51
Er ruft sie früh am Morgen an, während sie sich ihre fünfte Tasse Tee zubereitet, noch immer im Morgenmantel, ganz benommen wegen der Tränen und weil sie kein Auge zugetan hat.
»Hallo, ich bin’s, Mark. Ich wollte nur nachfragen, ob es dir gut geht.«
»Ach, Mark. Danke. Ich bin okay.«
»Hast du überhaupt geschlafen?«
Sie lacht leise auf.
»Ich weiß, wie das ist«, erklärt er. »Weiß Gott!«
»So sollte es nicht sein.«
»Nein. Na ja, wir wollten doch alle perfekte Eltern sein, nicht wahr?«
»Ich wünschte«, sagt sie, »ich könnte jetzt mit meiner Mutter reden. Ich war so jung, als sie gestorben ist, ich hatte gar nicht die Gelegenheit … du weißt schon … schätzen zu lernen …«
»Hmm. Na ja«, antwortet er, »ich vermute, vieles wäre anders gekommen, wenn deine Eltern nicht gestorben wären.«
»Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Man kann ewig mit diesem Was-wäre-wenn weitermachen, nicht wahr?«
»Ja«, sagt Mark, »das könnte man. Wie geht es Yasmin heute Morgen?«
»Ich war noch nicht bei ihr.«
»Sie ist also nicht von allein aufgestanden?«
Sie ertappt sich dabei, dass sie den Kopf schüttelt, muss sich daran erinnern, dass er nicht hier im Raum ist.
»Nein. Wie viel Uhr ist es denn?«
»Kurz nach acht.«
»Gott. Na ja, ich denke, ich sollte mich dem Problem lieber stellen, wenn ich sie noch rechtzeitig für die Schule fertig haben will.«
»Du hast noch nicht mit ihr geredet? Seit du mich angerufen hast?«
»Ich wollte. Aber sie hat schon geschlafen. Oder so getan, was so ziemlich auf das Gleiche hinausläuft, wenn man versucht, mit jemandem zu reden.«
Sie hört ein Seufzen. »Ach, Bridget.«
»Ja«, antwortet sie schnippisch, »auf einen Vortrag über gute Kindererziehung kann ich jetzt wahrlich verzichten.«
Genau das ist es, Bridget. Wie du dich verhältst. In der einen Minute rufst du ihn Rat suchend an, in der nächsten beißt du ihm den Kopf ab.
»Entschuldigung«, sagt sie. »Entschuldige. Ich weiß, dass ich eine Heuchlerin bin.«
Ein Kichern. »Wenn du das sagst.«
Schweigen.
»Hat mir die Mühe erspart«, fügt er hinzu. Sie ist nicht sicher, wie viel davon Vorwurf und wie viel Spaß ist, aber sein freundlicher kornischer Akzent mildert es ab, macht es erträglich.
»Schau«, sagt er, »das kriegt ihr schon wieder auf die Reihe, ihr zwei. Und dann geht ihr zum nächsten Streit über. Dafür sind Kinder da, und irgendwann wird es eine Zeit geben, da schauen wir wehmütig auf diese Ausbrüche mit ›ich hasse dich‹ zurück. Sobald sie die Verlockungen von Newquay entdeckt haben und ihr ganzes Taschengeld für Koks ausgeben und mit alkoholisierten Freunden im Auto mitfahren.«
»Sie wird noch eine Weile nicht genug Taschengeld kriegen, um sich Crack kaufen zu können.«
»Heutzutage ist Crack ziemlich billig.«
»Na, ich ebenfalls«, antwortet Bridget. »Ich kann so billig sein, wie es nur geht.«
»Genau die richtige Einstellung«, sagt Mark. »Ich sehe dich dann unten bei der Schule.«
»Ja. Ach, und Mark?
»Hmmm?«
»Danke. Du weißt schon. Für – alles.«
»Gern geschehen«, sagt er. »Du kannst mir ja irgendwann einen Drink spendieren.«
Handelt es sich da wieder um ein Rendezvous? Schwer zu sagen. Sie beschließt, es zu ignorieren. »Wir sehen uns später«, sagt sie.
