11
»Hallo?«
»Hallo, ich bin’s.«
»Da bist du ja endlich! Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid. Tut mir leid.« Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. Es ist schon nach zehn. »Tut mir leid«, wiederholt sie. »Es ist nur … uns ist die Zeit davongelaufen.«
»Kein Problem«, sagt Carol, und Bridget hört, dass sie sich eine Zigarette ansteckt. »Ich hab mir nur Sorgen gemacht. Du kennst mich ja.«
»Ja. Ich weiß. Und ich bin dir dafür ja auch dankbar.«
»Und, wie ist es? Hast du es dir schon bequem gemacht? Und schläft die Kleine?«
»Na ja, fast. Und ich denke, sie ist eher vor Erschöpfung umgekippt als wirklich eingeschlafen. Es hat ewig gedauert.«
»Na ja … neues Zuhause und so weiter …«
»Ja. Das und …« Bridget kichert, zum Teil aus Erheiterung, zum Teil aus reiner Müdigkeit. »Ach Gott, Carol: Mir ist es bis jetzt gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Was?«
»Na ja … dass sie bis heute noch nie allein geschlafen hat. Nicht in einem Zimmer, das sie nicht kennt.«
Carol trinkt irgendetwas mit Eiswürfeln. »Ach, mein Gott. Und, was hast du gemacht? Sie ist es doch gewöhnt, allein einzuschlafen?«
»Na ja, schon … aber nicht in einem fremden Bett in einem fremden Haus. Sie hat sich, seit Kieran fort ist, einfach immer in unserem Schlafzimmer in mein Bett gelegt. Du hast ein solches Gekreische noch nie gehört.«
»Ich wohne noch immer in Streatham, erinnerst du dich?«, sagt Carol. »Ich höre es jeden Abend.«
»Und die Tatsache, dass es hier eiskalt ist, macht die Sache auch nicht gerade besser. Er hat die Heizung offensichtlich seit dem Tag, als ich zum Vorstellungsgespräch hierher gekommen bin, ausgeschaltet gelassen. Wir werden gleich morgen früh losziehen und neue Bettdecken kaufen müssen. Jetzt schläft sie unter mehreren Mänteln, und ich habe die Wohnzimmervorhänge abgenommen und auf mein Bett gelegt. Ehrlich, wir können von Glück reden, dass die Leitungen nicht eingefroren sind.«
»Aber jetzt wird es doch langsam wärmer, oder?«
»Das würde es bestimmt, wenn ich den Boiler nur finden könnte. Offensichtlich haben wir hier ein vom Haupthaus getrenntes Heizungssystem, aber ich finde den Boiler einfach nicht. Um ehrlich zu sein, ich bin zu müde. Die Lichter waren aus, als wir hier angekommen sind, und ich habe eine halbe Stunde gebraucht und in der Dunkelheit mit einem Feuerzeug herumgesucht, bis ich den Sicherungskasten gefunden habe.«
»Ach, Darling, wie schrecklich. Hattest du Angst?«
Bridget lacht. »Nein. Wovor sollte ich denn Angst haben, wenn ich im Dunkeln durch ein riesiges, fremdes Haus wandere? Und Yasmin hing mir die ganze Zeit schreiend am Hosenbein. Genau genommen hatte ich zu viel anderes zu tun, als dass ich mir hätte Gedanken machen können, ob ich Angst habe. Hier regnet es in Strömen. Es hat in Dartmoor zu schütten angefangen und nicht mehr aufgehört, und es würde mich nicht wundern, wenn der Wind beinahe Sturmstärke erreicht hätte. Er hat mich ein paar Mal praktisch von der Straße gedrückt, als wir durch Bodmin gefahren sind. Ich hatte vor allem Angst, dass wir von einem herunterfallenden Dachziegel getroffen werden.«
»Habt ihr was gegessen?«
»Heinz Tomatensuppe und Käsetoast. Keine von uns beiden hatte großen Hunger. Und sie hat ja fast die ganze Fahrt über Chips gefuttert.«
»Aber jetzt schläft sie?«
Bridget seufzt. »Ja. Allerdings musste ich ihre Zimmertür offen und die Lichter angeschaltet lassen. Ich glaube kaum, dass ich lange für mich sein werde.«
»Hol dir einen Drink und steig in die Badewanne«, rät Carol.
