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Inzwischen wünscht sie sich, Carol wäre erst gar nicht gekommen. Die Gefühle, die sie in Bezug auf das Haus hatte – der Eindruck, es würde sie beobachten, die Bedrohung aufgrund seiner isolierten Lage, die seltsamen Dinge, die nicht in die Zeit und den Rahmen passten –, sind jetzt noch konkreter, da auch jemand anderes sie erlebt hat. Ich fühle mich hier nicht sicher, und ich kann jetzt nicht mehr so tun, als sei das eine Nachwirkung der Unsicherheit in London. Es ist komisch. Dieses Haus ist seltsam. Jetzt verstehe ich, warum Frances Tyler so in Panik geraten ist. Allerdings hatte sie die Möglichkeit, einfach abzuhauen. Der Job hier ist die meiste Zeit ein Kinderspiel; und zwar so sehr, dass ich mich wahrscheinlich für irgendeine Ausbildung anmelden und ihn trotzdem beibehalten könnte. Wir haben jede Menge Platz, können meilenweit laufen und frische Luft atmen. Mir gefällt das Dorf, dieser neue Ort, an dem mich keiner kennt, wo sie die Geschichte, die ich ihnen auftische, für bare Münze nehmen, wo ich sein kann, wer ich sein will, nicht das verängstigte Arbeitstier, zu dem er mich gemacht hat.
Aber … sie hat mich veranlasst, mich jetzt ständig umzuschauen. Sie hat mich veranlasst, doppelt nachzuprüfen, ob die Türen auch wirklich verschlossen sind. Sie hat mich dazu gebracht, dass ich Gespenster sehe. Ich weiß, dass er uns nicht hat ausfindig machen können, es sei denn, er ist ihr im Zug gefolgt, aber ich spüre es die ganze Zeit. Dass hier jemand ist … dass uns jemand beobachtet …
Bridget hat sämtliche Metallgegenstände im Haus zusammengesammelt, die sie jetzt auf dem mit Zeitungen ausgelegten Küchentisch poliert und nebenbei Radio hört. Aber sie musste sich schon vom einen Ende des Tischs ans andere umsetzen, weil sie an der Stelle, an der sie anfangs saß, die Tür nicht im Auge hatte. Ich habe meine Jugend definitiv hinter mir, denkt sie. Heute habe ich das Radio gleich auf Radio 2 eingestellt, habe nicht einmal schnell den Frequenzbereich nach etwas Interessanterem durchsucht. Niemals werden sie mich dazu bringen, dass ich Radio 4 höre, aber diesen Sender mag ich. Sie haben gerade sechs Soul Tracks in voller Länge gebracht – echten Soul aus den 1960er Jahren –, und ich habe einen Großteil der Texte mitsingen können. Welcher hat mir am besten gefallen? Marvin Gaye oder Snoop Dogg? Muss ich das wirklich fragen?
Das Telefon klingelt, und sie ist überrascht, obwohl sie es mit heruntergebracht hat. Meistens hat man hier unten im Erdgeschoss keinen Empfang, aber ein Balken auf dem Display neben der 0207er Nummer zeigt an, dass die Verbindung hergestellt wird. Ich vermisse meine Mutter, geht ihr plötzlich aus heiterem Himmel durch den Kopf. Sie nimmt ab.
»Hallo?«
»Du hast noch eine letzte Chance«, sagt er.
Sie schließt die Augen. Wann hört er endlich damit auf?
»Du kannst mir sagen, wo du bist, oder ich werde dich finden.«
Atme weiter.
»Du hältst dich wohl für verdammt gescheit, nicht wahr, Bridget?«
Reagiere gar nicht. Sprich nicht mit ihm. Wenn du mit ihm sprichst, ermuntert ihn das nur. Lass es sein.
