19
Sie wartet nicht auf die anderen. Die würden ja auch nicht auf sie warten, und sie ist einfach zu glücklich. Sie will nicht, dass die anderen ihr Glücksgefühl zerstören. Das ist mein Tag, denkt sie. Mein Tag. Heute habe ich eine Auszeichnung erhalten, und dabei habe ich noch nie zuvor einen Preis bekommen.
Sie kämpft sich durch das Schultor, wird von anderen Schülern angerempelt, die jetzt, am Schuljahresende, alle hinausrennen, um in die langen Sommerferien zu starten, und sie wird vorübergehend vom grellen Licht geblendet. Während sie alle im Schneidersitz die stundenlange Versammlung über sich ergehen ließen – selbst eine Schule mit nur sechzig Schülern kann die Preisverleihung bis Mittag ausdehnen –, ist die Sonne zwischen den Wolken hervorgebrochen und taucht die Felder rund um Meneglos in Gold.
Ich habe gewonnen, denkt sie. Ich habe einen Preis gewonnen. Sie drückt sich die erste – und letzte – handgeschriebene Urkunde, auf der ihr Name steht, mit Ausnahme ihrer Geburtsurkunde, an die Brust, während sie von der Gruppe davonschlendert. Niemand bemerkt, dass sie geht. Niemand möchte, dass sie bleibt. Auf dem Schulhof wird gerade mit einem Baseballspiel begonnen, und niemand wird sie in seinem Team haben wollen. Das weiß sie, ohne sich der Demütigung der Teamzusammenstellung auszusetzen. Aber Lily ist es egal. Es ist ihr völlig schnuppe. Sie war ihr ganzes Leben lang eine Außenseiterin. Das fällt ihr kaum mehr auf.
Das hier können sie mir nicht wegnehmen. Das ist etwas, was sie mir nicht mehr nehmen können. Ich kann von allen Schülern dieser Schule am besten zeichnen, und das kann mir keiner nehmen.
Plötzlich hat sie eine Welt voller Möglichkeiten vor Augen. Ich kann Künstlerin werden. Wenn ich groß bin. Dafür zahlen die Leute Geld. Viel Geld. Die alte Blakemore redet ständig davon, wie viel ihre blöden Bilder wert sind, und dabei sind meine viel besser. Meine Kinder sehen wenigstens wie Kinder aus. Ihre wirken wie kleine Erwachsene mit riesengroßen Kürbisköpfen obendrauf. Wie Zwerge. Meine sehen wenigstens so aus, als könnten sie sich bewegen. Das hat Mrs Carlyon gesagt. Vor der ganzen versammelten Schule. Sie hat gesagt, ich sei die beste Zeichnerin, die sie je unterrichtet hat, und das können sie mir nie mehr nehmen.
Weil sie nicht gewohnt ist zu lächeln, zuckt ihre Wange, schmerzt ein wenig, während sie die Straße entlanggeht. Da sind Blüten an den Hecken – in Portsmouth hat Lily nie eine Hecke gesehen, weil sie es nie bis in die Vororte geschafft hat, wo die Hecken ordentlich gestutzt und geschnitten sind, deshalb weiß sie nicht, dass die Hecken in Cornwall, von weichem Moos bedeckte stahlgraue Schiefermauern, eigentlich keine Hecken sind, wie sie der Rest des Landes kennt –, und plötzlich bemerkt sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wie schön sie sind.
Ich werde den ganzen Sommer üben, denkt sie. Irgendjemand wird mir einen Job geben, dann verdiene ich genug Geld, um mir ein paar Pinsel und Papier zu kaufen, und dann werde ich den ganzen Sommer damit verbringen … vielleicht lässt mich Tessa sogar ihre benutzen, wenn ich sie darum bitte. Wenn ich nett bin. Sie hat mehr, als sie braucht. Sie hat zwei Sets. Das kann sie doch nicht alles nur für sich haben wollen.
Ich werde überall hingehen. Ich werde alles malen, die Straßen und die Hecken, das Moor und unten den Fluss. All diese Farben. Dieser große Baum im Garten, der, an dem die Schaukel hängt. Auf den ersten Blick wirkt er schwarz, aber wenn man genauer hinsieht, ist er bunt: schwarz und blau und grün, und der Stamm ist nicht braun, wie kleine Kinder ihn immer malen: Er ist grau und silbern, und auch Gelb ist dabei: lange Streifen an einer Seite. Und die anderen Leute bemerken diese Sachen nicht, aber ich, und deshalb bin ich besser als sie.
