6
Die Statuetten wollen einfach nicht an ihrem Platz stehen bleiben.
Seit das Haus an Feriengäste vermietet wird, gibt es hier nur noch drei dieser Figürchen. Die Familie wollte eigentlich gar nichts aufstellen, was so leicht in eine Tasche passt, aber die Agentur hat ihnen klargemacht, dass die Art von Mietern, die sich lieber für Herrenhäuser in Cornwall als für Ferienwohnungen oder Villen in Spanien entscheiden, meist enttäuscht sind, wenn diesen Häusern die Nippsachen fehlen, so wie sie immer ein altes Metallbettgestell einer modernen, keimfreien Bettcouch vorziehen. Selbst Amerikaner geben sich mit antiquierten Nasszellen zufrieden, wenn sie im ganzen Haus genügend angeschlagene Meißener Figurinen und Ölgemälde der umliegenden Landschaft vorfinden.
»Jetzt aber«, murmelt er, während er durch das Speisezimmer geht und feststellt, dass sie schon wieder umgedreht wurden: Mit heruntergezogenen Mundwinkeln starren Charles II., Prinz Albert und Disraeli mit Blick auf den Spiegel über der Anrichte stur geradeaus.
Daran ist er inzwischen gewöhnt. Seit seiner Kindheit passiert das immer wieder – er erinnert sich, wie seine Großmutter vor sich hin gemurmelt hat, so, wie er es jetzt tut, wenn er die Figuren wieder umdreht –, und dass die starren und missbilligenden Gesichter im Spiegel nun nicht mehr wie damals, als er noch ein fantasievoller Teenager war, die Macht besitzen, bei ihm ein Kribbeln im Nacken auszulösen. Im Laufe der Jahre hat die Familie alles ausprobiert – Posterstrips, sogar Sekundenkleber –, aber nichts scheint sie an Ort und Stelle zu halten. Es ist eben eine der Besonderheiten dieses Hauses. Ein weiterer Grund, warum kein Familienmitglied es haben wollte, als Großmama 1975 am Fuß der hinteren Treppe ihren einsamen Alkoholikertod starb.
Er hat den Rest von Frances Tylers Habseligkeiten in eine Mülltüte verstaut und trägt sie zum Schuppen hinaus. In der Tüte befinden sich Kleidungsstücke, Schuhe und andere Sachen, die eigentlich nicht in die Feuchtigkeit hier draußen gehören, aber er ist der Meinung, dass sie genau das verdient hat, nachdem sie ihn so Knall auf Fall im Stich gelassen hat. Sie ist schuld daran, dass das heute für ihn ein verdammt langer Tag war, an dem er vergeblich auf zwei Bewerber und die einzige Interessentin hatte warten müssen, die schließlich aufgekreuzt ist, und er wird froh sein, wenn er von hier wegkommt. Nach Einbruch der Dunkelheit wird es in diesem Haus nicht gerade besser. Als er und seine Schwester noch Kinder waren, hatten sie sich immer geweigert, nach Sonnenuntergang hierher zu kommen; sie waren richtig hysterisch geworden, obwohl ihnen gestattet wurde, zusammen in einem Zimmer zu schlafen, wenn ihre Eltern sie für eine Nacht hierlassen wollten. Nicht etwa, dass das häufig der Fall gewesen wäre: Selbst im Alter von fünf Jahren wusste er bereits, dass mit Granny irgendetwas nicht ganz in Ordnung war. Jetzt erinnert er sich, warum: Es liegt nicht nur daran, dass es auf Rospetroc viele dunkle Ecken gibt und Schatten, die sich rätselhafterweise bewegen; es sind auch die Geräusche. Getrippel und Gemurmel; seltsames Klappern in anderen Zimmern und Geraschel, als streiche Seide über Seide.
