Nachwort
Er ist so schwer, dass er die Luft aus ihr herauspresst, als er auf ihr landet, sie mit seinem leblosen Gewicht festnagelt, ihre nackten Schultern auf die rauen Bodendielen drückt. Sie kämpft, schnappt nach Luft: In Panik verdreht sie die weit aufgerissenen Augen, als ihr klar wird, dass sie in der Falle sitzt.
Er schnarcht. Die feuchte Luft, die er durch die Nase ausstößt, trifft sie am Halsansatz. Feucht, klebrig, widerlich.
Ich muss hier raus, denkt sie. Hier raus, bevor er aufwacht. Er wird es mir heimzahlen, sobald ihm klar wird, was ich getan habe. Diese Hände – ich werde sie mir jetzt, da er wütend sein wird, niemals vom Leib halten können.
Sie spürt, wie er der Länge nach auf ihr liegt, durch die Bewusstlosigkeit noch schwerer ist. Ihm läuft die Nase, und ein Sabberfaden tropft ihm aus dem Mund und in ihre Haare.
Sie spürt, dass sich in ihrem Kopf Tiergeräusche bilden. Kann sie nicht herauslassen. Es ist unmöglich. Sie werden ihn aufwecken, ihn ins Bewusstsein holen, und er wird weitermachen. Weiter …
Lily bäumt sich auf. Er schwankt wie eine Vogelscheuche auf ihr, der Kopf rutscht zur Seite, die Augen sind die eines Irren. Seine Zunge gleitet zwischen seinen wulstigen Lippen hervor, und er stößt ein Röcheln aus.
Die Panik verleiht ihr ungeahnte Kräfte. Ich muss – muss … ich muss, muss, muss …
Und sie schiebt sich unter ihm hervor, indem sie sich am Boden festkrallt, sie rappelt sich auf die Knie, auf die Füße, stolpert über ihren Kleidersaum, landet bei der Tür, dreht sich um, um nachzusehen.
Hugh beginnt sich zu rühren. Eine Hand, dicke, kurze Wurstfinger, streichen über den Boden, bleiben auf Schulterhöhe liegen.
Er ist im Begriff aufzuwachen.
Der Instinkt treibt sie an, treibt sie hinaus. Der Gedanke an diese Hände, wie es sich anfühlt, wenn sie die geheimnisvollen Stellen ihres Körpers betasten und begrapschen. Sie weiß sehr wenig, hat den Eindruck, als befinde sie sich in einem Tunnel, aber sie weiß definitiv, dass sie hier rausmuss. Weg von ihm. Dass sie fortmuss. Von diesen Händen. Diesem Atem. Er hat es auf mich abgesehen …
Gott sei Dank, Gott sei Dank. Er hat die Tür nicht hinter sich abgeschlossen.
Dunkel. Es ist dunkel. Er ist hinter mir her. In der Dunkelheit hinter mir her.
Und seine Mutter ebenfalls. Irgendwo. In diesem Haus, in irgendwelchen dunklen Ecken.
Lily rafft ihr Kleid hoch und rennt los.
Das Zuschlagen der Haustür reißt Felicity Blakemore auf dem Sofa aus ihrem Traum. Während sie hier gedöst hat, ist es Abend geworden, und ihre Körpertemperatur ist gesunken, da sie zwei Stunden, ohne zugedeckt zu sein, dagelegen und sich nicht gerührt hat. Sie hat Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, in welches Zimmer sie nach dem Mittagessen gegangen ist, und kann bei dem Zwielicht, das durch das Fenster einfällt, nur vage ausmachen, dass sie sich in der Bibliothek befindet. Sie streckt den Arm aus, um die Lampe auf dem Couchtisch anzuschalten, dann fällt ihr das Verdunkelungsgebot wieder ein, und sie tastet sich zum Fenster vor.
Es hat wieder angefangen zu schneien. Riesige, fedrige Flocken wirbeln an der Fensterscheibe vorbei, bleiben auf dem Liguster liegen. Man kann kaum weiter als einen Meter sehen; Wolken verdecken den Mond, und der Schnee fällt dick und schnell.
Ich brauche einen Brandy, denkt sie. Um mich aufzuwärmen. Sie zieht die Jalousie und den Vorhang zu und taumelt in der Dunkelheit zurück.
Heute Abend fühlt sich das Haus – verletzlich an. Als beobachte jemand sie von draußen. Warte darauf, hereinzugelangen. Komisch, denkt sie, während sie den letzten der Dekanter aus der Hausbar im Speisezimmer leert. Normalerweise fühle ich mich so viel sicherer, wenn Hughie zu Hause ist. Ich vermute, das liegt daran, dass er gerade erst zurückgekommen ist. Wir werden uns bestimmt wieder aneinander gewöhnen. Er hat sich ja unweigerlich ein bisschen verändert. Das ist die Auswirkung der Schule. Ein paar schöne Tage, auch wenn wir nur zu zweit sind, dann wird er wieder ganz mein Junge sein.
