18
»Sie haben den Geist also schon gesehen?«
Bridget lacht und ist dankbar, dass ihr Gesicht von der Tür des Küchenschranks verdeckt ist. Sie stößt ein unsicheres Lachen aus. Ein lautes, nervöses Kichern. Weil das nicht gerade eine Frage ist, mit der man gleich nach dem Einzug rechnet.
»Nein. Ist da einer?«
»Natürlich gibt es hier Geister. Dutzende. Man kann wohl kaum erwarten, dass es in einem Haus, das vierhundert Jahre alt ist, nicht ein paar Gespenster gibt, oder?«
»Vermutlich nicht.«
Ich werde mit Dutzenden fertig. Das ist wie mit den Spinnen.
»Ich dachte, Sie sagten ›Geist‹, nicht ›Geister‹.«
Jetzt ist Ms Aykroyd an der Reihe zu kichern. »Ach, hören Sie nicht auf mich, meine Liebe«, sagt sie. »Ich hab’s nicht so mit Zahlen. Es erstaunt mich, dass ich nicht gleich Millionen gesagt habe.«
»Nein«, antwortet Bridget. »Das Einzige, was in der Nacht bisher gepoltert hat, seit wir hier sind, war Yasmin, als sie aus dem Bett gefallen ist.«
Ms Aykroyd – nennen Sie mich Stella, wie sie gleich sagte – lacht wieder auf. »Na ja, das ist gut. Es bringt nichts, wenn man hier in der Gegend allzu empfindlich ist, würde ich meinen.«
Bridget hört das Klimpern von goldenen Armreifen, als Stella die Hand gegen den Türrahmen stützt.
»Ich kenne mich mit Geistern überhaupt nicht aus«, erklärt sie und merkt, dass sich ihre Stimme wie die eines alten Faktotums anhört.
»Liebes«, sagt Ms Aykroyd – sie gehört zu jenen Menschen, die zu allen »Liebes« sagen, weil sie sich damit die Mühe ersparen, sich die Namen merken zu müssen –, »das ist die richtige Einstellung. Hat er Ihnen nichts von ihnen erzählt? Tom Gordhavo?«
Bridget schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht behaupten.«
»Nein, ich denke, das macht er lieber nicht. Ich denke, es war für ihn schwer genug, jemanden zu finden, der herkommt und hier arbeitet, auch ohne den Leuten Flausen in den Kopf zu setzen.«
»Ich denke, das war es«, antwortet Bridget. »Und deshalb hat er mich genommen. Trotzdem: Es braucht mehr als ein paar Geister, um mich zu verscheuchen.«
Wieder lacht Ms Aykroyd. »Ach, ich weiß«, sagt sie. »Ich war in den letzten fünfzehn Jahren jedes Jahr hier. Ich hoffe jedenfalls, dass Sie bleiben. Es wäre nett, wenn nicht jedes Mal, wenn wir herunterkommen, eine Neue da wäre. Dann hat man eher das Gefühl, nach Hause zu kommen. Was mich anbelangt, so tragen Geister sowieso nur zur Atmosphäre bei.«
Bridget schaut auf. Sie ist sich nicht sicher, ob diese letzte Feststellung ernst gemeint oder ein Scherz war. Diese Künstlertypen berichten sogar vom Tod ihrer Großmutter, als handele es sich um eine Theateranekdote. Es ist schwer zu sagen, in welche Richtung die Gruppe der Aykroyds tendiert. Sie gehören jedenfalls zu den Kreativen – das ist leicht zu erkennen an den Kaftans und den Tüchern, die sie sich um den Kopf gewickelt haben, sowie an dem Klunkerzeug, das ihnen um die Gliedmaßen baumelt, und an der kompliziert in Form geschnittenen Gesichtsbehaarung, die am Kinn der Männer (und an dem der einen oder anderen Frau) sprießt. Und an der Tatsache, dass schwierig auszumachen ist, welche der zwölf Kinder zu welchen der sechs Erwachsenen gehören. Mindestens zwei von ihnen, das hat Bridget herausbekommen, scheinen auf die eine oder andere Weise mit mindestens drei der Erwachsenen verwandt zu sein, und ein Paar nur mit einem. Aber ob sie zu jener Sorte von Künstlern gehören, die wirklich an Horoskope und Geister und spiritistische Sitzungen glauben oder das alles nur als Unterhaltung betrachten, der man sich Cocktails schlürfend hingibt, kann sie nicht mit Sicherheit sagen.