In alten Gemäuern gibt es immer Geräusche. Das weiß er nur zu gut, nachdem er sein ganzes Leben in solchen gewohnt hat. Aber sein eigenes Haus gibt Geräusche der Anpassung von sich: Ein Ächzen und ein dumpfes Klopfen, wenn es sich mit der Wärme oder Kälte ausdehnt oder zusammenzieht; das Knarren eines losen Dielenbretts, das Ruckeln von Fensterrahmen im Wind. Nicht diese erwartungsvolle Stille, die den Schluss nahelegt, dass sich jemand hinter der nächsten Ecke versteckt, den Atem anhält und nur darauf wartet, hervorzustürzen. Nicht das Gefühl, jemand spähe hinter den Vorhängen hervor und unterdrücke sein Lachen.
Wird sie durchhalten?, fragt er sich. Ich kann das nicht alle paar Monate durchmachen. Sie scheint … es scheint etwas zu geben, womit sie hinter dem Berg hält, das ist mal sicher. Wird sie das Haus ausräumen und verduften? Oder gehört sie nur einfach zu jenen Menschen, die vor irgendetwas davonlaufen? Dieser Job lockt seltsame Vögel an. Normale Leute würden das nicht auf sich nehmen: die Abgeschiedenheit, die unablässige Schufterei, für Sauberkeit zu sorgen und jener Sorte von Menschen gegenüber diskret und tolerant zu sein, die wir hier manchmal als Gäste haben. Und für ehrgeizige Leute ist der Lohn nicht hoch genug.
Sie hatten schon eine Menge Angestellte, und keiner ist geblieben, nicht mal die Ehepaare. Schriftsteller, Künstler, enteignete Farmer aus Zimbabwe, Hippies, Leute mit Ambitionen im Touristikbereich, Aussteiger, Geschichtsfreaks, Schulhausmeister im Ruhestand, Osteuropäer, für die fünfhundert im Monat plus Unterkunft samt Nebenkosten wie ein Vermögen geklungen haben muss. Doch einer nach dem anderen hat gekündigt (oder wie im Fall von Frances Tyler auch nicht), seine Siebensachen gepackt und sich in Richtung Zivilisation aufgemacht. Sie haben in den meisten Fällen Chaos hinterlassen – kaputte Sachen und Schmutz, zerwühlte Betten und unverschlossene Türen – und verbreiteten dann im Dorf Gerüchte, die es praktisch unmöglich machten, selbst für Großereignisse wie Hochzeiten Hilfskräfte zu finden.
Warum muss die Arbeiterschicht nur so verdammt abergläubisch sein?, denkt er. Es ist ja schön und gut, die Daphnedu-Maurier-Geschichte den Touristen auf die Nase zu binden, aber wenn die Einheimischen anfangen, daran zu glauben, dann führt das nur zu Chaos. Er dreht die Figurinen um, sodass sie wieder in den Raum blicken, hebt den Müllsack auf und steuert auf die Hintertür zu.
Im Innenhof, wo er nun nicht mehr von über anderthalb Meter dicken Mauern umgeben ist, hat sein Handy wieder Empfang und piepst zwei Mal. Es ist ärgerlich, dass der Handyempfang hier so unzuverlässig ist, aber so ist es schließlich fast überall auf dem Land. Als seien die Telefongesellschaften in eine große Verschwörung gegen die keltischen Randgebiete verwickelt. Er wirft einen Blick auf sein Handy, bemerkt den Hinweis auf seine Mailbox und wählt eine Nummer, um die Nachrichten abzuhören. Es fällt der für Cornwall typische leichte Nieselregen, aber er bleibt im Freien, weil er sofort keinen Empfang mehr hätte, wenn er sich irgendwo unterstellen würde.
Drei Nachrichten. Eine von fünfzehn Uhr: Seine Frau möchte die Fahrt von Sheffield nicht auf sich nehmen, es tut ihr leid und sie hofft, dass er es versteht, dass es keinen Zweck hat, die ganze Strecke zurückzulegen und ihrer beider Zeit zu verplempern. Tom drückt auf die 3-Taste und löscht die Nachricht. Mach du dir nur keine Sorgen darum, deine Zeit zu verplempern, denkt er. Ich hänge hier den ganzen Tag herum und warte auf dich.
