30
»Igitt.«
Bridget unterdrückt den Drang, die Augen zu verdrehen. Die Igitt-Phase wird vorübergehen. Sie wird vorübergehen wie Thomas, die kleine Eisenbahn und Pingu sowie die Phase, als sie ihre Windel immer herunterzog, um nachzuschauen, was drin war. Das geht vorbei.
»Kaninchenscheiße«, sagt Yasmin.
»Kaninchen-Aa«, erwidert Bridget. »Das ist Kaninchen-Aa.« Zu spät bemerkt sie, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hat.
»Dann eben Kaninchen-Aa.«
»Früher hast du Erbsen gemocht.«
»Lily sagt, dass das Kaninchenscheiße ist. Sie sagt, die Kaninchen warten, bis es Nacht ist und keiner hinschaut, dann scheißen sie, und du isst das auf.«
»Tja, da täuscht sich Lily«, antwortet Bridget, »und sie sollte auf ihre Wortwahl achten. Macht es ihrer Mutter denn nichts aus, wenn sie so daherredet?«
»Sie hat keine Mutter«, stellt Yasmin fest, als sei das das Selbstverständlichste auf der Welt.
»Ach, tut mir leid.«
Yasmin fängt an, die Erbsen einzeln aus dem Reis herauszupicken. Zumindest benutzt sie Messer und Gabel dafür, denkt Bridget.
»Iss aber noch ein bisschen Hühnchen«, befiehlt sie.
Yasmin wackelt mit ihren Zöpfen, spießt ein Hühnchennugget auf und kaut es.
»Mund zu«, sagt Bridget.
Yasmin spült das Essen mit einem Schluck Saft hinunter und macht sich wieder daran, die Erbsen aus dem Reis zu picken. »Blumenkohl ist Kuhhirn«, verkündet sie.
»Auch das behauptet Lily, oder?«
Heftiges Nicken.
»Komm schon, du musst ein paar Erbsen essen.«
Sie verzieht das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. »Puuuh.«
Bridget beschließt, ein wenig abzuwarten, bevor sie sie weiter bedrängt. »Also, welche war Lily noch mal? Ich dachte, das wäre eines der Aykroyd Kinder.«
»Nein. Du kennst sie doch. Lily.«
Sie atmet ein paar Mal tief durch. Alle Kinder sind der Meinung, ihre Sorgen seien die allerwichtigsten, und halten jeden, der nicht sofort weiß, wovon sie reden, für dumm. Kein Grund, verärgert zu reagieren.
Ich brauche die Gesellschaft von Erwachsenen. Ich liebe sie, aber ich muss dringend ein paar Freunde finden.
»Nein«, sagt sie, »das kann ich nicht behaupten.«
»Na ja, sie weiß jedenfalls, wer du bist.«
»Sind wir uns schon begegnet?«
»Ja.«
»Wann?«
»An dem Tag, als wir Sardinen gespielt haben.«
Bridget schaut sie mit verständnislosem Blick an.
»Verstecken«, erklärt Yasmin.
»Iss wenigstens ein bisschen was vom Reis.«
Sie nimmt eine Gabel voll und verschüttet die Hälfte, während sie sie zum Mund führt.
»Wie sieht sie aus?«
»Größer als ich. Braune Haare. Ein bisschen zerzaust. Dürr.«
»Ist sie ein bisschen älter?«
Yasmin nickt. »Lily ist neun«, sagt sie. Dann korrigiert sie sich: »Mehr oder weniger.«
Mehr oder weniger? Was soll das denn heißen?
Sie kann sich vage an das Mädchen erinnern. Dünn und bleich, mit Haaren, die aussahen, als hätte man sie ihr in der Küche mit einem stumpfen Messer geschnitten. Ich war es nicht. Ich war es nicht, verflucht. Was hat sie nicht getan? Ich war es nicht, verflucht …
»Und sie flucht immer so?«
»Ach, Mum.«
»Ich möchte nicht, dass du so fluchst.«
»Huuu-huu«, sagt Yasmin.
»Was möchtest du zum Nachtisch? Joghurt oder eine Banane?«
»Banane.«
»Vielleicht möchte sie mal kommen und mit dir spielen?«, fragt Bridget.
Yasmin fährt herum und starrt sie an. Wie erbärmlich von mir, mein Kind als Mittel einzusetzen, um selbst Freunde zu finden. Das Kind muss ja irgendwie mit einem Erwachsenen in Verbindung stehen.