»Bitte«, sagt sie, »lass mich in Ruhe.« Sie hatte beabsichtigt, dass es stark und entschieden klingen sollte. Hört stattdessen den flehenden Tonfall, den sie meinte, mit ihrem alten Leben hinter sich gelassen zu haben.
Seine Stimme wird lauter, nachdem er sie gehört hat, schwillt zum Brüllen an. Sie kann ihn geradezu vor sich sehen, an seinem Schreibtisch, wie er in sein Handy schreit und die Blicke seiner Kollegen gar nicht mitbekommt, das Gesicht vor Wut rot angelaufen, die Sehnen an seinem Hals hervorstehend wie Drahtseile.
»Damit kommst du nicht durch, Bridget! Ich kriege dich! Ich kriege dich, verdammt!«
Sie fröstelt. Schiebt den Daumen auf die Taste und unterbricht die Verbindung. Drückt oben auf den Knopf und schaltet das Handy aus. Sitzt da und starrt das Telefon an, als wäre es ein geliebtes Haustier, das plötzlich herumgefahren ist und sie gebissen hat.
Sie überlegt, ob sie es nicht einfach in den Müll schmeißen soll. Ich werde mir ein neues kaufen, ich werde die Nummer wechseln, dann soll er schauen, wo er bleibt. Kann sich für immer verpissen. Er kann …
Aber andererseits möchte ich ja erreichbar sein. Ich muss vernünftig bleiben.
Okay. Dann also die SIM-Karte. Ich werde die SIM-Karte wegwerfen. Das mache ich. Mehr ist ja gar nicht nötig.
Sie steht auf, geht durch die Küche und zieht eine Schublade auf. Findet das Nudelholz. Klappt das Handy hinten auf und holt die alte Karte heraus. Ich mache es jetzt gleich, denkt sie. So zwinge ich mich dazu. So bleibt mir gar nichts anderes übrig, als morgen nach Wadebridge zu fahren und mir eine neue zu kaufen, weil das Telefon ohne ja gar nicht funktioniert. Ich mache es gleich.
Sie legt den Chip auf das Backbrett: weiß durchzogener Marmor, hart und kalt. Hebt den Arm und schlägt mit aller Kraft mit dem Nudelholz zu. Sie macht es wieder und wieder, stellt sich vor, dass es Kierans Kopf ist. Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hassehassehasse dich. Die Karte springt hoch, bekommt Dellen, wird verbogen, bekommt Risse. Sie macht weiter, bis sie in Stücke zerbricht, vernichtet und tot ist. Da. Du wirst mich nie finden. Wirst mich niemals finden. Niemals.
Ein Lachen. Draußen in der Eingangshalle. Bridget erstarrt. Dieses verdammte Haus.
Sie lauscht. Nichts. Wieder ein Lachen. Okay. Okay, ich habe die Nase voll. Ich habe die Nase voll von diesem verdammten Haus, das mich ständig zum Narren hält. Ich gehe und schaue nach, aber ich werde keine Angst haben. Siehst du? Ich habe ein Nudelholz in der Hand. Wenn du mich ärgern willst, dann versuch es nur, aber du wirst mir keine Angst einjagen.
Sie geht zur Tür, reißt sie auf und betritt mit erhobenem Nudelholz das Speisezimmer.
Yasmin schreit auf und bleibt stehen, sieht bestürzt aus. Jago Carlyon prallt gegen sie, wirft sie um, sodass sie gegen die Knie ihrer Mutter fällt.
»Da schau her!«, sagt sein Vater. »Jago! Schnell weg von dieser verrückten Frau, bevor sie dir noch den Kopf einschlägt.«
Bridget lässt das Nudelholz sinken, läuft vor Verlegenheit rot an. »Uups.«
»Begrüßen Sie alle Ihre Besucher so?«
»Ich bin kein Besucher«, stellt Yasmin fest.
»Richtig. Dann schlägt sie dich also jeden Tag, wenn du von der Schule nach Hause kommst, mit dem Nudelholz?«
Bridget kommt sich dumm vor, ist peinlich berührt.