Sie geht in ihr Zimmer zurück, um sich anzuziehen, bevor sie Yasmin weckt. Will nicht so aussehen, als käme sie gerade vom Drehort von Misery. Zieht sich Jeans und einen Pulli an und bürstet sich wie wild die Haare. Ihre Hände sind ganz rot von all den Putzmitteln, die sie gestern verwendet hat. Ich muss mir unbedingt Gummihandschuhe kaufen. Schließlich bin ich jetzt Haushälterin. Die sind für diesen Beruf ein absolut notwendiges Handwerkszeug.
Falls ich den Job überhaupt behalte.
Ich lasse jetzt aber den Kopf nicht hängen. Bestimmt nicht. Das kriege ich schon irgendwie geregelt. Ich werde ihnen die Kosten für die chemische Reinigung ihrer Sachen aus meinem eigenen Portemonnaie erstatten. Vielleicht war das ja nur eine Drohung. Vielleicht hat er es nicht ernst gemeint, das mit Mr Gordhavo.
Während sie so nachdenkt, geistesabwesend auf ihre roten Augen im Spiegel starrt, bemerkt sie ein Geräusch. Ein Klopfen. Das aus dem Wohnzimmer kommt. Oh, mein Gott. Was jetzt?
Sie geht hinüber. Das Klopfen kommt jetzt von der Tür zum Haupthaus. Bridget steht einen Augenblick da und starrt auf die Türklinke.
Es ist Lily.
Sei nicht albern, Bridget, verdammt.
Irgendetwas ist in diesem Haus. Du weißt es. Es ist da, auch wenn du so tun möchtest, als gäbe es das nicht. Schau nach. Schau, was hinter der Tür ist.
Sie löst sich aus ihrer Starre und zieht den Riegel zurück.
Es sind die Bensons. Und sie haben ihre Mäntel und Straßenschuhe an; die Koffer stehen neben ihnen, ordentlich, von den gestrigen Rückständen gründlich befreit. Sie trägt wieder ihre Brille, hat die kleinen Gehörschutzstöpsel in den Ohren, den dezenten Verlobungsring am Finger.
»Hallo«, sagt sie verlegen. Was antwortet man jetzt bloß? Wie geht es Ihnen heute? Kann ich Ihnen helfen? Was möchten Sie? Bitte, bitte, sorgen Sie nicht dafür, dass mir gekündigt wird?
Allem Anschein nach sind beide Parteien verlegen. Die Bensons sagen eine Sekunde nichts, aber die Frau errötet ein wenig. Sie sieht erschöpft aus, denkt Bridget: So, wie ich mich fühle. Ich dachte, sie sei bei ihrer Ankunft blass gewesen, aber jetzt, mit den geröteten Wangen, sieht sie aus, als hätte jemand bei ihr den Kontrast heruntergedreht. Die Brille umrahmt Tränensäcke, die so auffällig sind, dass sie aussehen, als seien sie irgendwie aufgepumpt worden. Er sieht kaum besser aus. Er wirkt – vertrocknet.
»Hallo«, antwortet Mrs Benson schließlich. »Tut uns leid, Sie zu belästigen …«
»Ist schon in Ordnung«, sagt Bridget. »Ich war gerade im Begriff, Yasmin für die Schule zu wecken«, fügt sie hinzu, um darauf hinzuweisen, dass sie nicht viel Zeit hat.
»Wir sind nur gekommen … um zu sagen …«
»Na ja, die Sache ist die …«
»Wir haben überlegt … und wir haben beschlossen …«
»Letzte Nacht …«
»Die Sache ist die«, sagt er, »dass wir beschlossen haben, uns eine andere Unterkunft zu suchen.«
»Ach?«, Bridget ist bestürzt. »Es tut mir leid. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihr Zimmer bis Mittag wieder bewohnbar gemacht habe.«
»Das ist nicht nötig«, antwortet Mr Benson. »Wirklich. Es tut mir leid, es liegt nicht an dem Zimmer. Es liegt an dem – dem Haus. Im blauen Zimmer haben wir auch nicht besser geschlafen als …«
»Ich dachte nicht, dass Sie – ich möchte wirklich nicht, dass Sie … Können Sie nicht …?«
Er schüttelt den Kopf. Seine Frau ergreift seine Hand und starrt Bridget an.
