14

Ich kann es nicht fassen. Ich kann es einfach nicht fassen. Ich – ich fühle mich überrannt. Dafür gibt es kein anderes Wort. Überrannt. Mein Haus wird nie mehr einen sauberen Eindruck machen. Es ist, als hätte sie den Krieg mitgebracht. Das Haus könnte genauso gut voller Nazis sein. Schlimmer noch. Ein Nazi hätte zumindest so viel Selbstrespekt, dass er sich schämen würde. Die da – mein Gott, ich öffne mein Haus, und mir wird es in gar keiner Weise gedankt. Nicht den geringsten Anflug von Verlegenheit.

Weiß Gott, was sie noch alles mit hierher gebracht hat. Die Syphilis, wahrscheinlich, und die Schwindsucht. Ich kann es nicht fassen, dass ich tatsächlich das Kind einer Prostituierten unter meinem Dach beherberge. Wir werden alle an namenlosen Krankheiten zugrunde gehen, die von den Docks von Portsmouth hier eingeschleppt wurden. In der Schule von Meneglos hat es noch nie Läuse gegeben. Nie. Wir werden zur Zielscheibe des Gespötts werden.

»Widerlich«, sagt sie laut. »Du bist widerlich.«

Lily Rickett, die Haare zerzaust und von ihrem Kopf abstehend wie ein Vogelnest, funkelt sie von der anderen Seite der Spülküche wütend an. Ihre Wangen sind gerötet, doch trotz der seit zehn Minuten andauernden Quälerei ist nicht die kleinste Träne zu entdecken. Lily weint nicht. Hat nicht mehr geweint, seit sie fünf Jahre alt war. Die Heulerei bringt einem gar nichts ein, hat sie herausgefunden, außer zumeist eine Ohrfeige. »Hör auf damit«, sagt sie.

»Komm her.«

»Nein.«

»Komm hierher, Lily.«

»Nein. Du kommst mit diesem Ding nicht in meine Nähe.« Felicity Blakemore starrt auf den Nissenkamm hinab, um dessen Metallzinken ein Knäuel ausgerissener Haare gewickelt ist. Sie sehen aus wie der Pelz eines wilden Tieres. In Wahrheit sehen sie genau so aus wie etwas, was vom Kopf dieses verwahrlosten Kindes stammen könnte. Wie schaffen es Leute heutzutage bloß, ihre Kinder so verwildert aufwachsen zu lassen? Sie hat gar nicht bemerkt, dass sie den Kamm so fest umklammert, dass ihre Handfläche von den Abdrücken zweier Dutzend scharfer kleiner Nadelstiche gezeichnet ist.

»Komm schon«, sagt sie. »Das ist ja alles deine Schuld. Hättest du keine Läuse in dieses Haus eingeschleppt …«

»Wenn du noch einen Schritt näher kommst, beiße ich dich«, sagt Lily.

»Sei nicht albern.«

»Ich meine es ernst.«

»Das muss getan werden. Du kannst nicht den Rest deines Lebens so herumlaufen. Deinetwegen habe ich das schon bei den anderen machen müssen.«

»Na ja«, antwortet Lily, »ich wette, bei denen hast du nicht versucht, ihnen die Haare auszureißen.«

Sie spürt, dass sie immer wütender wird. »Na ja, die haben ja auch nicht ihre – ihre Parasiten – an alle anderen weitergegeben.«

»Woher weißt du das? Warum gibst du mir die Schuld? Könnte ja auch einer von denen gewesen sein. Ich bin nicht das einzige Kind im Haus, das weißt du. Könnte ja eines von deinen tollen Kindern gewesen sein.«

»Sei nicht albern.«

»Was?«

Es entsteht eine Pause, in der sie sich wütend anfunkeln. Mit solch unverhohlener Frechheit konfrontiert, muss Felicity Blakemore an sich halten, um ihre gute Kinderstube nicht zu vergessen. Sie muss warten und die Zähne zusammenbeißen, bis sie ihre Stimme wieder so weit unter Kontrolle hat, dass sie weitersprechen kann.

»Die anderen kommen vielleicht nicht aus der allerbesten Gesellschaftsschicht«, sagt sie, »aber es ist ganz offensichtlich, dass es hier nur eine gibt, die weder Seife noch Waschlappen kennt. Jetzt komm her. Je schneller du kommst, desto schneller hast du es hinter dir.«

Lily verschränkt die Arme und schaut sie herausfordernd an. »Nein.«

»Wenn du nicht freiwillig kommst, muss ich dich zwingen.«

»Das möchte ich sehen.«

»Na, schön«, schnauzt sie. Schiebt den oberen Riegel der Tür zum Garten zu, der außerhalb der Reichweite des Kindes ist. Lily macht einen Satz in Richtung Küchentür, aber zu spät. Felicity Blakemore hält ihren dürren Arm mit stählernem Griff fest, dreht sie herum und ruft: »Hugh! Hughie, komm doch mal!«

Lily fuchtelt und tritt vergeblich nach ihrer Gefängniswärterin. »Lass los! Lass los, lass los!«

Die Tür wird aufgestoßen, und Hugh erscheint. »Hallo!«, sagt er. Er ist fünf Jahre älter als Lily und beinahe doppelt so groß. Die Ernährung mit Pommes frites und Essensresten ist dafür verantwortlich, dass Lily im Vergleich zu ihren Altersgenossen klein und blass ist.