»Vielleicht, wenn Chloe morgen kommt?«
Plötzlich klingt Yasmin herablassend: »Ich glaube nicht, dass das nötig ist, Mum«, sagt sie.
Sie ist ein bisschen beleidigt. »Ach. Na schön. Sorry.«
»Ist schon okay«, sagt Yasmin. »Wir sehen uns ja häufig. Es ist nur – sie mag keine Erwachsenen.«
»Das kann vorkommen.« Es gibt schließlich auch viele Erwachsene, die keine Kinder mögen. »Was mag sie an uns denn nicht?«
»Alles.«
»Alles?«
»Lily sagt, dass man Erwachsenen nicht über den Weg trauen kann.«
»Das tut mir leid«, antwortet Bridget. »Aber das glaubst du doch nicht auch, oder?«
Yasmin schweigt.
Bridget verspürt einen Anflug von Schuldgefühlen. Was immer man auch tut, man wird nicht in der Lage sein, zu verhindern, dass es Auswirkungen haben wird. Ich habe es nicht selbst getan, aber ich habe ihn nicht davon abgehalten, als er ihr den Arm brach.
»Tut mir leid, Baby«, sagt sie. »Wirklich. Aber du weißt doch, dass es auch Erwachsene gibt, denen du vertrauen kannst, oder?«
»Lily sagt, dass man das nicht kann. Lily sagt, dass sie am Ende alle gegen dich sind.«
»Ach, Schätzchen. Sie muss ja ein sehr schlimmes Leben haben, wenn sie so denkt. Unternimmt die Schule denn nichts dagegen?«
»Nein«, antwortet Yasmin. »Sie sagt, die sind die Schlimmsten von allen.«
»Ach, mein Schatz«, erwidert Bridget. »Na ja, du kannst ihr jedenfalls ausrichten, dass sie hier jederzeit willkommen ist. Machst du das?«
Yasmin verzieht das Gesicht. Schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Ich habe es ihr nämlich schon gesagt. Dass du okay bist. Aber sie – sie möchte sich nicht anfreunden. Mit dir.«
»Na schön«, antwortet Bridget. »Wie auch immer.«
»Tut mir leid«, sagt Yasmin.
»Glaub mir«, stellt Bridget fest, »es macht mir nichts aus, wenn ein neunjähriges Mädchen nicht meine Freundin sein will.«
Allerdings bin ich darüber so erschüttert, dass ich selbst wie eine Neunjährige klinge.
In einem anderen Zimmer läutet das Handy.
»Das Handy klingelt«, stellt Yasmin fest.
»Danke, du Schlaubergerin. Wo ist es?«
»Das ist dein Telefon«, antwortet Yasmin. »Wie du ja immer hervorhebst.«
»Du darfst erst nach draußen gehen, wenn du aufgegessen hast.«
Yasmin zuckt mit den Achseln und verdreht die Augen. So, wie es amerikanische Jugendliche machen. »Klaro.«
Bridget kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, während sie aus dem Zimmer geht. Das ist das Schwierigste an der Kindererziehung: der Drang loszulachen, wenn Frechheit stil- und fantasievoll daherkommt. Das Telefon steckt in ihrer Handtasche, wie ihr jetzt einfällt. Im Wohnzimmer. Die Klingelmelodie »Chocolate Salty Balls« läuft gerade zum dritten Mal, als sie es, ganz unten, unter dem leeren Kalender und der Ersatzstrumpfhose vergraben, ertastet. Beim Herausziehen drückt sie auf die Annahmetaste und hält sich das Handy ans Ohr.
»Hallo?«
»Du bist jetzt so was von dran«, sagt er.
»Kieran«, antwortet sie. Überlegt, ob sie die Verbindung gleich unterbrechen soll, hält sie aber. Ich muss mir ein neues Handy besorgen, denkt sie. Ob er mich wohl mit Hilfe der Anruflisten ausfindig machen kann?
»Wenn ich dich finde«, sagt er, »dann bist du so was von dran!«
»Lass mich in Ruhe, Kieran«, zischt sie.