»Keiner von uns beiden ist sonderlich abergläubisch«, hebt sie an. Wird rot und wendet den Blick ab.
»Aber wir …«, fährt er fort. »Ich weiß nicht, wie Sie es schaffen, hier zu leben, ganz ehrlich. Ich bewundere Sie.«
»Sehen Sie … es tut mir schrecklich leid. Ist es die Heizung? Ich weiß, wie es ist, wenn man nicht an ein altes Gemäuer wie dieses hier gewöhnt ist … ich kann die Heizung aufdrehen …«
Ihre Mienen sind nicht zu interpretieren, geheimnisvoll, ihr Tonfall freundlich. Es ist, als hätten sie Mitleid mit mir, denkt sie.
»Ich … verstehen Sie, die Vorhänge werden heute Nachmittag wieder in Ihrem alten Zimmer sein. Ich habe sie gestern Abend zum Trocknen neben den Herd gehängt, deshalb müssten sie …«
»Das ist es nicht«, sagt Mrs Benson. »Ehrlich. Aber wir wollen nicht bleiben.«
»Aber warum?« Ihr wird klar, dass das wie ein Klagelaut herausgekommen war.
»Meiner Frau«, sagt er, »gefällt es hier nicht. So einfach ist das.«
Die Röte auf den Wangen der Frau hat sich noch weiter ausgebreitet. Da steckt mehr dahinter, als sie verraten, aber es ist klar, dass sie nicht darüber sprechen wollen.
»Das tut mir leid«, sagt sie. »Wissen Sie, normalerweise bin ich nicht empfänglich für … kein Mensch würde mich als hysterisch bezeichnen. Aber … Verstehen Sie. Lassen Sie uns doch einfach so sagen, dass wir – dass wir uns eben überlegt haben, wie nett es wäre, ein paar Tage in St. Ives zu verbringen. Wir haben ein Zimmer im Tregenna Castle gebucht. Wir dachten, das ist mehr – dass dort halt mehr zu unternehmen ist, und wir haben schon immer mal dorthin fahren wollen … wissen Sie … die Tate …«
»Ich habe Yasmin gründlich ausgeschimpft«, erklärt Bridget. »Sie wird es bestimmt – ich verspreche Ihnen, dass sie nicht mehr in Ihren Bereich kommt. Ganz bestimmt nicht.«
»Nein, wirklich«, sagt Mrs Benson, »es ist in Ordnung. Es hat nichts mit ihr zu tun. Es tut mir leid, dass wir sie beschuldigt …« Wieder senkt sie den Blick, weigert sich, Bridget in die Augen zu sehen. »Sie ist scheinbar ein nettes kleines Mädchen. Es tut mir leid, dass sie verdächtigt wurde. Und machen Sie sich wegen Mr Gordhavo keine Sorgen. Wir werden Sie damit in keiner Weise in Verbindung bringen.«
»Ich …«, sie sucht verzweifelt nach Worten, nach einer Möglichkeit, die beiden umzustimmen, obwohl ein Teil von ihr ungeheuer erleichtert ist, dass sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben wird, dass ihr Job ihr allem Anschein nach vorläufig noch sicher ist. »Aber Ihre Flitterwochen …«, sagt sie hilflos.
»Das ist wirklich kein Ort für Flitterwochen«, stellt Mr Benson fest. »Wir haben uns entschieden. Wir beide meinen, dass wir etwas brauchen, was ein wenig …« Er blickt über die Schulter zurück, ihm scheint es die Sprache verschlagen zu haben. Dann wendet er sich mit einem demonstrativen Schulterzucken wieder um. »Wie auch immer«, beendet er seinen Satz.