Sie bleibt an der Kreuzung stehen, wo die Straße von Meneglos auf die nach St. Mabyn trifft, biegt auf der anderen Seite auf den unbefestigten Weg ein, der zwischen Ackerland hindurch nach Rospetroc hinunterführt. Der Weizen steht kniehoch. Er wiegt sich im Wind, während sie zu ihrem Ziel hinabblickt. Lily nimmt sich Zeit, um das Band, das ihre Urkunde zusammenhält, zu lösen, sie aufzurollen und noch einmal einen Blick auf den Beweis ihres Triumphs zu werfen. Sie kann das Geschriebene kaum lesen – Mrs Carlyon sagt, dass sie unheimlich schlecht im Lesen ist –, aber sie kann die Wörter »Erster Preis« entziffern, die oben in gestochener Handschrift in dem rundum laufenden Rand stehen, und ihr Name ist sorgfältig in Tusche geschrieben. Lily Rickett. Das bin ich. Die Preisträgerin Lily Rickett.
Und ich werde richtig gut werden, und der Krieg wird nächstes Jahr zu Ende gehen, und dann kann ich mich davonschleichen, wenn gerade keiner hinschaut. Ich werde weit, weit weggehen, wo mich niemand kennt, und ich werde irgendwo ein kleines Cottage finden, mitten auf dem Land, wo sonst niemand wohnen will, und ich werde zeichnen und zeichnen, malen und malen, und die Leute werden kommen. Sie werden kommen. Sie werden von mir hören, und sie werden kommen und sich meine Bilder anschauen, und sie werden mir Geld geben, und alles wird anders sein als früher. Und ich werde berühmt sein, und dann werden mich alle kennenlernen wollen. Und wenn ich reich bin, dann gehe ich zurück. Ich gehe nach Portsmouth zurück und suche meine Mum, und ich werde es ihr zeigen. Ich werde ihr meine guten Kleider und mein Auto und meine Schuhe vorführen, und sie wird mich wahrscheinlich nicht einmal erkennen, bis ich ihr sage, wer ich bin. Und sie wird dort im Pub sitzen, und ich werde einfach hereinspazieren und …
Sie rollt die Urkunde mit größerer Sorgfalt zusammen, als sie je auf ein anderes ihrer Besitztümer verwendet hat, verknotet das Band und setzt ihren Weg fort. Nach ein paar Schritten kickt sie sich die Schuhe von den Füßen – durch die Löcher in den Sohlen sind sie seltsamerweise unbequemer, als wenn sie barfuß läuft – und geht am Wegrand weiter.
Stell dir bloß vor. Es wird ihnen allen leid tun, dass sie nicht meine Freunde geworden sind. Sie werden sagen, dass sie einmal mit mir zusammengelebt haben. Mit Lily Rickett. Wir waren während der Bombardierungen evakuiert. Jetzt wünsche ich, ich wäre damals netter zu ihr gewesen. Ich habe sie neulich auf der Straße gesehen, und sie hat mich nicht einmal erkannt. Ted und Pearl und Vera und Geoffrey: Die halten sich für etwas Besseres und reden nicht mit mir, Pearl, die die ganze Zeit heult, und Geoffrey, der allen erzählt, ich würde die anderen mit irgendwas anstecken. Und eines Tages werde ich ihm auf der Straße über den Weg laufen, und dann wird er mich sehr wohl kennen wollen. Und ich werde ihn einfach anschauen, das Kinn recken und sagen: Nein. Ich kann mich nicht an dich erinnern. Wer, sagst du, bist du noch einmal?
