dem hier konnte man sich immer darauf verlassen, dass was läuft.«

»Hä? O ja. Ich hätte auch nichts dagegen, diesen Viehtreiber ranzulassen, mit dem Miss Highclass-Bindestrich rummacht. Der sieht echt geil aus, und hast du seine Stimme gehört? Wa-hansinn! Den würde ich nicht von der Bettkante schubsen.«

»Wenn er es mit ihr treibt, muss er es wohl mit jeder treiben.«

Die Toilette spülte, danach lief kurz der Wasserhahn, die Tür knallte zu und die Mädchenstimmen verhallten.

Als Rosie wieder aus der Toilette kam, war Amanda bereits damit beschäftigt, die Jalousien vorzuziehen und die Gläser wegzuräumen.

»Bedauerlicherweise, werte Kundschaft«, tönte James Dean von einem Stuhl herab, »ist dies die letzte Runde.«

Er ging in Deckung, weil ihn seine betrunkenen Gäste mit Bierdeckeln bewarfen.

»Prinzessin Amanda braucht ihren Schönheitsschlaf!«, rief er ihnen zu. »Und wenn ihr in zehn Minuten nicht verschwunden seid, kriegt ihr mein eigenes Penis-Puppenspiel zu sehen… neu und einzigartig … es handelt sich um meine Interpretation des halb erschossenen Possums!«

Er begann, pantomimisch darzustellen, wie er seinen Hosenschlitz öffnete, woraufhin die meisten Gäste in gespieltem Entsetzen und schreiend aus dem Pub rannten. Die Tränen mühsam zurückhaltend, trat Rosie nach ihnen in die kalte Nachtluft.