»Die Kinder sind jedoch ein bisschen anstrengend. Es ist in mancher Hinsicht gut, dass es viele sind, sonst würden wir sie in dieser Mansarde nie zum Schlafen kriegen.«
»Der Mansarde?«
»Albernes Zeug. Es ist natürlich nichts, aber sie sind davon überzeugt, dass es da oben spukt. Camilla und Rain haben damit angefangen, fürchte ich. Ich könnte Camilla an die Gurgel gehen, weil sie ihnen mit ihren Spukgeschichten diese Flausen in den Kopf gesetzt hat und dann zur Universität abgereist ist. Jetzt geht Rain kaum mehr allein da hinauf.«
»Ach du meine Güte«, sagt Bridget.
»Ist schon in Ordnung. In gewisser Weise gefällt es ihnen ja, denke ich. Bietet ihnen einen Vorwand, sich da hineinzusteigern.«
»Und was sagen sie, was sie sehen?«
»Ach, niemand hat tatsächlich etwas gesehen. Na ja, mit Ausnahme von Camilla, und die hat schon immer zu viel Fantasie gehabt. Sie hat behauptet, dass sie da oben mal ein Mädchen gesehen hat. Kam kreischend die Treppe herunter. Natürlich mitten in einer Dinnerparty. Ist ja immer so. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Nutzen jeden Vorwand aus.«
Dinnerparty. Als ob ich das kennen würde. Man stelle sich vor, wir hätten Dinnerpartys gegeben. Wen hätten wir eingeladen? Seine Freunde vom Börsenparkett? Um den für vier Personen gedachten Tisch in unserem Wohnzimmer gequetscht? Eine Dose Cola und eine Fahrt zu Spearmint Rhino war eher ihr Ding, dieser Big Swinging Dicks des Kapitalismus.
»Wie auch immer. Das trägt bloß zur Atmosphäre bei«, stellt Stella fest. »Es gibt kein Haus, das so alt ist, in dem nicht ein paar Geister hausen.«
Ich glaube nicht, dass ich noch mehr von diesem Zeug hören will. Ich muss hier schließlich allein wohnen, erinnerst du dich? Bridget kramt tiefer im Schrank, konzentriert sich darauf, den Glasreiniger zu finden, damit sie das Thema wechseln kann. Er steht natürlich hier, unmittelbar vor ihrer Nase. Lustig, wie man Sachen sehen und doch nicht sehen kann. Passiert einem ständig.
»Da ist er ja«, sagt sie. Sie wusste doch, dass sie ihn irgendwo gesehen hatte. Sie taucht aus dem Schrank auf und reicht ihn Stella.
»Ach, Liebes, vielen Dank«, sagt sie. »Sie sind ein Schatz.« Und sie steht da und hält die Flasche irgendwie unschlüssig in der Hand, als handele es sich um ein altes Artefakt, dessen Zweck ihr nicht recht begreiflich ist.
»Ich helfe Ihnen«, erklärt Bridget resigniert.
»Ach, Liebes«, wiederholt Ms Aykroyd, »vielen Dank.«
Bridget folgt ihr ins Speisezimmer.
Sie hat, um ehrlich zu sein, nicht viel herausbekommen über diese Party. Ganze vierundzwanzig Stunden hat sie gebraucht, bis sie herausfand, wer die Aykroyds auf dem Reservierungsformular tatsächlich waren. Es ist auch nicht gerade hilfreich, dass es unter den Erwachsenen kein verheiratetes Paar zu geben scheint, obwohl sie zwölf Kinder haben – sie denkt, dass es zwölf sind, ist sich jedoch nicht ganz sicher, da es in Haus und Garten die meiste Zeit vor Besuchern aus dem Dorf und dem Bezirk nur so wimmelt. Und keinem scheint es etwas auszumachen. Obwohl sie glaubt, dass ein Paar – die richtigen Eltern dieser Kinder mit den vielen Eltern – möglicherweise irgendwann in der Vergangenheit doch in einer anderen Kombination miteinander verheiratet war, ist das allem Anschein nach für keinen von ihnen von besonderer Bedeutung.