»Ich kann Sie also wirklich nicht umstimmen?«
»Nein«, antwortet Mrs Benson entschieden. Scheint über ihre Bestimmtheit selbst erstaunt zu sein. »Nein, wirklich nicht. Wir wollen einfach abreisen. Vielen Dank.«
»Dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens mit dem Gepäck helfen«, bietet sie an.
»Nein, das geht schon.« Er bückt sich und schnappt seinen Koffer, als sie gerade die Hand danach ausstreckt. »Wir wollen Sie nicht weiter belästigen. Wir reisen einfach …«
»Auf Wiedersehen«, sagt Mrs Benson.
»Hm, Auf Wiedersehen. Und es tut mir so leid. Dass es Ihnen hier nicht gefallen hat. Wirklich sehr leid.«
Sie haben ihr bereits den Rücken zugekehrt und schleppen ihre Koffer in Richtung Treppe. »Es ist nicht Ihre Schuld«, stellt Mr Benson fest. »Das wissen wir.«
Sie steht in der Tür, während sie davongehen, und schaut ihnen nach, wie sie an der Treppenbiegung verschwinden. Komische Leute, wirklich komisch. Die seltsamsten, die ihr bis jetzt begegnet sind. Sollte sie durch die Zimmer laufen und nachsehen, ob Wertgegenstände fehlen? Ihnen die Treppe hinunter folgen und sie bitten, zu bleiben?
Am Ende tut sie nichts dergleichen. Yasmin muss aufstehen, sie muss sich an die Arbeit machen. Später wird sie Tom Gordhavo anrufen und es ihm mitteilen, aber jetzt hat die Schule Vorrang und dass die Waschmaschine eingeschaltet wird und sie noch eine Tasse Tee trinkt, um die Auswirkungen ihrer schlaflosen Nacht zu vertreiben.
Während sie durch ihr Wohnzimmer geht, hört sie, dass jemand die Treppe heraufgerannt kommt, und Mrs Benson ruft: »Ms Sweeny? Hallo? Sind Sie da?«
Sie macht kehrt und sieht sie an der Wohnungstür stehen. Sie ist ganz außer Atem, aufgeregt. »Ich wollte – sehen Sie, ich wollte Ihnen das auf den Esstisch legen, aber dann ist mir klar geworden, dass ich kurz mit Ihnen reden möchte.«
Sie hat ein Bündel Geldscheine in der Hand. Zehner: ein dünnes Bündel, genug für die Lebensmitteleinkäufe für eine ganze Woche. »Bitte«, sagt sie, »nehmen Sie das. Kaufen Sie Yasmin etwas. Sagen Sie ihr, dass es mir sehr, sehr leid tut. Sagen Sie ihr, wir wissen jetzt, dass sie es nicht war.«
Bridget schaut mit gemischten Gefühlen auf das Geld hinab. Das ist Geld. Du brauchst Geld. Widerwillig zieht sie die Hand zurück. »Nein«, antwortet sie, »das kann ich nicht. Nicht, wo Sie hier doch einen so schlimmen Aufenthalt hatten.«
Die Frau packt sie am Handgelenk und hält es fest. »Ms Sweeny«, sagt sie, »ich muss Ihnen das sagen. Ich glaube nicht, dass das hier ein gutes Haus ist. Tut mir leid. Ich muss es Ihnen sagen. Ich gehöre eigentlich nicht zu diesem Menschenschlag. Wirklich nicht. Ich glaube nicht an so etwas. Habe ich noch nie. Aber mit diesem Haus stimmt etwas nicht. Da ist etwas, und es ist nichts Gutes. Ich glaube nicht, dass Sie hier sicher sind. Ich glaube nicht, dass es ein gutes Ende nehmen kann, wenn Sie hierbleiben.«
Mit der Morgendämmerung setzt Schneefall ein, dicht und lautlos, er dämpft den Wind, der sonst immer um die Dachvorsprünge heult, und weckt sie auf, weil es auf einmal so still ist. Sie ist seltsam erleichtert, ihn zu hören, ihn in der Dunkelheit an dem Mansardenfenster vorbeiwirbeln zu sehen. Es fühlt sich an, als habe sich irgendeine Spannung gelöst, weil der Winter jetzt endlich richtig da ist, nicht mehr nur auf der Lauer liegt. Sie kniet sich auf das Bett, in dem früher Vera geschlafen hat – sie ist, obwohl sie ja reichlich Auswahl hatte, in dem Bett geblieben, das ihr ursprünglich zugewiesen wurde, weil es das am weitesten von der Tür entfernte ist und am wenigsten Zugluft abbekommt –, wegen der Kälte in eine Unmenge von Decken gehüllt, und stützt die Ellenbogen auf die Fensterbank, um hinauszuschauen. Sie hat noch nie richtigen Schnee gesehen. Jedenfalls keine so dicke weiße Schicht, die inzwischen alles, was sie jetzt sieht, bedeckt. Im Süden des Landes schneit es nur selten, und der Schnee, der in Portsmouth gefallen ist, war nass und feucht und wurde, wenn er überhaupt mal liegen blieb, im Nu grau und matschig.