»Denk nicht einmal dran«, antwortet er, »mir zu sagen, dass ich mich verpissen soll.«
»Das hab ich nicht. Ich hab gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst.«
»Halt die Klappe, verdammt! Halt die Klappe!«
»Was willst du, Kieran?«
»Ich möchte dir eine letzte Chance geben. Sag mir, wo meine Tochter ist, sonst finde ich es selbst heraus, und dann …«
»Genau deshalb sage ich es dir nicht«, fällt sie ihm ins Wort. »Hör auf, mich anzurufen.«
»Ach, ja? Und wie willst du das ändern?«
»Ich werde ab jetzt nicht mehr drangehen, wenn ich sehe, dass du das bist. Ich werde nicht mehr abnehmen.
Wenn du nur anrufst, um uns zu bedrohen, nehme ich nicht mehr ab.«
Er geht nicht darauf ein.
»Ich möchte mit meiner Tochter reden.«
»Aber sie möchte nicht mit dir reden«, entgegnet sie barsch.
»Es ist nicht deine Sache, das zu bestimmen.«
»Und ob«, antwortet sie.
»Verdammt, ich werde … wart’s nur ab, Bridget. Wart’s nur ab. Du kannst dich nicht ewig verstecken.«
Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, ihn zu ärgern. Die Entfernung vermittelt ihr ein Gefühl von Macht, das sie vor einem Monat noch nicht gehabt hätte.
»Du klingst verdammt jämmerlich, kleiner Mann. Kleiner Hitler. Weißt du denn nicht, dass deine Drohungen der Grund waren, warum wir überhaupt weggezogen sind? Du bist ein solcher Jammerlappen. Deshalb hast du alles an mir ausgelassen, nicht wahr? Hast deine Familie verprügelt, weil du dich gegenüber Leuten, die so groß sind wie du, nicht durchsetzen konntest.«
»Leck mich doch, Bridget«, sagt er.
»Ja«, spottet sie. »Das ist gut. Du hast es ja schon immer mit Worten gehabt, nicht wahr, Kieran?«
»Ach, leck mich doch!«, wiederholt er. »Das kannst du nicht machen! Du kannst mir meine Tochter nicht vorenthalten!«
»Sonst machst du was?«, fragt sie triumphierend. »Rufst du dann die Polizei?«
Schweigen.
»Für den Fall, dass du es vergessen hast, Kieran Fletcher«, knurrt sie, »eigentlich sollte die Polizei dich von ihr fernhalten. Eine kleine Sache namens Einstweilige Verfügung, ja? Erinnerst du dich?«
»Du bist eine verlogene Hexe«, stellt er beleidigt fest.
»Ja, aber das bin ich nicht, oder? Leck mich, Kieran. Nur weil du dich nicht unter Kontrolle hattest, mussten wir wegziehen, und du wirst nicht mehr in unser Leben treten. Nie mehr, hörst du mich? Du kannst dich verpissen, und du kannst mich bedrohen, so viel du willst, aber du wirst sie nie mehr wiedersehen. Kannst mit deinen Fäusten tun und lassen, was du willst, du Scheißkerl!«
Ihre Stimme ist zu einem Kreischen angeschwollen. Sie hasst ihn, hasst ihn aus tiefstem Herzen. Hasst ihn wegen der jahrelangen Angst, wegen der Platzwunden und gebrochenen Knochen, wegen des Ausdrucks im Blick ihrer Tochter, den sie jetzt schon seit Wochen nicht mehr gesehen hat.
»Du wirst uns nie finden. Hörst du mich? Es ist vorbei! Geh und such dir eine andere, mit der du so umspringen kannst!«
Bridget drückt den Daumen auf die Taste, um das Gespräch zu beenden, und wirft das Handy aufs Sofa. Es prallt von einem Kissen ab, fällt auf den Boden und rutscht unter den Sessel. Bridget schlingt die Arme um sich, schiebt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie fühlt sich zittrig, stark, schwach, den Tränen nahe, mutig. Sie fühlt sich frei und gefangen, wütend und zufrieden. Sie hat ihm Bescheid gestoßen. Hat ihm endlich die Meinung gegeigt. Ihm alles ohne Angst vor Vergeltung oder Konsequenzen ins Gesicht gesagt. Richtig, denkt sie. Und jetzt führen wir unser Leben weiter. Ich werde mir ein neues Handy kaufen. Dieses da auf dem Boden liegen lassen. Soll es doch klingeln, bis die Batterien leer sind.
Sie dreht sich um und will in die Küche gehen.
Yasmin steht in der Tür. Sie ist leichenblass. Als hätte sie ein Gespenst gesehen.