57

Jetzt hat ihn das Jagdfieber gepackt. Er war so nah dran, sie zu erwischen, und doch so fern. Er hat ihre glatten Haare an den Fingerspitzen gespürt, als sie ihm entwischte, und jetzt kocht er vor Wut. Er streift ums Haus, nimmt wie ein jagender Wolf Witterung auf.

Überall gibt es Spuren von ihnen. Ihr Auto in der Einfahrt: Eine fünfzehn Zentimeter hohe Schneedecke auf dem Dach und auf der Windschutzscheibe, eine Barbie, halb nackt, auf dem Rücksitz. Durch ein Fenster in einem Raum mit einer riesigen Waschmaschine, in dem Bettlaken wie Dschungelmoos von den an der Decke gespannten Leinen hängen, sieht er den alten Wildledermantel seiner Frau und Yasmins Anorak, und ein paar kleine, nie gesehene Gummistiefel stehen neben der Tür. Zwei Paar Wollhandschuhe sind achtlos auf eine Arbeitsplatte gelegt worden. Er spürt, dass ihn ein Anflug von Besitzeranspruch erfasst, weil die Nähe die Sinne verstärkt. Sie gehört mir. Sie gehört mir. Jedenfalls bald.

Er versucht, die Tür zu öffnen. Sie gibt nicht nach. Das ist okay. Ich werde schon einen Weg finden. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, die sie nicht bedacht hat.

Auf dieser Seite des Hauses ist der Schnee auf einer großen Fläche zertrampelt und zertreten. Ein kleiner schiefer Schneemann, gut einen halben Meter hoch, mit Zweigen als Arme, starrt ihn mit Augen aus schwarzer Kohle blind an. Kieran hat sie vor seinem inneren Auge, wie sie herumtollen – alles andere um sich herum vergessen, und wie pulvriger weißer Schnee um ihre Füße aufstaubt. Sie lachen. Sorglos. Gedankenlos.

Kieran beißt sich auf die Lippe. Kneift die Augen zusammen. Ja. Wie können sie ihn so einfach vergessen? Denen werde ich was husten, die werden sich an mich erinnern.

Er trottet weiter, drückt im Vorbeigehen gegen jedes Fenster. Die sitzen nicht fest in ihren Rahmen, jedenfalls einige nicht. Allerdings diejenigen hoch oben.

Sie hat mich unmöglich kommen sehen, aber jetzt weiß sie, dass ich hier bin.

Er entdeckt noch eine weitere Tür, ganz am Ende, in einer Ecke, wo eine Trockensteinmauer zu einem Bereich führt, auf dem nur so wenig Schnee liegt, dass er davon ausgeht, dass es sich um Zement handelt. Es ist eine schmale, niedrige, einfache Holztür, und ihre Klinke ist so klein, dass sie besser an einen Schrank passen würde. Sie ist schwächer als die anderen, und ihre Fähigkeit, die Leute vom Eindringen abzuhalten, beruht in erster Linie auf der Hoffnung, dass sie gar nicht erst entdeckt wird.

Er probiert es aufs Geratewohl. Der Griff dreht sich frei in seiner Fassung: Er ist nur mit ein paar Schrauben befestigt. Er ist nur da, damit man daran ziehen kann, nicht etwa, um die Tür geschlossen zu halten.

Er blickt auf. Schmunzelt. Ein Sicherheitsschloss. Ein solch großes Herrenhaus wie dieses da, und die Besitzer verlassen sich auf ein läppisches Sicherheitsschloss.

Er hebt das Bein. Tritt gegen die Tür. Sie wackelt in ihrem Rahmen, hält aber.

»Scheiße«, sagt Kieran und beobachtet, wie sein Atem in der eisigen Luft als Dampfwolke aufsteigt. Verdammt, ist das kalt heute Abend. Die Luft kommt bestimmt aus Sibirien. So viel zur verdammten globalen …

Dieses Mal gibt sie ein Stück nach. Nicht das Schloss, das hält. Nicht das Holz. Kieran lacht auf. Sie haben eine neue Tür eingesetzt, aber in den alten Rahmen. In verrottetes, verwittertes Holz, und die Angeln lösen sich schon nach ein paar Tritten.