»Halt dieses Kind fest«, befiehlt ihm seine Mutter.

»Aber gern«, antwortet der Sohn. Er ist jederzeit für eine kleine Rauferei zu haben. Das war schon immer so. Schon in der Grundschule stand er in dem Ruf, ein Rowdy zu sein, was ihm letztes Jahr sehr zugute kam, als er nach Eton wechselte. Er steht da, die fleischigen Hände in die untersetzten Hüften gestemmt, und mustert den Hausgast. »Macht sie Schwierigkeiten?«

»Offenkundig wähnt sie sich über den Nissenkamm erhaben.«

»Klar«, sagt Hugh. »Das kriegen wir schon hin.«

»Bitte«, fleht Lily, ein bisschen zu spät. »Das tut weh.« – »Na ja«, antwortet Mrs Blakemore, »vielleicht hättest du daran denken sollen, bevor du Läuse in dieses Haus eingeschleppt hast.«

Selbst Hugh kann erkennen, wie unlogisch diese Feststellung ist. Aber er ist in einem Alter, in dem die Dummheit von Erwachsenen für ihn eher nützlich als verachtenswert ist, und so verzichtet er darauf, sie zu kommentieren. »Es gibt ja eine Alternative, wenn sie sich die Haare nicht kämmen lassen will«, sagt er zu seiner Mutter.

Es dauert einen Augenblick, bis Lily die Feststellung verarbeitet hat, dann stürzt sie in Richtung der Tür, die ins Freie führt. Sie springt, um an den Riegel zu kommen, es misslingt ihr, sie springt wieder, dann dreht sie sich mit gebleckten Zähnen um und presst sich mit dem Rücken gegen die Wand. Wie eine in die Ecke gedrängte Ratte, denkt Mrs Blakemore. In den Stallungen, wenn wir die Terrier auf sie hetzen.

Hugh durchquert mit zwei Schritten den Raum und stürzt sich auf das Mädchen wie ein Frettchen auf ein Kaninchen. Lily fällt zur Seite gegen die Spüle, kickt mit den nackten Füßen um sich, brüllt wie ein wütender Affe. Sie verteidigt sich so wild, dass sie seinem Griff – beinahe – entkommt. Aber dann, er ist inzwischen auf Hundertachtzig, packt er fester zu. Er hat jede Menge Übung – mit seiner Schwester, den Jungen aus dem Dorf, den jüngeren Schülern im Internat –, und er genießt den Kampf. Genießt die körperliche Konfrontation mehr als alles andere auf der Welt, aber das würde er nie im Leben zugeben. Sie vermittelt ihm das Gefühl, stark, vital und lebendig zu sein. Und im Laufe des letzten Jahres hat sich diesem Vergnügen noch ein anderes Element hinzugesellt.

»Komm her«, sagt er.

Sie kratzt ihm über das Gesicht und wird sofort durch seinen Handrücken bestraft. »Hör auf!«, zischt er. Er kriegt mit jeder Hand eines ihrer Handgelenke zu fassen und dreht sie zu einem Doppelnelson nach hinten. Und jetzt japst sie und windet sich, nach vorn gebeugt, und er wirft seiner Mutter einen triumphierenden Blick zu. Nur er und Lily wissen, dass das Gerangel und ihr Tiergeruch bei ihm zu einer sofortigen und vollen Erektion geführt haben.

»Braver Junge«, sagt Felicity. »Gut. Und jetzt hältst du sie einfach fest, während ich die Schere hole.«

Sie ist knochig zwischen seinen Händen. Ihr Körper bebt, während sie keucht, und reibt versehentlich gegen ihn. »Scheißkerl«, zischt sie. Mit einer Mutter wie der ihren weiß sie nur zu gut, was da gegen ihren Hintern drückt. »Verdammtes Dreckschwein.«

Hughie lächelt. »Du kennst dich ja mit Dreckschweinen aus«, sagt er. »Aber eigentlich bist du eines. Hättest du dir in deinem Leben jemals die Mühe gemacht, dich zu waschen, wärst du jetzt nicht in dieser Lage.«

»Doch, wäre ich«, antwortet sie. »Dafür würdest du schon sorgen, oder?«

Er wird wütend. Schiebt ihre Arme hoch, bis sie vor Schmerzen schreit, dann zieht er sie enger an sich, um ihr zu zeigen, wer hier der Boss ist.

Hughie gefällt es, wenn Evakuierte im Haus sind. Sobald man sich erst einmal an der Spitze der Hackordnung befindet, muss der Ehrgeiz darin bestehen, die Zahl der Menschen, die einem untergeordnet sind, zu vergrößern.

Seine Mutter kommt mit dem Kamm in der einen Hand und der Küchenschere in der anderen zurück, die stark genug ist, um die Knochen toter Vögel durchzuschneiden. Als Lily sie sieht, widersetzt sie sich wieder ihrem Gefängniswärter und tritt vergeblich um sich.

»Jetzt wehr dich nicht«, sagt Felicity Blakemore. »Wenn du dich wehrst, machst du es nur schlimmer.«

Das Haus der verlorenen Kinder
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