»Nein«, antwortet sie. »Manchmal peitsche ich sie aus. Nur, um für Abwechslung zu sorgen. Du bist früh dran. Ich habe dich frühestens in einer Stunde zurückerwartet.«
»Ach so«, sagt Mark. Er sieht ein wenig amüsiert aus. »Tom Gordhavo hat angerufen und gesagt, dass ich hier nach der Elektrik schauen soll, deshalb habe ich die beiden mitgebracht, solange es noch ein wenig hell ist.«
»Chloe hat die Grippe«, erklärt Yasmin.
»Eine schlimme Erkältung«, korrigiert Mark sie.
»Deshalb ist sie heute nicht in die Schule gekommen.«
»Ja. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Jago mitgebracht habe. Ich dachte, ich halte ihn Tina lieber eine Weile vom Hals.«
»Er ist mehr als willkommen«, antwortet Bridget. Jago, braune Augen und ein Pony, der ständig darüber fällt, sodass er ihn zur Seite schütteln muss, sieht Yasmin an, als bestünde sie aus Schokolade und Cocktailwürstchen. Er ist ein Jahr jünger als sie, und in seinem Alter verleihen diese zwölf Monate Unterschied einer Frau eine Aura der Kultiviertheit, die sie erst wieder erreichen wird, wenn sie an die Vierzig ist.
»Komm schon«, sagt Yasmin. »Ich zeige dir meine Barbies.«
Bridget unterdrückt ein Schmunzeln, als er brav hinter ihr hertrottet. Sie schaut zu Mark hinüber und sieht, dass es ihm genauso geht. »Ich glaube nicht, dass er deshalb gleich schwul wird«, stellt er fest, als die beiden verschwunden sind.
»Eher eine typisch englische Tunte«, antwortet Bridget. »Einer, der lieber Zeit mit seiner Freundin als im Pub mit seinen Kumpels verbringt.«
Mark lacht. Er hat Jagos Augen, stellt sie fest: dunkel und freundlich. Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wann ein Mann sie zum letzten Mal freundlich angesehen hat. Gleichgültigkeit, Gewalt, leichte Verachtung, aber keine Freundlichkeit. Es ist Jahre her. Über ein Jahrzehnt. Es hat vor Kieran Männer gegeben: Männer, die sie so angeschaut haben. Aber sie wollte »mehr«. Dieses nebulöse »Mehr«, das einen auffrisst und blind macht für die Realität. Selbst am Anfang sah er sie mit Besitzerblick, nicht etwa beschützend an – ach, hätte sie das damals nur richtig gedeutet. Herrgott, wie konnte ich nur so blind sein! Habe ich wirklich zu jenen dummen Frauen gezählt, die glauben, dass ein Mann, bloß weil er aufregend ist, irgendwie auch etwas wert sein muss? Hollywood hat einiges auf dem Kerbholz.
Er streckt die Hand aus. Einen Augenblick glaubt sie, er möchte ihre schütteln, aber seine Handfläche ist nach oben gerichtet.
»Macht es Ihnen etwas aus? Ich komme mir ein wenig wie ein Seehundbaby vor, wenn Sie das in der Hand halten.«
Sie blickt auf die Waffe in ihrer Hand und lacht wieder verlegen. »Erzählen Sie niemandem, dass Sie mich so gesehen haben, ja?«, fragt sie und reicht ihm das Nudelholz. »Darüber würde ich nie hinwegkommen.«
»Abgemacht. Solange Sie Stillschweigen über die Vorliebe meines Sohnes für Puppen wahren. Geht es Ihnen gut? Sie haben irgendwie bestürzt ausgesehen, als wir hereingekommen sind.«
»Ach. Na ja … Nein, es ist nichts …«, hebt sie an und bricht in Tränen aus.
