16
Die Alarmanlage des Autos geht los, und Carol weiß, dass er wieder da ist. Sie hat Monate gebraucht, bis ihr klar wurde, dass es einen Zusammenhang zwischen der losheulenden Autoalarmanlage und dem Auftauchen von Kieran gibt, aber selbstverständlich besteht eine solche Verbindung. Dieser verdammte Idiot in der Erdgeschosswohnung lässt die Haustür wohl immer offen, wenn er hinausläuft, um sie auszuschalten, und dann muss Kieran die Gelegenheit nutzen, um sich hereinzuschleichen und sich in dem Schrank unter der Treppe zu verstecken.
Scheiße, denkt sie. Ich wusste ja, dass es mich am Ende erwischt. Ich habe Bridget gesagt, dass es mir nichts ausmacht, aber das stimmt nicht. Er wird sehr, sehr wütend sein, und ich werde irgendwie damit fertig werden müssen.
Der Typ unten braucht immer fünf Minuten, bis er hinausgeht und sich um seine Alarmanlage kümmert. Carol hegt den Verdacht, dass das Absicht sein könnte, dass er seine Nachbarn genau wissen lassen möchte, wem der Audi gehört, der am Straßenrand geparkt ist, aber es ist wahrscheinlicher, vermutet sie, dass er nackt schläft und langsam ist. Sie hat ihn ein paar Mal gesehen, wie er mit der Fernbedienung an seinem Schlüsselbund versuchte, die Alarmanlage auszuschalten, aber dabei nichts anderes tat, als die Türen an die hundert Mal zu öffnen und zu verschließen, bis er die ganze Straße mit seiner protzigen Anlage geweckt hatte. Sie muss Kieran vertreiben, bevor er in seinen Calvin-Klein-Unterhosen und dem schwarzen Satinmantel über seiner künstlich gebräunten Haut die Stufen hinunterjoggt und die Tür offen stehen lässt, während er die Anlage abschaltet. Es fällt ihr schwer, zu glauben, dass er beim Zurückkommen nicht bemerkt haben will, dass sein ehemaliger Mitbewohner auf der Lauer liegt, aber das hat er nicht. Der sieht doch nur sich selbst.
Sie geht ans Fenster, schiebt die Vorhänge zurück.
Jemand duckt sich an der dunklen Stelle zwischen den großen Mülltonnen und der Hecke. So macht er das also. Natürlich.
Sie schiebt das Fenster hoch. Beugt sich hinaus.
»Kieran?«, schreit sie.
Niemand antwortet, aber sie spürt, dass jemand an der dunklen Stelle hinter der Mülltonne erstarrt. Da ist er: Ich weiß, dass er da ist. Und er hat mich gehört, aber irgendwie glaubt er, wenn er sich ruhig genug verhält, würde ich nicht merken, dass er da ist.
»Kieran?«, schreit sie noch einmal. »Ich weiß, dass du da unten bist.«
Noch immer keine Antwort.
»Schau zu, dass du von hier verschwindest, Kieran«, schreit Carol. »Sie ist nicht da.«
Jetzt regt sich hinter den Mülltonnen eindeutig etwas. Er hat sie also gehört.
Die Haustür geht auf, und der Mitbewohner von unten erscheint auf der Stufe. Er schaut beim Klang ihrer Stimme hinauf und sieht, dass sie sich aus dem Fenster beugt. Verschränkt die Arme und starrt nach oben. Carol strengt sich an, sich an seinen Namen zu erinnern. Er hat sich weder ihr noch irgendeinem der Nachbarn je vorgestellt. Sie kann sich nur an die Unmenge von Werbepost halten – Angebote für Kreditkarten, Kreditangebote, teure Reisebroschüren –, die sich immer auf seiner Fußmatte türmt.
»Nick«, ruft sie, »machen Sie die Tür hinter sich zu.«
Er schaut ein bisschen verblüfft drein, dass sie ihn mit seinem Namen anspricht. Stiert sie wie ein Kugelfisch an und geht die Stufen hinunter.