Eine tolle Idee, denkt Bridget. Ein ausgedehntes Bad ist genau das, was ich jetzt brauche. Und ich würde eines nehmen, wenn wir heißes Wasser hätten. Und wenn die Badewanne nicht von Spinnweben überzogen wäre. »Ja, du hast recht. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«
»Übrigens, ich habe ein Geschenk für dich in den linken Gummistiefel der jungen Dame gesteckt. Eine halbe Flasche Wodka. Dachte mir, du könntest ihn gebrauchen.«
»Ach, Carol. Das war doch nicht nötig.«
»Es ist nur Asda«, antwortet Carol. »Nichts Besonderes. Ich dachte nur … na ja, ich wusste ja, dass du selbst an so etwas nicht denkst, und ich weiß, wie es ist, wenn man versucht, in einem fremden Bett einzuschlafen. Selbst wenn man nicht mehr sechs Jahre alt ist.«
»Du bist eine tolle Freundin, weißt du das?«
»Klar. Und jetzt bekomme ich als Belohnung für den Rest meines Lebens eine kostenlose Unterkunft für die Sommerferien.«
»Du weißt, dass du jederzeit kommen kannst.«
Plötzlich fühlt sich Bridget einsam. Die Sommerferien beginnen erst in sechs Monaten. »Du weißt, dass du willkommen bist«, fährt sie mit leiser Stimme fort. »Kannst du nicht früher kommen?«
»Nein«, antwortet Carol, und Bridget spürt einen Stich in der Magengrube. »Du wirst jetzt doch nicht rührselig werden«, fährt sie fort. »Ich komme, sobald wir das beide hinkriegen. Das weißt du doch.«
»Ja.« Bridget unterdrückt ein Schniefen und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Es wird schon gut sein. Morgen früh. Sobald du alles ausgepackt hast und dich allmählich zurechtfindest. Du machst das Richtige, das weißt du.«
»War er da?«, fragt sie, weil sie es sich einfach nicht verkneifen kann, an Kieran zu denken.
»Du bist erst einen halben Tag fort. Er hatte wohl kaum Zeit. Und im Pub ist noch nicht Sperrstunde, oder?«
»Er wird dermaßen …«
»Na, schön«, fällt ihr Carol ins Wort. »Er hat es mehr als verdient. Und außerdem kann ich daran nichts ändern. Also hör auf damit. Es ist müßig, daran zu denken. Geh und lass dir das Bad einlaufen.«
»Ja, natürlich.« Es hat keinen Zweck, ihr zu erzählen, wie düster die Lage im Augenblick aussieht. In ein paar Tagen wird es bestimmt besser sein.
»Schenk dir einen ordentlichen Schluck ein und nimm ihn mit ins Schlafzimmer. Ich garantiere dir, dass du im Nu einschläfst, egal, wie kalt es ist.«
»Okay«, antwortet sie.
»Ich ruf dich morgen an. Zumindest wissen wir, dass dein Telefon dort unten funktioniert, was?«
»Wir sind hier nicht in Sibirien«, sagt Bridget. »Nur in Cornwall.«
Ein Windstoß trifft die Seite des Gebäudes, rüttelt an den Fensterflügeln. Es kommt gar nicht in Frage, dass sie noch einmal über den Hof läuft, um Yasmins Gummistiefel zu holen, die irgendwo im Kofferraum vergraben sind.
»Schlaf gut«, sagt Carol.
»Danke, du ebenfalls.«
»Diese verdammte Alarmanlage vom Auto ist schon wieder losgegangen«, stellt sie fest. »Ich kann’s nicht fassen. Sei bloß froh, dass du bist, wo du bist. Ehrlich, Bridge. Es dauert bestimmt nicht lange, dann beneide ich dich.«
In der Pampa. Bei einem Wind, der sich anhört, als versuche jemand verzweifelt, durchs Dach hereinzukommen. Ach Gott, habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht?
»Gute Nacht«, sagt Carol.
»Gute Nacht«, antwortet sie. Legt auf und sitzt da, die Ellenbogen auf dem winzigen Küchentisch, das Gesicht in die Hände gestützt, und gestattet sich, ein paar dicke Tränen des Selbstmitleids über ihre Finger laufen zu lassen. Vor Yasmin darf sie nicht weinen: Hat einen Pakt mit sich geschlossen, wenigstens zu versuchen, es nicht zu tun. Aber das heißt nicht, dass ihr nicht fast den ganzen Tag zum Heulen zumute ist. Wie ist es nur gekommen, dass ich so einsam ende? Ich war mal hübsch und beliebt, und jetzt zähle ich zu jenen Menschen, die keiner bemerkt, wenn man ihnen auf der Straße über den Weg läuft. Nicht einmal Bauarbeiter bemerken mich mehr: Sie verstummen, wenn ich vorbeigehe.