Die zweite Nachricht ist um 15 Uhr 15 eingegangen. Ein Bewerber, der zum Vorstellungsgespräch kommen wollte, muss leider kurzfristig absagen.
»Ja, gut«, sagt er laut. »Zumindest hat er so viel Anstand und ruft an. Was immerhin mehr ist als bei dem anderen.«
Die dritte Nachricht stammt von Bridget Sweeny, um vier Uhr. Ihm fällt die Uhrzeit auf, weil sie da unmöglich schon in London gewesen sein kann. Die ist scharf auf den Job, denkt er. Stellt sie sich auf dem Parkplatz bei der Raststätte in Exeter vor, wie sie, während sie telefoniert, neben ihrer kleinen Rostlaube hin und her läuft. Sie sieht selbst mitgenommen aus, denkt er. Müde, aber vielleicht ist das nicht so ungewöhnlich mit einem sechs Jahre alten Kind und ohne Mann. Vielleicht bin ich zu argwöhnisch. Sie sieht aus wie jemand, der eine Pause braucht.
Und möglicherweise wie jemand, flüstert ihm eine leise Stimme zu, der nicht allzu viele Möglichkeiten hat, fortzugehen, sobald sie erst einmal hier ist.
»Hallo, Mr Gordhavo«, sagt sie. »Hier ist Bridget Sweeny, die Bewerberin von dreizehn Uhr. Ich möchte nur sagen, dass es mir gefallen hat, das Haus zu besichtigen und Sie kennenzulernen und …« Er hört, wie sie innehält, um zu überlegen, hört, dass sie ihre Worte sorgfältig wählt, damit sie nicht zu eifrig klingt, nicht zu verzweifelt. Er registriert es mit einem Hoffnungsschimmer. Sie würde eine Sechsjährige schließlich nicht unmittelbar vor Weihnachten aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, wenn sie dafür nicht triftige Gründe hätte. »… und ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich gerne kommen und für Sie arbeiten würde, wenn Sie mich für geeignet halten. Ich habe mir das Dorf und die Schule angeschaut, und ich finde, dass … na ja, das tut nichts zur Sache … Jedenfalls möchte ich Ihnen meine Telefonnummer geben, nur für den Fall … Sie wissen schon …« Sie leiert eine Reihe von Zahlen herunter: eine Handynummer, kein Festnetzanschluss. Das ist eines der Zeichen für finanzielle Veränderungen, die Welt der nur bei Bedarf abgerufenen und bezahlten vertragsungebundenen Dienstleistungen ist ebenso ein Zeichen für mangelnde Kreditwürdigkeit wie für alles andere. »… und ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören. Danke. Auf Wie… Ach, da fällt mir noch etwas ein: Ich kann eigentlich sofort anfangen. Wann es Ihnen passt. Okay. Also dann, Tschüs.«
Tom hat die Strecke durch den Hof zurückgelegt, schließt den Schuppen auf. Die kahle Glühbirne surrt leise, während sie zum Leben erweckt wird und den Raum beleuchtet, in dem seit hundert Jahren die Spinnen ungehindert ihre Netze spinnen. Das ist die ehemalige Schmiede, Ketten hängen von den Balken, ein Futtertrog für die Tiere kaum dreißig Zentimeter über ihm, aus dem der Staub der Holzwürmer auf seinen Kopf rieselt, als mit seinem Eintreten der Wind hereinweht. Der Schuppen wird nur als Stauraum für Sachen genutzt, die zu kaputt, zu hässlich und selbst für den Dachboden zu nutzlos sind. Dinge, von denen die Leute dachten, sie könnten irgendwann einmal zumindest als Anzündholz dienen, die aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit gerieten, als neue Ladungen schöner Holzstämme, die eher der Vorstellung der Touristen von Brennholz für die großen Kamine von Rospetroc entsprachen, neben der Eingangsveranda aufgestapelt wurden. Hier riecht es nach Fäulnis und Käfern.