»Oh«, sagt Mark. Dann fügt er hinzu: »Ach, Bridget, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht …«
»Nein«, antwortet sie und hört, wie weinerlich ihre Stimme klingt, »es ist nicht … oh, Gott, entschuldigen Sie.«
Wir sind dermaßen britisch, denkt sie. Wir sehen Tränen, und wir können an nichts anderes denken, als uns zu entschuldigen.
»Ist schon gut«, sagt er und legt ihr die freie Hand auf die Schulter. Überschreitet die Grenze nicht, versucht nicht, sie in den Arm zu nehmen oder sinnlose Versprechungen zu machen. Weiß, dass er nur ein Bekannter, nicht etwa ein Freund ist, und verhält sich dementsprechend. Was sie nur noch stärker zum Weinen bringt. Es ist so lange her. So lange her, seit jemand mich in die Arme nahm und mir sagte, dass alles gut wird. Mein Gott, ich vermisse meinen Dad. Meine Mum und meinen Dad. Das waren gute Menschen. Wenn sie da waren, habe ich mich nie allein gefühlt. Ich vermute, das war der Grund, warum ich so einfach auf Kierans Welt hereingefallen bin, ohne Fragen zu stellen: Ich hatte zum ersten Mal seit ihrem Tod das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Mir war nur nicht klar, dass dieses »Dazugehören« seiner Meinung nach mit einem »Zu« verbunden war. »Wenn ich irgendwas tun kann …«, sagt Mark. »Es tut mir leid.«
»Ich habe bloß …«, beginnt sie, gerät ins Stottern, weil sie nicht weiß, was sie eigentlich sagen soll.
»Soll ich Ihnen eine Tasse Tee machen?«
»Ja, das …«
»Dann kommen Sie.«
Er führt sie in die Küche und drückt sie auf den Stuhl am Tisch. Wirft einen Blick auf die zerstörte SIM-Karte, sagt aber nichts dazu. Während das Wasser heiß wird, nimmt er ihr gegenüber Platz und schaut ihr in die Augen.
»Sie müssen es mir nicht sagen«, erklärt er. »Jeder von uns lässt sich durch irgendwas erschrecken.«
»Nein, es ist bloß – es liegt nicht daran, dass ich Ihnen nicht vertraue, ich bin bloß …«
»Manchmal ist es schwierig. Das weiß ich. Wir sind alle mal niedergeschlagen. Sie, ich, Tina. Man ist verdammt einsam. Aber es kann helfen, wenn man darüber spricht. Und ich werde nicht … Sie wissen schon …«
»Ach, Mark«, sagt sie.
»Komm schon«, antwortet er, »sonst tue ich fünf Stück Zucker in deinen Tee und sag dir einfach, dass du wieder Mut fassen sollst.«
»Du darfst es niemandem erzählen«, sagt sie. »Ich möchte nicht, dass die Leute es wissen. Es geht nur mich etwas an. Ich habe – weißt du, ich habe den Eindruck, nicht sicher zu sein …«
Er sagt nichts. Macht wieder keine leeren Versprechungen. Wartet einfach ab.
»Ich habe einen Anruf erhalten«, fährt sie fort. »Ich kriege ständig welche. Er lässt mich einfach nicht in Ruhe.«
»Ach«, sagt er.
»Ich musste untertauchen«, erzählt sie. »Deshalb bin ich hier. Wo mich keiner kennt. Uns. Ich kann die … aber er …«
»Ach, Mensch«, sagt er. »Und ich habe dich für ein wenig … geheimnistuerisch gehalten.«
»Ich habe eine gerichtliche Verfügung gegen ihn erwirkt«, erzählt sie, »aber er hat sich nicht daran gehalten. Er ist einfach – immer wiedergekommen.«
»Ist das Yasmins Vater?«
Sie schnieft, reibt sich mit dem Handgelenk über die Stirn und nickt.