Ich bin drin, denkt er. Jetzt bin ich drin. Ich komme.

Er tritt ein paar Schritte zurück, reibt sich die Hände, bläst hinein, um sie aufzuwärmen.

Aus dem Augenwinkel sieht er, dass sich ganz in der Nähe etwas bewegt.

Kierans Kopf fährt herum. Da steht ein Kind im Schnee.

»Ha!«

Sie hat sie herausgeschickt. Sie hat es gemacht wie in Shining, hat das Kind herausgeschickt, um sich zu retten. Hat sie einfach im Nachthemd ins Freie geschickt, verdammt.

Sie geht entschlossen voran, den Kopf gesenkt, so dass ihr Gesicht im Mondschein nicht zu erkennen ist. Zielstrebig entfernt sie sich von ihm, seltsamerweise ungehindert durch den Schnee unter ihren Füßen.

Sie ist gewachsen, denkt er. Und was ist bloß mit ihren Haaren passiert? Hat sie sie gefärbt oder was? Hat sie wirklich geglaubt, ich würde mich durch schlecht gefärbte Haare täuschen lassen?

»Yasmin!«, ruft er.

Das Kind bleibt nicht stehen. Blickt nicht auf. Ändert seine Richtung nicht. Es geht auf das kleine zweistöckige Gebäude da unten am Rand der ebenen Fläche zu. Entfernt sich weiter von ihm.

»Yasmin, ich bin’s, Daddy«, ruft er. »Hab keine Angst.«

Falls sie Angst hat, lässt sie sich das zumindest nicht anmerken.

Warum schaust du mich nicht an?

Er setzt sich in Bewegung, geht hinter ihr her. Was für ein Nachthemd ist denn das? Es sieht aus, als hinge es bis auf den Boden. Hat Bridget angefangen, ihr ihre eigenen Sachen anzuziehen?

Sie hat dürre kleine Arme. Die sehen in diesem Licht fast bläulich aus. Sie hat abgenommen, ganz ordentlich abgenommen.

»Schatz«, ruft er, »ich bin’s. Komm schon. Komm zu Daddy.«

Sein Stiefel sinkt irgendwo ein, und er kippt nach vorn, kann das Gleichgewicht nicht halten. Landet mit dem Gesicht nach unten, hat den Mund voll Schnee. »Scheiße«, schimpft er wieder. Blickt auf und sieht, dass sie bereits bei dem Schuppen angekommen ist, in dessen Schatten steht und ihn beobachtet, und dass sich zwischen ihm und ihr eine unberührte Schneefläche erstreckt.

»Yasmin, das ist nicht lustig!«, ruft er. Hier braucht er keine Nachbarn zu fürchten. Es ist keiner da, der sich einmischen könnte. »Ich finde das nicht lustig, hörst du? Komm her, Yasmin! Jetzt komm schon! Ich befehle es dir!«

Sie dreht sich um, geht hinein.

Und jetzt ist er wütend. Rappelt sich auf die Füße und rennt und stolpert in die Richtung, die seine Tochter eingeschlagen hat. Na schön! Wenn du es so willst. Ich werde dich einfach packen, verflucht. Dich packen und mitnehmen, und du wirst schon sehen, was passiert, wenn du dich zur Wehr setzt, du kleine Schlampe. Du bist meine Tochter, verdammt. Du wirst tun, was ich dir sage, ob es dir gefällt oder nicht.

Der Schnee wird immer tiefer, je näher er dem Gebäude kommt; die Verwehungen sind hier sechzig bis neunzig Zentimeter hoch. Er ist zu wütend, um stehen zu bleiben, um zu bemerken und sich zu wundern, warum es denn gar keine Spuren gibt und überhaupt nicht zu sehen ist, dass sie hier entlanggegangen ist: Er stapft einfach mit den Armen fuchtelnd weiter auf die Tür zu. Die ist natürlich geschlossen. Sie denkt wohl, sie kann mich einfach aussperren. Denkt, sie braucht die Tür bloß abzuschließen, und das würde mich abhalten.