Kein Wunder, denkt sie. Das Selbstmitleid, das du ausstrahlst, reicht aus, um jeden vernünftigen Menschen abzuschrecken. Aber es ist erstaunlich, wie schnell das geht. Vor zehn Jahren bin ich wegen des Aufsehens, das ich erregt habe, ungern an Baustellen vorbeigegangen. Jetzt tue ich das Gleiche aus genau dem entgegengesetzten Grund. Das Leben mit Kieran war wie das Tropfen von Wasser auf Stein: Man bemerkt die Wirkung nicht beim Zusehen, aber ein Jahrzehnt hat ausgereicht, die Schicht meiner Zuversicht bis auf den langweiligen grauen Lehm darunter auszuwaschen. Er war wie ein Vampir: hat mein Selbstwertgefühl aufgesogen, um sein eigenes aufzuplustern.
In der kombüsenartigen Küche kommt sie sich wie ein Seemann vor, der sich auf dem Meer verirrt hat. Hier drin ist es recht warm, weil sie den Backofen voll aufgedreht und die Tür aufgemacht hat, aber sie weiß, dass es ganz anders sein wird, sobald sie in den Flur tritt. Der Wind, der noch einen Gang zulegt, heult wie ein wildes Tier um das Gemäuer. Sie ist immer ein Stadtmensch gewesen: Hat mit ihrer Mum und ihrem Dad in Peckham gewohnt, bis sie erwachsen war, und wäre wahrscheinlich mit Yasmin dorthin zurückgekehrt, wenn sie die Möglichkeit hätte. Sie ist nie irgendwo allein gewesen, wo nicht zumindest der orangefarbene Schein der Straßenlaternen und hin und wieder das Geräusch von Schritten die Illusion heraufbeschworen hätten, dass jemand in der Nähe war. Hier draußen, meilenweit vom nächsten Ort entfernt … könnte alles Mögliche passieren, und keiner würde es mitbekommen.
Sie schiebt den Stuhl abrupt zurück. Das ist die Müdigkeit, wie Carol gesagt hat. Hier muss es besser sein als in Streatham. Es gibt nichts Schlimmeres, als von Menschen umgeben zu sein und zu wissen, dass keiner dir hilft. Diesen Weg wirst du jedenfalls nicht gehen. Du bist noch immer gesund, deine Tochter ist schön und fröhlich und liebevoll, und das Leben wird hier bestimmt besser. Muss besser werden. Morgen werden wir richtig dicke Daunendecken und ein paar Heizlüfter und Wärmflaschen kaufen, und ich werde den Wasserkocher, die Kleider und den Fernseher aus dem Auto holen, dann können wir es uns hier endlich gemütlich einrichten. Aber jetzt muss ich erst einmal schlafen.
Irgendetwas klappert draußen im Hof, lässt sie zusammenzucken. Sei nicht albern, denkt sie. Der Wind weht. Wahrscheinlich ist es ein Ast oder dergleichen, der sich gelöst hat und jetzt den Hügel hinunterrollt. Und inzwischen trommelt der Regen gegen das Fenster, als würde ein jugendlicher Verehrer Steinchen dagegenwerfen. Das hat nichts zu bedeuten. Er ist dir nicht gefolgt. Er wird im Büro gewesen sein, als du losgefahren bist. Das ist einfach die Natur, und du bist mittendrin.
Sie überlegt einen Augenblick, ob sie den Backofen nicht über Nacht anlassen soll, schaltet ihn dann aber widerwillig aus. Es hat keinen Zweck, zu testen, wie viel die Sicherungen aushalten; offensichtlich braucht es nicht viel, bis sie herausspringen.
Ins Schlafzimmer zu kommen ist, als betrete man eine Kühlkammer: Nachdem das Haus Anfang des Winters einen Monat leer stand, zittert es, weil es so vernachlässigt wurde. Beim Zuziehen der Vorhänge spürt sie, wie kalte Luft durch das Fenster hereinzieht, durch den uralten Fensterrahmen eindringt. Sie erinnert sich an ihren Vater, der im Winter, als sie noch ein Kind war und sie sich noch keine Kunststofffenster leisten konnten, mit einer Rolle Tesamoll durch das Haus gegangen ist und überall die Fenster abgedichtet hat. Ich werde morgen eine Rolle kaufen, denkt sie, wenn wir im Supermarkt sind. Die Liste wird ja immer länger.
Sie kickt sich die Schuhe von den Füßen und schlüpft voll bekleidet unter die Bettdecke, dicke Brokatvorhänge wie eine altmodische Tagesdecke obendrauf ausgebreitet. Wartet, dass das Bettzeug warm wird, dann kämpft sie sich unter den Decken aus ihren Jeans.