Nur wir beide. Das Bild des Kuckucks oben auf dem Dachboden schießt ihr durch den Kopf. Na ja, vielleicht, denkt sie. Hughie scheint sie ja irgendwie unter Kontrolle zu haben. Hatte er schon immer. Sie scheint ihm auf eine Weise zu gehorchen, wie sie es bei anderen Leuten nicht einmal in Erwägung ziehen würde.
Mit dem Glas in der Hand beginnt sie das abendliche Ritual des Hausabschließens. Es gibt keinen Grund, jetzt noch ins Freie zu gehen. Bei diesem Schneefall werden wir auch keinen unangemeldeten Besuch bekommen. Nicht etwa, dass sonst welcher kommt. Dieser verdammte Krieg. Vor dem Krieg waren wir alle glücklich. Werden wir je wieder glücklich sein? Wo steckt Hughie eigentlich? Ich wundere mich, dass er noch nicht heruntergekommen ist und nach seinem Tee verlangt hat. Da sind noch ein paar Scones in der Speisekammer. Die kann er haben, wenn er aufkreuzt. Diese Kriegsrationen sind so eintönig. Die Langeweile wird uns noch umbringen, lange, bevor die Hunnen es tun. Zum Abendessen gibt es wieder Gemüse und Kartoffeln. Immerhin habe ich uns, zur Feier seiner Rückkehr, ein Stück Schinken beschaffen können.
Felicity geht von Zimmer zu Zimmer, zieht die Verdunkelungsjalousien zu und die Vorhänge vor und schaltet jeweils eine Lampe ein, sobald die Nacht ausgesperrt ist. Sie blickt kein einziges Mal aus dem Fenster. Bleibt nur von Zeit zu Zeit stehen, um an ihrem Drink zu nippen.
Es ist so verdammt kalt. Keiner kümmert sich mehr um das Anwesen, und der Brennholzvorrat ist praktisch aufgebraucht. Nach dem Sommer muss doch jede Menge Holz in den Wäldern liegen. Während Hughie da ist, können wir ein paar Tage zusammen damit zubringen, es zu sammeln und klein zu sägen. Das würde Spaß machen. Nur wir zwei. Wie in alten Zeiten.
Sie trinkt und lächelt über die Szene, die sie sich ausmalt, und dreht den Schlüssel im Schloss der zweiten Küchentür.
Sechs Tage, denkt sie. Ich habe ihn nur sechs Tage hier, bevor er wieder nach Eton zurückfährt. Ich muss das Beste daraus machen. Ich bin mir sicher, dass ich ein paar Hühnchen von der verpachteten Farm besorgen kann. Außerdem kann er Patricks Jagdrevier übernehmen. Er ist jetzt alt genug dazu, und er wird das genießen. Patrick wird dafür ja keine Verwendung mehr haben. Heute decken wir den Tisch im Speisezimmer. Ich mache die letzten Flaschen von Daddys Claret auf, und er kann mit mir, wie ein Erwachsener, ein Gläschen trinken.
In der Spülküche ist es eisigkalt. Sie hastet hindurch und vergisst die Verdunkelungsjalousie, als sie zur Tür eilt, um sie abzuschließen. Licht schweift über den Schnee, der die Helligkeit verstärkt, und beleuchtet dessen verschwommene Oberfläche.
Verdammt, denkt sie. Verdammt noch mal. Hoffentlich war das kein Bomber, der über uns hinweggeflogen ist. Die werden doch nicht gerade heute Abend fliegen. Ich würde heute Nacht keinen Hund ins Freie jagen.
Auf dem Dachboden wird es kalt sein, denkt sie. Vielleicht sollte ich sie nicht länger dort oben lassen. Hughie kann sie sowieso unter Kontrolle halten, und sie werden sich gegenseitig Gesellschaft leisten. Genau, er hat gesagt, dass er zu ihr hinaufwollte, jetzt fällt es mir wieder ein. Offensichtlich hat er eine Schwäche für sie. Er muss schon seit Stunden da oben sein.
Ja, denkt sie. Wahrscheinlich hat sie ihre Lektion gelernt. Und außerdem würde nicht einmal sie bei diesem Wetter einen Ausreißversuch unternehmen.
Sie bleibt in der Eingangshalle stehen und leert ihr Glas.
Ja, denkt sie. Sie hat ihre Zeit abgesessen. Ich lasse sie noch eine Nacht dort oben, dann darf sie heraus.
Felicity Blakemore bückt sich und schiebt den großen Riegel der Eingangstür vor. Er geht schwer, als wäre er schon sehr lange nicht mehr bewegt worden.