Genau das hätte ich auch tun sollen, denkt sie. Es scheint ja nichts auszumachen, wenn man unverheiratet zusammenlebt, solange man vornehm genug daherredet. Oder ordinär genug. Es sind nur wir aus der unteren Mittelschicht mit unserer Angst, in die Unterschicht abzurutschen, die darauf heutzutage noch Wert legen. Und ich – ich habe Kieran hauptsächlich deshalb geheiratet, weil ich nicht wollte, dass meine Yasmin unehelich aufwächst. Dabei hätte ich offenkundig lieber anfangen sollen, affektiert daherzureden, Samt zu tragen, zu rauchen und dabei eine Zigarettenspitze zu benutzen. Wenn kein Vater auf der Geburtsurkunde vermerkt worden wäre, hätte er nicht halb so viele Waffen in der Hand gehabt, um uns zu traktieren. Keinem hätte es etwas ausgemacht, dass meine Tochter unehelich aufwächst, hätte ich so vornehm dahergeredet wie diese Typen da, und das Sozialamt hätte nie gewagt, sich einzumischen. Bohemiens der Oberschicht scheinen mit einem Verhalten durchzukommen, das man uns Normalsterblichen niemals durchgehen lassen würde: überall Asche abzuschnipsen, einfach die Schlafzimmer zu tauschen, im Dorf einzufallen und mit einem ganzen Haufen von Leuten für eine Party zurückzukehren. Nennmich-Stella scheint hier in der Gegend jeden zu kennen. Sie wurde, wie sie sagt, im benachbarten Tal geboren und kommt jedes Jahr an Weihnachten hierher, »um die Orte meiner fürchterlichen Kindheit zu besuchen, ohne mich dem Leben dort wirklich stellen zu müssen«.
Bridget nimmt es ihnen jedoch nicht krumm. Das sind recht lustige Leute, recht freundlich und anspruchslos, solange einem die Tatsache nichts ausmacht, dass man in den kommenden Wochen an den seltsamsten Stellen Zigarettenkippen finden wird. Genau genommen ist es nett, nach einer Woche, in der die Stille im Haus zwar nicht unbedingt bedrückend war, in der ihr jedoch klar wurde, wie groß dieses Haus tatsächlich ist, nun das Gequassel und Kinderstreitereien und am Abend das Singen zu hören. Ein Paar unter diesen Gästen tritt scheinbar auf der Bühne auf – Bridget glaubt sogar, einen von ihnen aus einer jener Serien von BBC2 wiederzuerkennen, in denen die Leute endlos über sturmgepeitschte Landschaften reden und ansonsten eigentlich gar nichts passiert. Das Klavier im Wohnzimmer ist aufgeklappt und getestet worden, ob es auch gestimmt ist, und jeden Abend wird darauf gespielt. Das gefällt ihr, wenn mitten in der Nacht der Klang von Jazz aus den Fünfzigerjahren, von Unterhaltungsmelodien und – wenn die Leidenschaft für die Heimat oder der einheimische Cidre die Oberhand gewinnt – vom laut gegrölten Gesang von »Trelawny« durchs Haus driftet.
Ein Teil von ihr fühlt sich aufgeheitert. Ein anderer dagegen fühlt sich einsamer als zuvor. Bridget hat nie genügend Freunde gehabt, um eine riesige Hausparty zu feiern wie diese hier: zwölf oder zwanzig Leute, die alle um einen Tisch sitzen, Gemüselasagne futtern und sich heiser reden. Das ist nicht die Art und Weise, wie ihre Eltern gelebt haben und irgendjemand sonst, den sie kennt. Partys, Vor-Kieran-Partys, waren gewöhnlich solche, bei denen man sein eigenes Wort nicht mehr verstand, von Gesang ganz zu schweigen, und zwar in Lokalen, die in dem betreffenden Jahr eben gerade »in« waren. Sie ist ein Kind des Club-Booms. Beweis dafür ist ihr Tinnitus. Selbst wenn sie nicht in riesigen Flugzeughangars stattfanden, wo die Lautsprecher eine Million Watt hatten und die Feuchtigkeit bei über hundert Prozent lag, war es selbstverständlich, dass man, wenn Leute zu Besuch kamen, als allererstes die Stereoanlage auf volle Lautstärke aufdrehte.