Das Problem bei Familien wie der unseren ist, dass wir einfach nichts wegwerfen können, denkt er. Sobald irgendwas einem aus der Familie mal etwas bedeutet hat – und sei es nur, dass er es gekauft hat –, sind wir von Natur aus nicht mehr in der Lage, es loszulassen, wie unpraktisch das auch sein mag. Es geht um Geschichte (zumindest um jenen Teil, der uns in positivem Licht darstellt) und Besitz – selbst Kleidungsstücke bleiben in den Truhen und Schränken, bis die Motten sie so zerfressen haben, dass nur noch ein Haufen brauner Fusseln übrig ist. Dieses Haus zum Beispiel: Es gab keinen einzigen Gordhavo – oder genauer gesagt Blakemore –, der nach Großmutters Tod hier leben wollte, aber es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, es zu verkaufen. Für das, was dieses Haus abgeworfen hätte, hätten wir den halben Felsen kaufen können, bevor er bei der Schickeria von Fulham so beliebt wurde, und jedes der Ferienzimmer in den Fischerdörfern Cornwalls hätte doppelt so viel Mieteinnahmen abgeworfen wie die Räume hier, und außerdem wäre die Wahrscheinlichkeit weit größer, dass sie ausgebucht wären.
Ja, aber wenn wir es verkauft hätten, hätten wir es ausräumen müssen. Es ist weit besser, das der nächsten Generation zu überlassen, denkt er. Und erschaudert. Weiß der Himmel, was da oben auf dieser Plattform liegt oder in einem der anderen Nebengebäude. Die Leiter muss schon vor Jahrzehnten verschwunden sein, und keiner hatte je irgendeinen Grund, da hinaufzusteigen und nachzuschauen. Auf diesem Anwesen gibt es so viele Stellen wie diese. Keiner war beispielsweise im Kohleschuppen, seit die Heizung auf Öl umgestellt wurde – er weiß nicht einmal mehr, wo sich der Schlüssel befindet –, und so viel er weiß, könnte der Zwischenboden des Bootshauses inzwischen heruntergebrochen sein. Jedenfalls war zu seinen Lebzeiten niemand mehr dort, abgesehen davon, dass das Vorhängeschloss ausgewechselt und ein Schild angebracht wurde: BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR. Der Teich ist voller Algen und zugewuchert, weil die Quelle, von der er gespeist wird, zu schwach ist, um ihn klarzuhalten, und er kann sich nicht vorstellen, dass das Bootshaus je sonderlich reizvoll gewesen sein kann, nicht einmal zu den Glanzzeiten des Hauses.
Mensch, wir leben heute ganz anders, denkt er. Andere Leute würden uns für verwöhnt halten, weil wir ganze Gebäude verfallen lassen, aber wir besitzen einfach zu viele. Die Wahrheit ist schlicht und ergreifend, dass wir zu viele haben.
Halb wirft er die Tüte auf den freien Flecken zu seiner Rechten, halb lässt er sie fallen. Hört, dass etwas zerbricht, und verspürt bei diesem Geräusch einen Anflug von Genugtuung. Das wird ihr eine Lehre sein, dass man sich nicht einfach ohne ein Wort aus dem Staub macht.
Bridget Sweeny. Die sieht nicht aus, als würde sie mit dem erstbesten Surfer durchbrennen, der ihr im Sommer über den Weg läuft. Sie schien sich von der Arbeitsbelastung nicht abschrecken zu lassen. Hat keine einzige dumme Frage über die Geschichte des Hauses gestellt oder eine von diesen albernen Bemerkungen über die Atmosphäre gemacht. Sie war ihm nicht wie eine jener Frauen vorgekommen, die beim ersten Problem gleich hysterisch werden. Hat einen recht vernünftigen Eindruck gemacht.
Er knipst im Schuppen den Lichtschalter aus, während er sich zum Gehen umdreht, und im Haupthaus springt die Sicherung heraus. Sie wird wahrlich vernünftig sein müssen, denkt er, während er sich unter dem sternenlosen Himmel über den Hof vorwärtstastet.