»Und er hat nicht – er hat immer …«
»Ach, Mensch«, wiederholt er. Er will die Hand ausstrecken und ihre ergreifen, aber er weiß, dass das unangebracht wäre.
»Es – du musst es mir nicht erzählen«, wiederholt er.
»Ich war bloß – ich hatte so lange Zeit so viel Angst, und ich weiß, dass er uns hier nicht finden kann, aber ich höre seine Stimme und komme mir vor … bitte, erzähl es niemandem. Ich weiß, wie die Menschen sind.«
»Sie sind besser, als du glaubst«, antwortet er. »Wenn irgendwelche Urteile gefällt werden, dann betreffen sie ihn, nicht dich. Wir sind hier nicht in London. Wenn die Leute es wüssten, dann würden sie dich bestimmt in Schutz nehmen.«
Wieder schüttelt sie den Kopf.
»War es sehr schlimm?«, fragt er. Kommt sich sogleich schmutzig und hässlich vor, weil er das gefragt hat, als hege er irgendwelche bösen Absichten. Sie wirft ihm einen Blick zu, der seine eigene Einschätzung bestätigt.
»Nein«, antwortet sie, »es war ein Kinderspiel. Ich mache das nur aus Bosheit.«
Mark läuft rot an. Schaut betreten zur Seite.
»Nein, versteh doch – es tut mir leid«, sagt sie. »Das war eine Schutzmaßnahme. Ich bin es dermaßen gewöhnt – dermaßen gewöhnt, weißt du, zwischen Leuten zu unterscheiden, die mich verachtet haben und Leuten, die all die scheußlichen Details hören wollten. Ich musste es denen in ihrer alten Schule erzählen, damit er nicht kommen und sie abholen konnte, und das war, als würde ich einer Klatschzeitung ein Interview geben. Die wollten jedes Detail hören, und hinter ihrem Mitleid konnte man die Schadenfreude erkennen, die Erleichterung, ›zum Glück betrifft es nicht mich‹. Und mein Mitbewohner von einem Stockwerk tiefer, der hat einfach immer zur Seite geschaut, wenn wir ihm im Treppenhaus begegnet sind, als hätten wir Lepra oder so etwas. Es spielt keine Rolle, was die Presse verbreitet, wie sehr sie versuchen, die Leute aufzuklären; die Leute haben noch immer diese Einstellung, weißt du. Dass es nicht nur eine Frage des Schicksals ist, dass sich manche Ehemänner als Monster und andere als Waschlappen entpuppen. Sie haben alle die Artikel gelesen, dass Missbrauch über Generationen weitergeht, und interpretieren das so, dass manche Leute diesen geradezu anziehen. Dass du deshalb bei ihm bleibst, weil es dir doch irgendwie gefällt.«
Sie erinnert sich an seine Fäuste. Das schmatzende Geräusch, als er ihr aufs Auge schlug, der kurze Schmerz, der sie durchfuhr, als ihr Kopf nach hinten kippte. Das fahle, schockierte Gesicht von Yasmin, als sie auf ihr gebrochenes Handgelenk starrte. Die Blicke im Krankenhaus: Sie behauptet, dass es ihr Ehemann war, aber sie hätte es ja auch selbst gemacht haben können. Es sind nicht immer nur die Männer, wissen Sie. Frauen sind auch keine Engel …
Ich krieg dich, Bridget. Du kannst dich nicht ewig verstecken.
»Er hat mich gefesselt«, sagt sie. »Er hat mich festgebunden und mich dort zurückgelassen. Er hatte Handschellen, und mit denen hat er mich ans Bett gefesselt, und wenn ich versucht habe, ihn davon abzuhalten, dann ist es nur noch schlimmer geworden. Und er musste zur Arbeit gehen, und Yasmin war in ihrem Kinderbettchen, und sie hat geweint, und ich konnte nichts tun. Ich konnte einfach nur daliegen und sie den ganzen Tag weinen hören und warten, dass er nach Hause kommt, und abwarten, was er vorhatte …«
Es ist kein befreiendes Herzausschütten. Sie fühlt sich nicht besser, während sie es ihm erzählt. Wenn man Probleme offenbart, werden häufig alte Wunden wieder aufgerissen.