Sie ist sich nicht sicher, ob sie sich jemals mit mehr als einem Menschen auf einmal unterhalten hat. Alles, was sie damals in Sachen geselliger Unterhaltung kennenlernte, hatte mit dem Austausch von Mitteilungen zu tun: Wenn man die Lippen ans Ohr eines anderen drückt und den Kopf vorbeugt, wenn sie das Gleiche bei dir tun; und man sieht nie den Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie hören, was du ihnen gerade ins Ohr brüllst.
Welche Ironie. Da haben wir uns also amüsiert, aber es nie geschafft, Freunde zu gewinnen. Der einzige Mensch, außer Kieran, mit dem ich als Erwachsene je wirklich lange Unterhaltungen geführt habe, war Carol, und das kam auch nur daher, weil sie über mir gewohnt hat, nicht etwa dank meines gesellschaftlichen Lebens. Eigentlich habe ich nicht einmal mit Kieran viel geredet, nicht einmal zu Beginn. Wir waren immer erschöpft vom Sex oder hatten einen Kater, und später habe ich es vermieden, mit ihm zu reden, weil ich nie wusste, wohin das führen würde. Dumm, nicht wahr? Wie die Menschen ihr ganzes zukünftiges Glück auf Dinge gründen, wie zum Beispiel, ob sie in die gleiche Art von Lokalen gehen oder ob die Freunde beeindruckt sind, wenn ein Typ in einem Audi aufkreuzt. Dass sie nie überlegen, was passiert, wenn sich die Mode ändert und man kein Ecstasy mehr einwerfen kann, weil das dem Baby schaden würde.
Aber sie waren nett zu Yasmin. Sie schlossen sie in alles mit ein. Jeden Morgen nach dem Aufwachen scheint sie mit dem einen oder anderen Kind durch den Korridor zu rennen, manchmal mit einem ganzen Dutzend. Sie hat auch ein paar Kinder aus dem Dorf kennengelernt, und die Aussicht, hier in die Schule zu gehen, kommt ihr inzwischen nicht mehr so schlimm vor. Vielleicht freundet sie sich ja im Laufe der Zeit mit einigen richtig an.
»Ich sage Ihnen was«, erklärt sie Ms Aykroyds Rücken. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Yasmin nicht so viel von Geistern erzählen würden. Sie ist erst sechs, und ich kann gern darauf verzichten, dass ihr Flausen in den Kopf gesetzt werden, die ihr Angst machen, wenn das Haus leer ist.«
»Ach, Liebes«, antwortet Ms Aykroyd. »Das ist doch nur ein Spiel.«
»Und sie ist erst sechs«, wiederholt sie und versucht freundlich, aber entschieden zu klingen. »Sechsjährige wissen da nicht immer zu unterscheiden.«
»Na ja, man kann nie früh genug damit anfangen, ihre Fantasie anzuregen. Das gehört dazu, wenn man will, dass sie einen freien Geist entwickeln.«
Sie bleiben vor der Anrichte stehen. Eine Kinderhand hat mit leuchtend rotem Lippenstift VERPISST EUCH auf den Spiegel geschrieben.
Wenn das ein Beispiel für Freigeistigkeit ist, denkt Bridget, dann bin ich sofort für Beschränkungen. Aber selbstverständlich sagt sie nichts. Das steht ihr nicht zu. Sie ist Haushälterin, das darf sie nicht vergessen. Schließlich wird sie für ihre Diskretion bezahlt. Diskretion und jene Art von gleichgültiger Effizienz, die dazu führt, dass sich die zahlenden Gäste hier wohlfühlen. Sie hat jetzt, da sie sich eingerichtet haben, schließlich nur dann mit diesen Leuten zu tun, wenn jemand zu ihr kommt, nach ihr sucht und sie um Hilfe bittet.
Sie fängt an, die Figurinen umzustellen. Sie sind, wie Bridget bemerkt, wieder umgedreht worden, sodass sie nach hinten blicken. Eine seltsame Obsession, und eine, die scheinbar jeden erfasst, der hier vorbeigeht. Vielleicht wollen die Gordhavos ja, dass sie so stehen – aus irgendeiner Familientradition heraus –, und sie ist diejenige, die sie immer falsch hinstellt.