»Im Ernst«, ruft Carol, »machen Sie die Tür zu. Vielleicht ist es Ihnen nicht klar, aber da ist jemand hinter den Mülltonnen.«
Er fährt zusammen. Er ist tatsächlich für eine Sekunde erschrocken, denkt sie. Wenn es etwas gibt, wovor ein Yuppie mehr Angst hat als vor einem Autodieb, dann ist das ein Straßenräuber.
»Scheiße«, ruft Carol. »Komm da raus, ja?«
Kieran richtet sich auf, tritt hervor.
Nick stellt sich ihm auf der Treppe in den Weg. Steht halb in, halb vor der Tür wie ein kleines Kind, das ganz dringend auf die Toilette muss. Beide blicken Kieran an. Carol unterdrückt den Drang, loszulachen. Er sieht heute Abend richtig absurd aus. Hat schon immer unter der Wahnvorstellung gelitten, ein Actionheld zu sein – Action, die nie zu mehr gereicht hat, als zur Nennung im Telefonbuch –, und heute Abend hat er sich genau dementsprechend angezogen. Er trägt Schwarz. Schwarzer Pullover, schwarze Jeans, schwarze Schuhe und – sie brüllt vor Lachen beinahe los, als sie das sieht – einen kleinen schwarzen Hut, der seine schwarzen Haare bedeckt. Mein Gott, denkt sie: Er braucht nichts weiter als ein paar Schmutzstreifen auf den Wangen, dann könnte er glatt für Ross Kemp einspringen.
»Verpiss dich, Kieran!«, ruft sie.
Kieran tritt ein Stück vor, steht auf dem Weg, die Arme defensiv vor dem Körper verschränkt. »Du hast mir nicht zu sagen, dass ich mich verpissen soll«, schimpft er.
»Verpiss dich«, wiederholt sie.
»Ich möchte nur mein kleines Mädchen sehen«, sagt Kieran.
»Nicht um ein Uhr in der Nacht«, erklärt Carol.
Die Alarmanlage heult immer noch. Nick scheint unschlüssig zu sein, was er tun soll. Er schaut zum Auto, schaut zu Carol hinauf, schaut Kieran an, der zwischen ihm und der Straße steht, bleibt aber wie angewurzelt an Ort und Stelle.
»Du kennst dich damit überhaupt nicht aus«, sagt Kieran. »Und ob«, antwortet Carol, »glaub mir. Gegen dich ist eine einstweilige Verfügung erlassen worden, Kieran, und du hältst dich einfach nicht daran, was? Du kannst nur dich selbst dafür verantwortlich machen.«
»Ich möchte einfach nur mein Kind sehen, verdammt«, wiederholt Kieran.
»Na ja, das geht nicht«, antwortet sie. »Sie möchte dich nicht sehen. Und außerdem ist sie gar nicht da. Keine von beiden.«
Sie weiß, dass sie schroff ist, aber sie ist so wütend – auf ihn, auf die ganze Situation, auf seine sture Rüpelei, auf die Art und Weise, wie er seine Frau und sein Kind als seinen Besitz betrachtet, mit dem er machen kann, was er will, und auf die Tatsache, dass es an ihr hängenbleibt, es ihm zu verklickern, weil Bridget zu große Angst vor seiner Reaktion hat, um es selbst zu tun – und sie kann es sich nicht verkneifen: Sie findet, dass er das kriegt, was er verdient. Genau. Nein, eigentlich hätte er eine härtere Strafe verdient.
»Sie sind fort«, fügt sie verächtlich hinzu. »Fort, um von dir wegzukommen.«
Für einen Augenblick ist das einzige Geräusch das Heulen der Alarmanlage. Dann fragt er: »Was meinst du damit?« Und seine Stimme klingt plötzlich anders. Nicht länger nach Schmeichelei, nicht länger nach dem Daddy, der schlecht behandelt wird. Sowohl sie als auch Nick hören die angedeutete Drohung in seiner Stimme.
