42

Mrs Peachment muss sich am Ende auf die Truhe setzen, um sie zuzubekommen, und strengt sich beim Festzurren der Lederriemen so an, dass sie ganz rot wird im Gesicht. Sie ist erstaunt, dass sie es geschafft hat, ihr ganzes Leben in einen einzigen Schrankkoffer zu destillieren; es war wochenlange Arbeit gewesen, Kleider und Andenken auszusortieren, Fotos zu studieren, die sie vielleicht nie mehr wiedersehen wird, alles so platt wie nur möglich zu bügeln, damit es möglichst wenig Platz einnimmt. Es gibt so vieles, was sie zurücklassen muss. Ziergegenstände und Schallplatten für das Grammofon, Vorhänge und Bettüberwürfe, von denen sie dachte, sie würde sich nie im Leben von ihnen trennen. Wenn sie sie wiedersieht – falls sie sie je wiedersieht –, werden sie durch die Zeit und den starken Sonnenschein Cornwalls ausgebleicht und nicht mehr die vertrauten Objekte sein. Sie werden in der Zwischenzeit ein völlig anderes Leben geführt haben.

Ich bin hin und her gerissen. Dieser Krieg raubt einem die Vitalität: Die Ungewissheit, das ständige Gefühl, dass das Leben so, wie man es kennt, allmählich vorüber ist. In Kanada wird das Leben schöner, weniger beängstigend sein, auch wenn die Sorge um Malcolm und die Jungs nie vergehen wird. Aber ach, die Blicke meiner Nachbarn. Ich bin ein Feigling, eine Ratte, die das sinkende Schiff verlässt. Das werden sie mir wohl nie verzeihen. Deshalb verdufte ich mitten in der Nacht, verkrümele mich einfach und lasse nur eine Handvoll Briefe zurück. Aber ich habe zumindest einen legitimen Vorwand. Himmelherrgott, keiner kann behaupten, dass ich nicht gehen und mich nicht um meine armen kleinen Nichten kümmern sollte. Ich habe meine Schwester schließlich nicht aufgefordert, im Atlantik schwimmen zu gehen, oder?

Soll ich es wagen? Soll ich diese Gelegenheit wirklich beim Schopf packen, das Risiko einer Fahrt über den kalten Atlantik mit seinen drohenden Gefahren auf mich nehmen, um in das Land, wo Milch und Honig fließt, zu gelangen, während meine Nachbarn ein Leben der Plackerei und der Not führen?

Ich werde ihnen Lebensmittelpakete schicken. Ständig. Schinken und Kekse und Ahornsirup. Ich glaube kaum, dass andere das tun würden, wenn sie Verwandte hätten, die sie unterstützen müssen, geschweige denn Kinder in Not. Ich habe meinen Teil getan. Meinen Beitrag für die Kriegsanstrengungen geleistet. Habe Sammelaktionen aller Art und Verdunkelungspatrouillen organisiert, die Leute trotz häufig äußerst hartnäckigen Widerstands beschwatzt und bedrängt, damit sie ihre Häuser für Fremde öffnen. Jetzt ist ein anderer an der Reihe. Ich bin erschöpft.

Sie zerrt noch ein letztes Mal an dem Gurt. Eine Tasse Tee, denkt sie. Eine schöne Tasse Earl Grey. Ich habe noch ein wenig übrig. Den Rest werde ich für Patsy dalassen, wenn sie kommt, um das Haus zu übernehmen. Sie wird sich darüber freuen.

Das Telefon, dessen Läuten durch das Haus schrillt, reißt sie aus ihren Gedanken. »Menschenskind«, sagt sie laut, obwohl niemand sie hören kann, und hastet vom Treppenabsatz, auf dem sie gepackt hat, in die Eingangshalle hinunter, wo der Apparat auf einer viktorianischen Konsole steht, die sie von einer Tante geerbt hat.

»Meneglos 34.«

»Holen Sie sie ab! Holen Sie sie umgehend ab!«

Die Stimme, die einer Frau, ist aufgrund ihrer Lautstärke verzerrt. Sie braucht einen Moment, bis ihr klar wird, was die laute Anruferin da sagt.