Ms Aykroyd steht neben ihr. »Es tut mir schrecklich leid«, sagt sie.
»Ist schon in Ordnung.«
Offensichtlich hofft sie, sich verziehen zu können. Bridget hat nichts dagegen. Sie möchte sowieso nicht in eine lange Unterhaltung verwickelt werden. »Sie können gehen«, sagt sie. »Ich mache das schon.«
»Sind Sie sicher?« Sie klingt erleichtert. Allerdings wäre sie bestimmt sauer, wenn ich verneinen würde. »Selbstverständlich«, versichert ihr Bridget. »Dafür bin ich ja da.«
»Na ja …« Ms Aykroyd wirft ostentativ einen Blick auf ihre Uhr. »Ich denke, ich sollte … bald ist Zeit fürs Mittagessen. Wenn Sie sicher sind, dass …?«
Ach, geh schon, denkt Bridget verärgert. »Allein werde ich viel schneller damit fertig«, sagt sie.
Ein Krach oben, gefolgt von Geheule. Zu schwer, denkt Bridget. Zu groß, als dass es mein Kind sein könnte. »Ach, meine Liebe«, seufzt Ms Aykroyd. Alle anderen Erwachsenen unternehmen einen Tagesausflug nach Tintagel. »Ich sollte lieber gehen und …«
»Ja«, antwortet Bridget. »Ich denke, das ist eine gute Idee.«
Nenn-mich-Stella geht davon und verschwindet im Salon. Bridget schlägt einen Lappen auf und streckt sich mit dem stoffumwickelten Finger zum Spiegel vor. Die Lippenstiftschicht ist dick, als wäre er erwärmt und mit einem Pinsel aufgetragen worden. Erstaunlich. Würde mein Kind so etwas tun, dann würde ich …
Plötzlich sind von oben Stimmen zu hören. Im Gleichklang: laut und organisiert. Sie zählen, langsam und deutlich.
Eins … zwei … drei …
Sie hört, dass eine Tür aufgeht, und das Geräusch rennender Füße. Da ist irgendein Spiel im Gange.
Die Schritte hasten einen Augenblick hin und her, als wäre derjenige unentschlossen, welche Richtung er einschlagen soll, dann gehen sie durch den Korridor auf die Treppe zum Speisezimmer zu. Als sie herunterkommen, hält Bridget in ihrer Putzarbeit inne und dreht sich um, um zu sehen, wer da kommt.
Es ist Yasmin. Sie sieht fast so ungepflegt aus wie die Aykroyds. Jemand hat ihre langen dunklen Haare zu einem halben Dutzend Zöpfe geflochten und sie mit Stoffstreifen hochgebunden, sodass sie wie eine kleine und ziemlich alberne Medusa aussieht. Sie ist barfuß und scheint so etwas wie ein Partykleid zu tragen: aus pastellblauem Satin, mit vielen Löchern, mehrere Größen zu groß und mehrere Jahrzehnte zu alt für sie. Sie kommt am Fuß der Treppe an und bemerkt auf diese typisch kindliche Weise erst als sie dort anlangt, dass ihre Mutter hier steht. Sie erschrickt, lacht über ihre eigene Dummheit, dann grinst sie.
Zwölf … dreizehn … vierzehn …
»Was in aller Welt hast du da denn an?«
»Ach«, sagt sie kühl, schaut an sich hinab und reibt den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, »Sachen zum Verkleiden. Ich hab sie auf dem Dachboden gefunden. Da steht eine große Truhe. Lily hat sie mir gezeigt.«
Bridget hat nicht die geringste Ahnung, wer Lily ist. Weiß nicht einmal, ob eine Lily zu den Aykroyds gehört, die allem Anschein nach allesamt Namen wie Sommer oder Mondschein haben – sie fragt sich, ob irgendwo in einem anderen Universum eine Art von Anti-Hippie-Kultur existiert, die Spaß daran hat, Steuererklärungen auszufüllen und ihren Kindern Namen nach Naturbegriffen wie Winter und Schlammlawine gibt, welche die Blumenkinder meiden –, oder ob es sich bei dieser Lily um eines der Kinder aus dem Dorf handelt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ihr diese Sachen anziehen dürft«, sagt sie. »Ich weiß nicht, ob Mr Gordhavo …«
»Lily hat gesagt, dass es in Ordnung ist«, versichert ihr Yasmin. »Sie sagt, dass sie sie immer anzieht.«
Dreiundzwanzig … vierundzwanzig …
Yasmin wirft einen entsetzten Blick über die Schulter. Bridget hat ganz vergessen, welch intensive Gefühle ein Kinderspiel auslösen kann.