Das hier ist jedoch etwas anderes – etwas richtig Schönes. Sie wünscht sich, sie hätte ihre Farben, ihre Stifte, obwohl sie bezweifelt, dass sie genügend Talent hätte, um dieses seltsam driftende Wesen einzufangen, das auf die Erde zuwirbelt, vom Seitenwind getrieben, spiralförmig hinabrieselt, liegen bleibt, sich aufhäuft, den grauen Garten bedeckt und das Dämmerlicht zum Leuchten bringt. Lily kratzt das Fenster frei, auf dem die Feuchtigkeit ihres Atems beim Auftreffen sogleich gefriert; schnell zieht sie die Hand zurück und schiebt sie wieder unter die Decken. Sie kann es sich nicht leisten, auszukühlen; aus Erfahrung weiß sie, dass Wärme, wenn sie einmal verloren ist, nur entsetzlich langsam wiedergewonnen werden kann.
Das Bootshaus sieht wie das Hexenhäuschen von Hänsel und Gretel aus: Es glitzert und ist wie ein Weihnachtskuchen glasiert. Es sieht warm aus da draußen, denkt sie: wie Schwanenfedern. Könnte ich doch nur irgendwie hier raus, da hinunterlaufen, mich darin zusammenrollen. Könnte ich nur …
Sie hört den Schlüssel in der Tür am Fuß der Treppe. O Gott, sie kommt. Schnell rennt sie durchs Zimmer und schlüpft unter ihre Bettdecke. Das macht sie, um zu verbergen, was sie anhat, obwohl die Blakemore inzwischen so durchgeknallt ist, ehrlich, dass sie es wahrscheinlich nicht einmal bemerken würde, wenn Lily Perlen und eine Tiara trüge. Seit es richtig Winter geworden ist, hat sich in den Mansardenzimmern eine solche Kälte ausgebreitet, dass man das Gefühl hat, einem würden jeden Augenblick die Glieder brechen. Und seit die Blakemore sie aus dem Wandschrank im Zimmer mit dem Himmelbett herausgelassen – sie hat keine Ahnung, wie lange sie da drin war, weil sie nach einer Weile jedes Zeitgefühl verlor – und hier eingesperrt hat, mit dem Nachttopf in der Ecke und einem wöchentlichen Freigang, um ein Bad zu nehmen, hat Lily als grundlegende Überlebensstrategie viel Zeit im Bett verbracht. Zumindest ist die Blakemore noch nicht auf die Idee gekommen, die Bettdecken der anderen wegzunehmen, und sie kann diese über und unter sich aufeinanderstapeln. Sonst wäre ich schon längst erfroren, denkt sie. Nicht etwa, dass der das etwas ausmachen würde. Die würde es nicht einmal bemerken.
Ich würde das ganze Haus in Brand stecken, denkt sie, während sie sich unter die vielen Decken kuschelt und lauscht, wie die Blakemore näher kommt, wenn ich nur an ein paar Zündhölzer gelangen könnte. Dann wäre es wenigstens für ein Weilchen warm. Und wenn das Haus abgebrannt wäre, könnten sie mich nicht länger zwingen, hierzubleiben, oder?