»Hallo? Entschuldigen Sie?«

»Ich möchte, dass sie verschwindet! Jetzt sofort! Hören Sie mich? Kommen Sie einfach und holen Sie sie ab!«

»Wer ist denn am Apparat?«

Es folgt ein kurzes Schweigen, als wäre ihre Gesprächspartnerin verdutzt, dass sie nicht erkannt wurde. »Felicity Blakemore, Sie Dummkopf! Was haben Sie denn gedacht?«

»Schönen Nachmittag, Mrs Blakemore«, sagt Margaret Peachment gelassen. Noch sechzehn Stunden, dann wird sie sich nie mehr mit dieser Frau und ihrem herablassenden Umgang mit ihren Nachbarn befassen müssen. Und weitere vierundzwanzig Stunden, dann wird sie von Liverpool ablegen, ihr Schrankkoffer wird verstaut sein, und ein ganz neues Leben wird vor ihr liegen. »Haben Sie irgendein Problem?«

»Ich möchte, dass Sie umgehend hierher kommen und dieses dreckige Gör abholen! Ich möchte sie keinen Augenblick länger in meinem Haus haben!«

»Von wem sprechen Sie, Mrs Blakemore?«

Sie weiß das ganz genau. Auf Rospetroc ist nur noch eine einzige Evakuierte übrig. Sie bedauert es zutiefst, dass sie sich nicht die Zeit genommen hat, ein halbes Dutzend neuer Flüchtlinge dort unterzubringen, bevor sie morgen die Zügel an die Koordinatorin in St. Austell übergibt. Das wäre eine schöne Rache gewesen.

»Sie wissen genau, von wem ich rede!«

»Hm …«, sagt sie, klingt bewusst vage und zerstreut, und genießt die Wut, die durch die Leitung zu spüren ist. »Ich habe so viele Leute in meiner Obhut, Mrs Blakemore, nicht nur Sie, tut mir leid. Sie werden mir schon auf die Sprünge helfen müssen.«

Ein frustriertes Luftschnappen. Mrs Peachment gelingt es nicht, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Dreht an der Perlenkette im Ausschnitt ihrer Bluse.

»Lily – Rickett.«

»Lily … Lily … lassen Sie mich nachsehen … Ach, ja, ich erinnere mich. Und, wie geht es Lily?«

Die Stimme schwillt zu einem Kreischen an. »SIE … IST … VON … DER … SCHULE … VERWIESEN …WORDEN! Ich kann sie hier keinen Augenblick länger ertragen! Seit Ende der Sommerferien war sie die reinste Nervensäge, nichts als Unverschämtheit und Missmutigkeit. Sie hat Hughie einen Kaminbock an den Kopf geworfen und ihm beinahe den Schädel eingeschlagen. Zwei Mal hat sie meine Tochter geohrfeigt. Ich bekomme nichts als Widerworte und Aufmüpfigkeit, so sehr, dass selbst einem Heiligen der Geduldsfaden reißen würde, und jetzt wird sie sogar der Schule verwiesen. Mrs Peachment, sie hat die Schule in Brand gesteckt. Ich kann sie keinen Augenblick länger hierbehalten. Ich werde ja nicht einmal mehr in meinem eigenen Bett ruhig schlafen können!«

»Die Schule in Brand gesteckt?«

»Ja! Heute Nachmittag!«

Ich bin doch erst vor einer Stunde an der Schule vorbeigekommen. Ich habe nirgends etwas von einem Feuer bemerkt. »Sind Sie sicher?«

»Sind Sie blöd? Natürlich bin ich mir sicher.«

»Nun, das ist kein Grund, einen solchen Tonfall anzuschlagen!«, erwidert sie.

»Ich habe jeden Grund, diesen Tonfall anzuschlagen! Sie werden das Chaos beseitigen, das Sie angerichtet haben, Mrs Peachment, sonst … sonst …«

»Sonst was?« Sie schafft es nicht, den Spott aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Ich werde … die übergeordneten Behörden … Ihre Vorgesetzten … Sie Sind nicht so bedeutend, wie Sie glauben, Mrs Peachment.«

Jetzt ist sie an der Reihe, nach Luft zu schnappen. »Nun, ich habe nie …«

»Ich weiß alles über Leute wie Sie«, fährt Felicity Blakemore fort. »Sie blasen sich wichtig auf. Nutzen diesen Krieg, um ihre erbärmlichen Machtfantasien auszuleben. Na schön, bei mir funktioniert das nicht. Hören Sie mich?«

In Mrs Peachments Kopf nimmt ein Gedanke Gestalt an. Keiner wagt es, so mit mir zu sprechen, denkt sie. Ich habe mir für dieses Dorf die Finger blutig gearbeitet, und sie kann nicht in diesem Tonfall mit mir reden. Der werde ich die Suppe gründlich versalzen! Von der Mutter des Kindes hat man nichts mehr gehört, seit sie – seit sie es am Bahnhof von Portsmouth abgegeben hat. Frauen wie diese verschwinden häufig bei der erstbesten Gelegenheit. Sie wird nicht so bald nach Hause zurückkehren.