»Ist egal«, sagt sie. »Wir können später darüber reden. Was spielt ihr denn? Verstecken?«
»Nein«, antwortet Yasmin. »Sardinen. Ich muss mich verstecken, und alle anderen müssen mich finden und sich zu mir in mein Versteck quetschen.«
»Ach, ja«, sagt Bridget. »Das habe ich auch immer gern gespielt. Wo willst du dich denn verstecken?«
»Ich weiß nicht.«
»Na ja, wie wäre es hier drunter?« Sie deutet mit ihrem Lappen in Richtung des riesigen, mit einem Tischtuch bedeckten Tischs.
»Pah!«, ächzt Yasmin. »Mum, hast du sie noch alle? Da schauen sie doch zuallererst nach!«
Wie lustig, denkt Bridget, sie verliert bereits ihren Londoner Akzent, und dabei ist sie erst seit ein paar Tagen mit diesen Kindern zusammen. An Neujahr wird sie schon wie ein echtes Cornwall-Gewächs klingen.
»Na ja, ich weiß nicht.«
Einunddreißig … zweiunddreißig …
Yasmin tritt von einem Fuß auf den anderen, als merke sie plötzlich, dass sie auf heißen Kohlen steht. »Beeil dich! Die zählen nur bis fünfzig!«
Bridget schaut sich um. Hinter den Vorhängen? Hinter dem Sofa im zweiten Salon? Zu einfach. Und nicht genügend Platz.
Ihr fällt etwas ein. »Komm mit! Schnell!«
Sie hat bemerkt, dass der Fenstersitz im Wohnzimmer, der die ganze Länge der Südmauer einnimmt, aufklappbar ist und Stauraum bietet. Nicht etwa, dass sich darin, abgesehen von Staubsaugerzubehör, ein paar halb abgebrannten Kerzen und einer Schachtel en gros gekaufter Porzellanteller und jeder Menge Staub, noch etwas anderes befinden würde. Es handelt sich um eine jener Besonderheiten, die ein Haus zu einem Feriendomizil machen. Alles, was wirklich von Wert ist – sentimental oder finanziell –, ist schon vor Jahren abtransportiert worden.
Sie streckt die Hand nach ihrer Tochter aus, und sie laufen leise ins Wohnzimmer. Bridget hebt die Klappe des mittleren Sitzteils hoch.
»Komm schon!«, sagt sie. »Da ist jede Menge Platz.«
Yasmin schaut sie verdutzt an, als sei sie erst jetzt darauf gekommen, dass sie unabhängig denken kann. »Klasse!«, sagt sie. »Wie hast du das herausgefunden?«
»Ich weiß alles, Darling«, antwortet Bridget. »Das weißt du doch. Jetzt beeil dich und steig hinein.«
Dreiundvierzig … vierundvierzig …
Es ist genügend Platz darin, um eine ganze Armee zu beherbergen. Das Einzige, was Yasmin verraten könnte, ist, dass sie so leicht kichert. Sie steigt hinein, legt sich hinein wie eine Prinzessin in einen gläsernen Sarg und kreuzt die Arme über der Brust. »Okay«, sagt sie.
Bridget schließt die Klappe und schlendert lässig zu ihrer Putzarbeit zurück. Sie muss jetzt nur noch das H von EUCH entfernen. Sie greift nach dem Palettenmesser und kratzt die oberen Schichten ab, sprüht Glasreiniger über den Fleck.
Wir kommen …
Eine Herde Wasserbüffel kommt aus dem großen Schlafzimmer heruntergetrampelt.
Bridget reibt über den Spiegel. Das muss ein sehr fetthaltiger Lippenstift gewesen sein: Theaterlippenstift, von der Art von Fettschminke, die man in Stummfilmen aus den Dreißigern und Vierzigern sieht. Es dauert eine Ewigkeit, bis man die Flecken davon wegbekommt.