Sie bewegt sich unter den Decken. Diese haben im Gegensatz zur Luft im Raum noch ein bisschen Wärme von vorhin gespeichert. Gestern hat sie tatsächlich das Eis im Wasserkrug durchstoßen müssen, bevor sie etwas trinken konnte. Sie hat einen elektrischen Strahler mit einer Heizspirale im anderen Speicherraum entdeckt, aber sie wagt es nicht, ihn herüberzuholen, weil sie fürchtet, dass er gefunden wird und damit das Geheimnis der unverschlossenen Tür gelüftet werden könnte. Stattdessen schleicht sie hinüber, wann immer die Luft rein zu sein scheint – sie ist die meiste Zeit rein –, und kauert sich auf die Chaiselongue davor, in eine alte Eiderdaunendecke eingemummelt, aus der verfilzte Klumpen Gänsefedern auf den staubigen Boden rieseln.
Es ist für sie lebenswichtig, dass diese Tür offen bleibt. Andernfalls würde sie ebenso schnell an Langeweile sterben wie an Kälte, wenn sie nur an die Dachschrägen starren und darauf warten könnte, dass sich etwas tut. Nach drei Wochen – sie hat die Tage gezählt, indem sie Striche in den Verputz der Wand hinter ihrem Bett geritzt hat – hat sie schon lange nichts Neues mehr, was sie sich anschauen könnte, und ist deshalb gezwungen, immer wieder die zerfledderten Alben durchzublättern, in denen längst verstorbene Vorfahren steif und verängstigt vor längst verstorbenen Fotografen posieren. Sie weiß, dass Weihnachten war und vorüber ist, aber sie ist sich nicht sicher, wann das genau war. Sie weiß auch nicht, ob das neue Jahr schon angefangen hat.
Sie schläft viel. Träumt von Portsmouth und ihrer verschwundenen Mutter. Denkt sich Geschichten aus, um die Angst zu vertreiben, was noch alles auf sie zukommen könnte.
Jetzt ist die Blakemore auf der Treppe. Sie bewegt sich inzwischen langsam wie ein verwundetes Tier: behindert durch abgelaufene Slipper und hundert Jahre alten Whisky. Ich sollte hoffen, dass sie nicht eines Tages noch stolpert und stürzt, denkt Lily, und sich gar das Genick bricht. Ich würde ja nie hier herauskommen. Weiß Gott, wann die mich verhungert finden würden, so wie bei den alten Leuten, von denen man hin und wieder hört. Lily rollt sich zusammen, zieht die Ärmel ihrer Strickjacke herunter, um sicherzustellen, dass sie das Seidenkleid darunter bedeckt. Seide ist erstaunlich warm. Wärmer jedenfalls als der knielange Rock und die Schulbluse, die sie anhatte, als sie hier eingesperrt wurde.
Mit einem schrammenden Geräusch geht die Tür auf.
Heute Morgen hat Mrs Blakemore Make-up aufgelegt. Das nützt auch nichts: Macht im Gegenteil alles nur noch schlimmer, weil das Puder und der Lippenstift auf ihrer Haut, die seit Wochen nicht gewaschen wurde, verlaufen. Trotz ihrer eigenen zweifelhaften Hygiene kann Lily sie durch den Raum riechen: abgestandener Schweiß, fettige Haare, irgendetwas leicht Käsiges. Erwachsene nehmen schneller Gerüche an als Kinder, das hat sie schon früher festgestellt. Es ist, als könnte junge Haut den Schmutz abweisen, als sei sie imprägniert.