Das Gras ist weich, kitzelt, und die Erde darunter ist vom Regen der letzten Nacht noch ganz feucht. Ich mag den Geruch hier, denkt sie. Er ist ganz anders als der in Portsmouth. Keine Kohlenöfen und Klebstofffabriken oder Öllachen. Kein Pilzgeruch im Schlafzimmer oder der Gestank von Scheiße im Hof. Kein Geruch von Zigaretten oder von Portwein mit Zitrone, wenn sie mit irgendeinem Typen hereinkommt, mich aus meinem schönen warmen Bett wirft, damit sie Geräusche wie ein Tier von sich geben kann, und dann dieser Geruch, wenn sie mich wieder hereinlässt: nach Salz und saurer Milch und Schweiß …
Lily bleibt stehen und atmet tief ein. Für sie riecht es nach Farben: Die Luft auf dieser Seite des Hügels riecht nach Grün und Braun und Gold, mit etwas Weichem und Dunklem, das die Brise vom Moor heranweht. Sie gräbt mit dem Zeh in die weiche, lockere Oberfläche eines Maulwurfshügels, spürt einen vergnüglichen Schauer angesichts der kühlen, schleimigen und doch bröseligen Konsistenz. Und plötzlich schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf, auf den sie, so weit sie weiß, noch gar nie gekommen ist. Er trifft sie völlig unvorbereitet, schockiert sie.
Ich könnte glücklich sein.
Der Gedanke beunruhigt und betört sie zugleich, so wie die erste Erfahrung sexueller Anziehung junge Leute fasziniert. Sie bleibt wie angewurzelt stehen, starr vor Angst und überschwänglicher Freude. Blickt verwirrt um sich, als habe sie Angst, jemand könnte den Gedanken mitbekommen haben.
Mein Gott, ich könnte glücklich sein.
Das ist zu viel. Zu viel für ihr untrainiertes Gehirn.
Lily setzt sich in Bewegung, rennt den Hügel hinunter. Aber während sie rennt, spürt sie den Wind, spürt sie die Erde unter ihren Füßen, spürt, wie sich die Erde um ihre Achse dreht, und der Gedanke kehrt zurück.
Ich könnte glücklich sein: Es könnte alles gut werden. Ich könnte …
Hugh ist zu Hause. Darauf ist sie nicht vorbereitet, hat ihn hier nicht erwartet. Natürlich ist er zu Hause. In Eton beginnen die Ferien genau wie in allen anderen Schulen, und für die langen Sommerferien lohnt sich schließlich die Suche nach einem Platz in einem Zug.
Er steht im Speisezimmer neben der Anrichte und hält einen Kricketschläger in der Hand. Er hat ihr den Rücken zugekehrt, aber bis sie, da sie aus der Helligkeit hereinkommt, bemerkt, dass er da ist, mit einem kurzen Schrei stehenbleibt und sich hastig zu verdrücken versucht, ist es schon zu spät. Er hat sie gehört. Er erschrickt und fährt mit einem Gesichtsausdruck herum, der eine Mischung aus Angst, Schuldgefühlen und Verachtung verrät. Und als er sieht, wer ihn da ertappt hat, verändert sich seine Miene.
O Gott, denkt sie. Er ist immer noch der Gleiche.
Sie weicht zurück, versucht, zur Tür zu gelangen und wenn möglich zu entkommen.
»Ach«, sagt er. »Du bist also immer noch da.«
Lily antwortet nicht. Blickt ihm nur ins Gesicht, bemerkt die Schadenfreude, die inzwischen davon abzulesen ist.
»Wenn du es verpetzt«, sagt er, »wirst du es bereuen.«
»Ich petze nicht«, antwortet sie reflexartig. Und dann sieht sie, was sie nicht verraten darf. Neben seinen Füßen liegt ein Kricketball auf dem Boden – hartes, abgewetztes Rindsleder, der Faden, mit dem er zusammengenäht ist, ausgefranst –, und die Scherben von einem halben Dutzend Figurinen. Das strenge Gesicht des Herzogs von Wellington starrt zu ihr hinauf, das böse halbe Gesicht von Königin Victoria, das tragische Gehabe von Nell Gwyn, die noch immer graziös eine Orange in ihrer Hand hält, der Korb liegt jedoch einen Meter entfernt.
Und dann sieht sie etwas anderes über sein Gesicht huschen. Einen Gedankenblitz. Schleißlich fällt er freudig eine Entscheidung.
O mein Gott. Jetzt bin ich geliefert.
»Mummy wird sehr, sehr wütend sein«, sagt er.
Wieder antwortet sie nicht.
Er kommt auf sie zu. »Es wäre besser für dich«, sagt er, »wenn du es gleich zugeben würdest. Ich weiß, wie sie denkt. Sie wird natürlich wütend sein, aber was sie gar nicht ausstehen kann, ist, wenn man lügt.«
Er kommt auf sie zu, und sie schließt die Augen.