»Na ja, das ist nicht so einfach, wie Sie allem Anschein nach meinen«, antwortet sie. »Ich kann ein Kind nicht so überstürzt abholen. Da muss erst eine andere Unterbringung gefunden, Papierkram erledigt werden … wir haben schließlich Krieg, wissen Sie.«

»Das ist mir egal. Ich habe die Nase voll. Ich habe sie jetzt sechs Monate ertragen und werde das keinen einzigen Tag länger tun.«

»Das tut mir leid«, sagt Mrs Peachment. Schadenfroh.

»Ich befehle es Ihnen, Mrs Peachment. Ich bitte Sie nicht. Ich befehle es Ihnen. Wenn Sie bis morgen um diese Zeit nicht gekommen sind und sie abgeholt haben, verfrachte ich sie ins Auto und lade sie vor Ihrer Tür ab. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich kann Sie laut und deutlich hören, ja«, sagt sie.

»Haben Sie mich verstanden?«

»O ja«, antwortet Margaret Peachment. »Ich verstehe Sie sehr gut.«

Ein Klicken. Mrs Blakemore hat aufgelegt.

Margaret Peachment betupft ihre Schläfe mit einem kleinen Taschentuch, das sie mit dem Rest ihres Eau de Cologne benetzt hat. Sie steht für einen Augenblick in der Eingangshalle und fingert an den Fransen des kleinen Spitzenläufers herum, der die Konsole vor Kratzern schützt.

»Na ja, wir werden uns der Sache annehmen«, sagt sie laut.

Auf dem Küchentisch warten die Evakuiertenakten, mit einer Schnur ordentlich zusammengebunden, auf den Bezirksaufseher, der kommen und sie holen wird, sobald er ihren Brief erhalten hat. Er ist ein beschäftigter Mann, der tagsüber die Bank in St. Austell leitet und sich abends um einen riesigen Bezirk kümmert; wahrscheinlich wird er Wochen brauchen, bis er nach Meneglos herüberkommt, nachdem er ihre Nachricht erhalten hat. Mrs Peachment füllt den Wasserkessel und stellt ihn auf den Herd, um sich ihre schöne Tasse Tee zu machen. Sie holt die Schere aus der Schublade neben der Spüle und kehrt zum Tisch zurück.

»Ja«, sagt sie. »Wir werden uns der Sache annehmen.« Und schneidet die Schnur durch.

Sie braucht nicht lange, bis sie die Rickett-Papiere gefunden hat. Schließlich war sie schon immer stolz auf die Effizienz, mit der sie ihre Akten geführt hat. Und das kommt mir jetzt zustatten, denkt sie. Es fällt weit schwerer zu glauben, dass jemand einen Fehler gemacht hat, wenn alle Bescheid wissen, wie überaus korrekt dieser Mensch bisher stets war.

Sie hält Lily Ricketts Leben zwischen Daumen und Zeigefinger. Dreht es um, studiert es. Da steht nicht viel, denkt sie: Nur zwei Formulare und ein bereits verblasstes Foto. Irgendwo in einem Ministerium wird es Kopien dieser Unterlagen geben, zwischen Hunderttausenden anderer vergraben. Es wird mindestens Frühjahr sein, bis die ausfindig gemacht werden. Das wird Felicity Blakemore eine Lehre sein.

Eines der unerwünschten Kinder, keine echte Waise, aber so gut wie. Niemand wird kommen und sich nach ihr erkundigen, dessen kann ich mir ziemlich sicher sein.

Das Kind starrt sie mit seinem schmutzigen Gesicht und den Knopfaugen missmutig an. Nein, denkt sie. Dich wird niemand vermissen.

Der Wasserkessel beginnt zu pfeifen. Margaret Peachment geht zum Herd, um ihn von der Platte zu nehmen, und greift dabei nach der Streichholzschachtel.

Das Haus der verlorenen Kinder
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