»Sie sind fort«, wiederholt sie. »Fortgezogen. Ausgezogen. Haben die Schlüssel abgegeben und sich aus dem Staub gemacht.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast es gehört«, ruft sie. »Jetzt verpiss dich und lass uns alle in Ruhe.«
Das ist nicht gut so, denkt sie. Es ist ein Uhr in der Nacht, und ich bin fix und fertig, und wahrscheinlich mache ich alles nur noch schlimmer. Aber pfeif drauf. Seit wann hat Kieran eine sanfte Behandlung verdient?
Nebenan geht ein Fenster auf. Eine Stimme, schlaftrunken, brüllt: »Haltet das Maul da draußen! Wisst ihr, wie viel Uhr es ist? Hier gibt es Leute, die schlafen wollen!«
»Tut mir leid«, schreit Carol zurück, »es wird nicht mehr lange dauern.«
»Was heißt das, wird nicht mehr lange dauern?« Eine andere Stimme, die einer Frau, ermutigt durch das Eingreifen des Nachbarn, ist von dem Mansardenfenster zwei Stockwerke weiter oben zu vernehmen.
»Was meinst du damit, es wird nicht mehr lange dauern?«, fragt Kieran.
»Seid leise! Ihr alle! Geht schlafen!«, bellt die erste Stimme.
»Und schaltet endlich diese beschissene Alarmanlage aus!«
»Verpisst euch doch alle!«, schreit Kieran. Steuert auf die Haustür zu.
Nick, der ihn näher kommen sieht, saust in den Eingang zurück und knallt ihm die Tür vor der Nase zu. Carol geht jetzt, da eine Barriere zwischen ihr und der Straße ist, zu ihrer eigenen Wohnungstür, kommt heraus und läuft zur Treppe. Nicks Anwesenheit ermutigt sie. Er mag ja ein Taugenichts sein, aber jetzt, da er schon einmal hier ist, hat er keine Möglichkeit, sich da einfach herauszuhalten.
Das Hämmern fängt an. Kieran schlägt gegen die Haustür. Nick lehnt sich dagegen, die Augen weit aufgerissen, Schweiß steht ihm auf der dick eingecremten Stirn. Er sieht verängstigter aus, als ich mich fühle, denkt Carol.
»Rufen Sie die Polizei«, stottert er. »Um Himmels willen, rufen Sie die Polizei. Er versucht, hereinzukommen!«
Klasse, denkt sie. Ein paar Mal wären wir sehr dankbar gewesen, wenn Sie das getan hätten. Trotzdem macht sie sich daran, die Treppe hinunterzugehen, während das Hämmern noch etwas lauter und das Geräusch durch Kierans Tritte gegen die Tür verstärkt wird. Kieran wird immer wütender. Sie geht an Nick vorbei und legt den Finger auf die Taste der Gegensprechanlage. Ich hätte mir diese Sicherheitsschlösser besorgen sollen, denkt sie. Hätte mir eine Sicherheitskette anschaffen sollen.
»Geh, Kieran«, sagt sie wieder. »Sie sind nicht mehr da. Sie sind ausgezogen. Hier hast du nichts mehr zu suchen.«
Ein erneutes Bombardement erschüttert die Tür. Kierans Stimme heult jetzt, da er jede Kontrolle verloren hat, wie die eines Wolfs durch die Tür. »Lass mich rein! Lass mich rein! Ich will mein Kind sehen! Lass mich rein, du Schlampe!«
Die Zeitschaltuhr lässt das Treppenhauslicht ausgehen. Selbst in der Dunkelheit sieht sie das Weiß in Nicks Augen. Morgen früh wird er die ganze Sache völlig anders darstellen, denkt sie. Bis er im Büro ankommt, wird er ganz allein mit Kieran fertig geworden sein.
»Lass mich rein!«, brüllt Kieran. »Verdammt, lass mich rein!«
Und ein wenig weiter, um die Ecke der Streatham High Road ertönt eine näher kommende Sirene.