Das Geräusch der Schritte und der Stimmen zerstreut sich, verebbt. Sie stellt sich vor, wie Yasmin in ihrem hölzernen Sarg liegt und sich windet, weil sie sich so anstrengt, den Drang, herauszuspringen und allen zu zeigen, wie schlau sie war, zu unterdrücken.
Ein paar Kinder kommen die Treppe heruntergedonnert, kreischen und bleiben stehen, als sie sie sehen.
»Hallo, Leo«, sagt sie. »Hallo, Rain.«
Sie mag Leo nicht sonderlich. Er ist einer jener stämmigen Jungen, die dazu neigen, den anderen die Dinge streng und ohne Lächeln zu erklären. Sie vermutet, dass er möglicherweise ein kleiner Quälgeist ist: Jedenfalls scheinen die meisten anderen Kinder ihm aufs Wort zu gehorchen, wenn er einen Befehl ausgibt.
»Hallo«, sagt der Junge. Er stemmt die Hände in die Hüften und blickt sich gründlich um, schaut ihr jedoch nicht ein einziges Mal in die Augen. Manche Kinder sind eben so. Das ist keine soziale Feststellung, sie halten Erwachsene ihrer Aufmerksamkeit eben nicht für würdig, es sei denn, sie wollen etwas von ihnen.
»Spielt ihr irgendwas?«
»Ja.«
»Verstecken?«
Sein Blick huscht zu ihr hinüber. Nein, sie sieht, dass er denkt, sie ist eine Erwachsene und außerdem werden wir sie nach dieser Woche nie wiedersehen. Sie ist die Mühe also nicht wert, es ihr zu erklären.
»So etwas Ähnliches«, sagt er. »Haben Sie Yasmin gesehen?«
Na ja, zumindest ist meine Tochter nicht unter seiner Würde. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das sagen darf«, neckt sie ihn.
Er hält mich für völlig verrückt. Es ist lustig, wie Menschen, die keinen Humor haben, selbst wenn sie erst neun Jahre alt sind, stets davon ausgehen, dass die Versuche anderer Leute, witzig zu sein, ein Zeichen von Dummheit sind.
»Das würde das Spiel verderben, nicht wahr?«, fügt sie hinzu.
Er wirft ihr einen Blick zu, ignoriert aber, was sie gesagt hat. »In welche Richtung ist sie gegangen?«
»Ich wäre ja eine Petze, wenn ich dir das verraten würde.«
Rain – mit herabhängenden Haaren, die, passend zu ihrem Namen, ständig feucht aussehen – streckt den Kopf unter das Tischtuch. Kommt wieder hervor und kämmt sich mit fettigen Fingern durch den Pony. »Nicht da«, verkündet sie und trottet in Richtung Küche davon.
Leo überlegt kurz. Du lieber Gott, ich hoffe nicht, dass Yasmin am Ende allzu lange mit ihm allein eingesperrt ist. »Also«, sagt er. Und marschiert in die entgegengesetzte Richtung wie seine Schwester.
Von oben ist plötzliches Gekreische zu hören. Offenbar hat irgendjemand jemanden gefunden. Ein halbes Dutzend Fußpaare trampelt durch den Korridor zum anderen Ende des Hauses. Sie müssen sich inzwischen gut verteilt haben: Das ist das perfekte Haus zum Versteckspielen. Hier könnte man sich überall verstecken. All diese dunklen Ecken und verborgenen Türen. Ich bin froh, dass wir an unserer Wohnungstür gute Schlösser haben und nachts abschließen können.
Sie wendet sich wieder dem Spiegel zu und putzt weiter. Sobald das erledigt ist, denkt sie, sollte ich das Feuerholz im Wohnzimmerkamin aufschichten. Nicht so sehr aus dem Wunsch heraus, den Gästen heute Abend ein gemütliches Feuer zu bieten, als vielmehr, weil ich weiß, dass keiner den Rost sauber machen wird, bevor sie neu aufschichten, und dieser Rost kann wirklich nicht mehr als ein Feuer durchhalten, bevor er voll ist. Es ist erstaunlich, wie viel Asche man auf einem Perserteppich verteilen kann, wenn man nicht weiß, wie man mit Schaufel und Handbesen umzugehen hat. An diesem Morgen hat sie Humphrey beobachtet – das ist derjenige, von dem sie glaubt, dass er wahrscheinlich der Partner von Nenn-mich-Stella ist –, wie er zusammen mit derjenigen, die ihrer Vermutung nach möglicherweise seine Ex-Frau ist, einen Holzstamm von der Größe eines Krokodils aus dem Wald hinter dem Teich durch den Garten geschleppt hat. Wenn sie versuchen, diesen heute Abend zu verbrennen, feucht und grün, wie er ist, dann werden die Funken nur so fliegen. Am besten ist es also, alles herzurichten, um weiterem Schaden vorzubeugen.