Normalerweise kann sie nicht schlafen, ohne sich zumindest die Zähne geputzt zu haben, aber der Gedanke an das eisige Wasser aus diesen Wasserhähnen ist schlimmer als die Aussicht, mit einem pelzigen Gefühl im Mund aufzuwachen. Sie streckt sich auf der Matratze aus – sie ist, wie sie feststellt, so gut wie neu und bequem. Ihre Matratze in Streatham war dermaßen hinüber – vom jahrelangen Gebrauch durchgelegen und verfleckt –, dass sie nicht einmal mehr versucht hatte, sie dem Trödler anzubieten. Hat sie einfach zurückgelassen, sodass sie jetzt das Problem der Wohnungsgesellschaft ist.
Es wird alles gut werden, redet sie sich immer wieder ein. Wenn du erst einmal gut geschlafen hast, sieht bestimmt alles besser aus. Sie knipst das Licht aus.
Dunkelheit. Echte, tiefe, samtige Dunkelheit von einer Art, wie sie sie noch nie erlebt hat. Die Schlafzimmervorhänge sind dünn, aber nichts – nicht einmal das geringste Zeichen, dass jenseits des Hügels ein Dorf liegt – dringt in den Raum. Da ist jemand, denkt sie. Im Haus, da ist jemand, ich spüre es. Da versteckt sich jemand, ich kann es nur hören, wenn die Lichter aus sind.
Kieran hat das immer gemacht: sich im Dunkeln versteckt. Das hat er immer getan, als sie zusammen wohnten, er hat ihr unter der Treppe im Flur aufgelauert, ist in der Nacht aufgestanden und ihr leise gefolgt, wenn sie auf die Toilette musste oder sich ein Glas Wasser holte, sprang hervor und packte sie von hinten, die Hand über ihren Mund gelegt, um den Aufschrei zu dämpfen. Er fand das lustig, jedenfalls am Anfang. Im Nachhinein betrachtet ist es eine eindrucksvolle Vorgehensweise, oder etwa nicht? Ihr die Möglichkeit zu geben, sich in den Hintern zu beißen, weil sie nicht bemerkt hat, dass seine »Späße« frühe Anzeichen dafür waren, was für ein brutaler Kerl er in Wirklichkeit war. Er war schon immer der Meinung gewesen, vieles von dem, was er tat, sei lustig. Das war seine Entschuldigung: Du hast einfach keinen Humor. Ich kann schließlich nichts dafür, wenn du keinen Spaß verstehst. Himmelherrgott, du bringst mich auf die Palme. Wie kann ich mit jemandem zusammenleben, der keinen Humor hat? Das ist das Problem mit solchen Schlägertypen. Würden sie es von Anfang an tun, dann würde wohl kaum eine Frau zulassen, dass sie bleiben. Aber es ist der schleichende Beginn, es sind die Steigerungen, die so heimtückisch sind, dass du sie nicht bemerkst, die dir zusetzen und dich in die Falle gehen lassen. Weil er mich danach, wenn ich vor Schreck zitterte, in die Arme nahm: Er hat mich getröstet und beruhigt und zugleich ausgelacht, was ich doch für ein Baby bin.
Und er hat sich nie entschuldigt.
Was ist, wenn er es ist? Was ist, wenn er hier ist?
Ein Windstoß, ein Klappern, und sie sitzt aufrecht im Bett, Licht an, Herzklopfen.
Sei nicht albern. Sei nicht albern. Er kann nicht hier sein. Er weiß nicht, wo du bist.
Was war das?
Der Wind. Es ist der Wind. Hör auf damit.
Ein so großes Haus. Dieser lange, lange Korridor, der sich von Zimmer zu Zimmer schlängelt. Der finstere Dachboden. Hier könnte alles Mögliche passieren, ohne dass ich es bemerke. Hier könnten längst alle möglichen Leute eingedrungen sein, ohne dass ich es mitbekomme.
Du hast die Türen abgeschlossen, Bridget. Die Türen nach draußen, die Türen zwischen Haupthaus und deiner Wohnung. Das sind starke, stabile Türen, und du hättest es gehört, wenn jemand versucht hätte hereinzukommen. Also, hör auf. Hör auf.
Ob ich mich wohl je daran gewöhne?
Wieder klappert es, draußen im Hof. Sie zuckt zusammen, der Schreck fährt ihr in die Glieder. Lauscht angestrengt. Wenn ich das Licht ausmache, sehe ich vielleicht, was da draußen ist.
Und wenn ich das Licht ausmache, dann bin ich im Dunkeln.
Bleib einfach im Bett. Bleib hier, wo es warm ist, morgen wird es bestimmt ganz anders sein. Du wirst schon sehen. Bei Tageslicht. Alles wird gut.