Sie schaut zu ihm auf, und sein Gesichtsausdruck ist undefinierbar. Dann schluckt er und senkt den Blick.
»Tut mir leid«, sagt er. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Die hat ja keiner«, antwortet sie. »Die Typen, mit denen er zusammenarbeitet, die halten ihn alle für einen netten Kerl. Einen Spaßvogel. Ich wusste, was sie von mir hielten, als sie mich gesehen haben. Die langweilige Frau, die ihren Mann zermürbt. Die dachten, das sei ein Spaß. Mit ihm in Nachtklubs zu gehen, ihm beim Aufreißen zuzuschauen, während ich zu Hause gewartet habe. Und dieser Typ – dieser Typ von der Etage unter mir. Der hat mich für den letzten Abschaum gehalten. Ich erinnere mich, wie er sich einmal, an einem Sonntag, auf der Treppe umgedreht und mich bloß angezischt hat. So etwas wie: ›Können Sie nicht dafür sorgen, dass dieses Baby nicht mehr schreit? Nehmen Sie denn nie Rücksicht auf Ihre Nachbarn?‹ Und ich konnte nicht – Menschenskind, ich hatte ein Veilchen, und er tat so, als hätte er es gar nicht gesehen … und ich möchte nicht mehr dorthin zurück. Ich kann nicht.«
»Bridget, du solltest zumindest in der Schule Bescheid geben. Die sollten es wissen. Nur für den Fall … Du weißt schon …«
Sie blickt wieder auf. Schaut ihm in die Augen. »Lass das, Mark«, sagt sie. »Das ist meine Entscheidung. Tut mir leid. Ich hätte dich da nicht hineinziehen sollen.«
»Ja, aber das hast du. Ich bin …Bridget. Versteh doch, ich werde dir nicht sagen, was du zu tun hast, aber wenn du glaubst, es besteht auch nur die geringste Gefahr, dass er dich ausfindig macht … nimm zumindest meine Nummer. Falls du Angst hast. Ruf mich an, oder Tina. Einen von uns. Uns macht es nichts aus. Wir kommen. Wahrscheinlich sind wir schneller da als die Polizei.
Ich bewundere dich«, fährt er fort, und sie ist erstaunt. »Jetzt weiß ich, dass ich dich wirklich bewundere. Du bist eine mutige Frau, und ich habe den Eindruck, auch wenn ich weiß, dass das ein leeres Versprechen ist, dass es dir von jetzt an gut gehen wird. Aber Bridget, es gibt einen feinen Unterschied zwischen mutig und dumm.«
»Ja«, antwortet sie. »Ja, ich weiß.«
»Versprich es mir«, fordert er.
»Ja. Können wir nicht das Thema wechseln?«
»Okay«, antwortet Mark. »Ist in Ordnung. Solange du das weißt.«
»Ich weiß«, sagt Bridget. Und zu ihrem Erstaunen stellt sie fest, dass sie selbst daran glaubt. Sie steht auf und holt zwei Teebecher. Mark Carlyon sitzt am Tisch und schaut zu, wie sie im Raum hin und her geht. Jetzt verstehe ich, denkt er. Warum sie Männern so ungern in die Augen schaut. Wie es kommt, dass sie so wenige Informationen preisgibt. Sie hat Mumm. Ich wünschte, es gäbe etwas, was ich tun könnte, um ihr zu helfen.
»Jetzt berichte mal«, sagt er, während sie zum Kühlschrank geht und die Milch herausholt, »über die Elektrik. Zumindest die kann ich für dich ja wieder in Ordnung bringen.«