Er richtet sich auf, findet sein Gleichgewicht, tritt gegen die Tür. Wieder verwittertes Holz. Die Schrauben, die das Vorhängeschloss von außen halten, lösen sich aus dem Pfosten. Die Tür schlägt dumpf zurück, prallt ab und bleibt schließlich liegen.

Kieran schaltet die Taschenlampe an, tritt ein.

Es ist ein Bootshaus. In dem es nach Fäulnis und Schimmel riecht, wie das bei feuchten Räumen eben üblich ist. Er schwenkt mit der Taschenlampe über raue Holzwände, über Anlegepfosten und kaputte Holzstufen, die in schmutzigschwarzes Wasser hinab ins Nichts führen. Es ist nicht gefroren, wie er bemerkt. Man hätte annehmen können, dass es gefroren wäre.

Da ist ein Boot, schon lange durchlöchert und gesunken, das jetzt mit dem Kiel nach oben auf dem Dock liegt, und ein Stück Tau ist um den Pfosten gewickelt, aber ansonsten ist das Gebäude leer. Es ist gründlich leer geräumt worden: keine Farbtöpfe, keine alten Polster, keine aufgestellten Ruder oder verschimmelten Sonnenschirme, die man hier sonst erwarten würde. Das Bootshaus ist nicht einfach nur verlassen worden: Es wurde richtig ausgeräumt. In einem Gewirr von Spinnennetzen über seinem Kopf hängen schwarze Staubknäuel.

Aus der Dunkelheit des oberen Stockwerks ist ein Kichern zu vernehmen.

Klar. So hast du dir das Spiel gedacht.

Er duckt sich unter dem Türsturz und tritt vorsichtig auf das Betondock. Drückt sich am Rand entlang bis zu der unbehandelten Holztreppe, die von der hinteren Ecke nach oben führt. Er steht am Fuß der Treppe, ruft hinauf.

»Yasmin! Du kannst genauso gut runterkommen. Ich weiß, dass du da oben bist.«

Schweigen.

Er stützt sich mit der Hand an der Wand ab und reckt den Kopf, um sie zu sehen.

»Wart nur ab, was passiert, wenn ich raufkommen und dich holen muss«, droht er.

Wieder lacht sie. Es ist kein nettes Lachen. Es ist spöttisch, verächtlich. Er spürt erneut die Hitze in seinen Adern. Nimmt die Taschenlampe und steigt die Treppe hinauf. Ich kriege dich, und dann werde ich …

Sie hockt in der Ecke. Er sieht sie sofort, weil auch dieser Raum wie der darunter völlig leer geräumt ist. Sie sitzt mit dem Rücken zur Wand, die Knie unter ihrem weiten weißen Kleid bis zur Brust hochgezogen. Ihr Kopf ist geneigt, einzelne längere Haarbüschel hängen ihr auf die Knie. Ihre Füße, die unter dem Saum ihres Kleids hervorlugen, sind nackt.

»Komm schon«, sagt er. Versucht, ruhig und überzeugend zu klingen. Macht sich daran, auf sie zuzugehen. Hier ist der Geruch von Moder und Fäulnis noch stärker, weil die Luft nirgends abziehen kann. Die Holzdielen fühlen sich unter seinen Stiefeln schwammig an, sie geben unter seinem Gewicht ein wenig nach. »Dir muss doch eiskalt sein.«

Das Kind richtet sich plötzlich aggressiv auf. Ihr Gesicht ist gelb, die Zähne schwarz, einige sind nur noch Zahnstümpfe, ihre Augen funkeln wütend und hasserfüllt. Das ist nicht Yasmin. Das ist kein normales Kind. Das ist etwas anderes. Etwas längst Verlorenes, schwarz und wütend.

»Ich gehe nicht zurück«, sagt sie und lächelt, aber das Lächeln hat nichts Fröhliches.

Er ist entsetzt. Weicht erschrocken zurück. Spürt, dass der Boden unter ihm nachgibt und einbricht. Er hält sich einen Augenblick über dem Loch, greift verzweifelt ins Nichts, dann fällt er krachend in das Wasser darunter.

Das Haus der verlorenen Kinder
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