Wieder trampelt eine Kinderschar vom Salon herein, schlittert über den Boden, stürzt sich unter den Tisch und taucht enttäuscht wieder auf. Sie bemerken sie nicht einmal.
Aus der Sicht eines Kindes existieren Erwachsene eigentlich nur, wenn sie für Unterhaltung sorgen oder ihr ein Ende bereiten. Sie stellt fest, dass sie alle irgendeine Art von Kostümierung tragen, aber wie viel davon aus der Truhe auf dem Dachboden stammt, oder ob es sich um ihre normale Alltagskleidung handelt, vermag sie nicht zu sagen. Sie ist den Anblick von Siebenjährigen mit Bauchnabelpiercings und Plateauschuhen so gewöhnt, dass ihr inzwischen gar nichts mehr seltsam vorkommt. Kieran wollte schon in der Woche, als sie mit ihrem Neugeborenen aus dem Krankenhaus nach Hause kam, Yasmin die Ohrläppchen stechen lassen, und wochenlang war ihre Schulter grün und blau gewesen, was beweist, dass sie als Mutter dies strikt abgelehnt hatte. Ohrlöcher: das proletarische Gegenstück zur Beschneidung. Ich wollte für sie immer etwas Besseres.
Sie ziehen die Vorhänge zurück, schauen dahinter und trotten dann mit einem beiläufigen Hallo auf die Treppe zu und verschwinden. Da habe ich ihr aber ein gutes Versteck gefunden, denkt sie. Ich hoffe, dass es nicht zu gut ist: Dass es ihnen nicht langweilig wird und sie davonlaufen und Yasmin den ganzen Nachmittag da drin lassen.
Sie kann nicht fassen, wie hartnäckig dieser Lippenstift am Spiegel klebt. Bridget sprüht noch einmal Glasreiniger auf, betrachtet ihr verschwommenes Spiegelbild und macht sich ans Polieren.
Etwas, was sich hinter ihr bewegt, lässt sie zusammenzucken. Eine kleine Gestalt, die leise aus dem Vorraum auftaucht. Sie hat niemand da hineingehen hören. Sie dreht sich um und schaut hin.
Ein kleines Mädchen, das sie nicht erkennt. Das muss eines der Kinder aus dem Dorf sein. Wahrscheinlich eines, das sie beim Spielplatz aufgegabelt haben, weil es eindeutig nicht aussieht wie der Nachwuchs der Freunde der Aykroyds, die alle rote Wangen haben, offenbar reichlich Vitamine bekommen und jeden Abend gebadet werden. Die da hat eher eine gräulich-gelbe Gesichtsfarbe. Hohle Wangen und große dunkle Ringe unter den Augen, und Arme bleich wie Treibgut. So, wie ihre Haare aussehen, hat jemand ihr mit der Küchenschere einen schlechten Haarschnitt verpasst. Und sie mit Sachen aus der Kleiderkammer einer Wohltätigkeitsorganisation gekleidet.
»Wo in aller Welt kommst du denn her?«, fragt sie.
Das Mädchen bleibt wie angewurzelt in der Tür stehen und starrt Bridget an, als würde es sie hassen. Ihr läuft ein leichter Schauer über den Rücken. Es hat einen gemeinen Zug um seinen kleinen Mund. Übellaunig, abschätzig.
»Bist du auf der Suche nach Yasmin?«
Das Kind verschränkt die Arme und kneift die Augen zusammen. Reckt das Kinn und wirft Bridget einen richtig giftigen Blick zu.
»Ich war es nicht«, sagt sie. »Ich bin es nicht gewesen, verflucht noch mal.«