Lily setzt sich im Bett auf, achtet darauf, dass ihre untere Hälfte bedeckt bleibt. Mrs Blakemore schlurft über die Bodendielen, stellt das Tablett auf die einzige Kommode neben dem Kaminvorsprung. Lily reckt den Hals und sieht, dass ihre heutige Ration aus einem Stück Brot besteht, dünn bestrichen mit Margarine, und etwas, was wie ein Teller übrig gebliebenen Kartoffelpürees, vermischt mit den dunklen Blättern irgendeines Wintergemüses aussieht. Mensch, sie hätte es wenigstens ein bisschen anbraten können: Ein echtes englisches Frühstück zubereiten können. Ein Apfel und ein Glas Milch stehen neben dem Teller und – ach, welch ein Luxus! – ein Becher, aus dem Dampf in die eisige Luft aufsteigt.
»Ich hab dir eine Tasse Tee gemacht«, sagt Mrs Blakemore. Setzt so etwas wie ein schauerliches Lächeln auf. Ihr dick aufgetragener leuchtend roter Lippenstift ist in die Falten ihrer Oberlippe verlaufen und hat ihre oberen Schneidezähne verschmiert. Sie sieht aus, als hätte sie kleine Tiere gegessen, roh.
Lily erinnert sich an ihre Manieren und stammelt ein Dankeschön. Die Gefängniswärterin ignoriert sie, ergreift das Tablett von gestern mit dem leer gekratzten Geschirr und macht sich daran, leise wieder dahin zurückzugehen, von wo sie gekommen ist. Sie wird erst morgen wieder aufkreuzen. Wieder vierundzwanzig einsame Stunden. Ich muss es noch einmal versuchen. Zumindest möchte ich das Geräusch einer anderen menschlichen Stimme noch ein paar Augenblicke hören. Manchmal habe ich nämlich den Eindruck, als hätte ich meine eigene Stimme verloren, als würden sich die Geräusche, die ich höre, wenn ich spreche, nur in meinem Kopf abspielen.
»Mrs Blakemore«, wagt sie zu sagen. »Bitte. Darf ich hier heraus?«
Mrs Blakemore bleibt stehen, hat ihr den Rücken zugekehrt und überlegt. »Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee wäre«, antwortet sie schließlich.
»Aber Mrs Blakemore«, sagt Lily, »draußen schneit es. Hier gibt es keine Heizung. Mir ist kalt. Mir ist so kalt.«
»Unsinn«, entgegnet Mrs Blakemore. »Du hast jede Menge Decken. Das ist das Problem mit euch jungen Leuten. Ihr denkt nie daran, euch warm genug anzuziehen. Wickel dich ein, Mädchen. Oder beweg dich ein bisschen. Dann wird dir schon warm werden.«
Lily blickt sich in dem Mansardenzimmer um: die kahlen Dielenbretter, die leeren Betten, die dicht nebeneinander unter der Dachschräge stehen. Sie könnte auf der Stelle laufen, denkt sie. Liegestützen machen, so wie man es bei der Armee tut. Aber sie hat nicht einmal Schuhe. Die Wärme wird so schnell aus ihren Füßen entweichen, wie sie sie wieder aufwärmen kann. »Bitte, Mrs Blakemore«, wiederholt sie. »Bitte. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich mache keine Schwierigkeiten mehr.«
Sie dreht sich zu ihr um, hat wieder dieses schaurige Grinsen im Gesicht. »Na, wo habe ich das wohl schon einmal gehört?«
Die ist durchgeknallt. Völlig meschugge. Es ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht längst, aber sie wird mich hier nicht mehr rauslassen. Ich werde für immer hier eingesperrt bleiben, bis ich groß genug bin, mich zu befreien, falls ich je die Kraft dazu aufbringe.
»Bitte«, sagt sie wieder. »Ich kann nicht … ich kann nicht ewig hierbleiben. Es … ich habe hier nichts zu tun. Mir ist so kalt. Ich bin einsam.«
Wieder dieses Grinsen. »Na ja, wir sind alle einsam, meine Liebe«, sagt sie. »Ich bin selbst einsam, weiß Gott. Noch. Aber bald wird Hughie nach Hause kommen. Dann haben wir Gesellschaft. Ich würde sogar behaupten wollen, dass er Zeit finden wird, auch dir ein bisschen Gesellschaft zu leisten.«