KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG

Wie ihr aufgetragen worden war, zog Sophie Jeans, Wanderstiefel und ein rotes Fleece-Shirt mit Kapuze an. Dann ging sie wieder nach unten. Tsagaglalal räumte in der Küche die Geschirrspülmaschine ein.

»Ist das okay so?«

Tsagaglalal betrachtete sie von oben bis unten. »Optimal für das, was du vorhast.«

»Holt mich jemand ab?«, erkundigte sich Sophie.

Die alte Frau ignorierte die Frage. »Es besteht die Möglichkeit, dass ich dich nie mehr wiedersehe.«

Sophie schaute sie erschrocken an. Sie wollte protestieren, doch Tsagaglalal hob die Hand, und Sophie fiel plötzlich auf, dass ihre Fingerspitzen ganz glatt waren. Wieso hatte sie das früher nie bemerkt? Die Frau hatte keine Fingerabdrücke.

»Aber du sollst wissen, wie stolz ich auf dich bin. Und auf deinen Bruder«, fügte sie hinzu. »Obwohl ich immer vermutet habe, dass er einen schwierigen Weg wählen würde.« Tsagaglalal hängte sich bei Sophie ein und führte sie hinaus in den Garten. »Ich habe vom Tag eurer Geburt an über euch gewacht. Ich habe euch in den Armen gehalten, als ihr gerade mal eine Stunde alt wart. Und ich habe in eure Augen geschaut und gewusst, dass sich die Prophezeiung mit euch – endlich – erfüllt.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Was hätte ich denn sagen sollen und zu wem?« Tsagaglalal lachte. »Hättest du mir selbst noch vor einer Woche geglaubt, wenn ich dir so etwas angedeutet hätte?«

Sophie schüttelte den Kopf.

»Ich hatte zehntausend Jahre auf euch gewartet. Da konnte ich jetzt auch noch den richtigen Augenblick abwarten. Zehn Jahre mehr oder weniger machen in einem solchen Fall kaum einen Unterschied. Du denkst jetzt vielleicht, dass dein Abenteuer bald zu Ende ist, Sophie. Dazu muss ich dir leider sagen, dass es gerade erst beginnt. Alles, was du gelernt und erfahren hast, sollte dich nur auf dieses nächste Stadium vorbereiten.«

»Werde ich mit Josh reden können?«

»Ja, das kann ich dir garantieren.«

»Wann geht die Reise los?«

»Hast du die Smaragdtafel bei dir?«

Sophie öffnete den Reißverschluss an der Tasche ihrer Fleece-Jacke und zog sie heraus. Sie wollte sie Tsagaglalal geben, doch die schüttelte den Kopf. »Sie ist ganz allein für dich bestimmt. Ich könnte sie mir zwar anschauen, aber entziffern könnte ich sie nicht.«

Sophie strich noch einmal mit der Hand über die glatte Tafel. Die Worte, Piktogramme und Hieroglyphen, die sie vorher darauf gesehen hatte, waren verschwunden. Die Oberfläche war ein glatter, kühler Spiegel.

»Was siehst du?«, fragte Tsagaglalal.

»Mein Spiegelbild.«

»Schau genauer hin.«

Lächelnd blickte Sophie in den Spiegel. Sie sah sich selbst. Die Bäume im Hintergrund, das Dach des Hauses …

Sie sieht Dee. Sie sieht Virginia Dare. Die Frau hat die Flöte an den Lippen und spielt.

Die Umgebung bewegte sich, das Bild war plötzlich verzerrt, die Welt drehte sich, und Sophie begriff, dass sie durch Joshs Augen sah.

Sie sieht Kreaturen, die sich in ihren Zellen regen, erwachen und sich recken. Klauen werden zwischen Gitterstäben hindurchgestreckt …

Das Bild drehte sich erneut.

Und da sind Mars, der großartig aussieht in seiner roten Rüstung, sowie Odin in Grau und Schwarz. Ihre Waffen in den Händen, laufen sie, gefolgt von Hel, auf die Kreaturen zu. Hel trägt ein unförmiges Kettenhemd, das das Tierische an ihr noch mehr betont …

Wieder ein anderes Bild.

Eine Zellentür geht auf und ein riesiges, ungeschlachtes, bärenähnliches Ungeheuer erscheint. Mars streckt es mit einem einzigen Schlag nieder.

Josh bewegte sich jetzt sehr schnell. Der ruckhafte Wechsel seiner Perspektive setzte Sophies Magen zu.

… er öffnet eine Tür nach der anderen, Monster stürmen auf den Flur, von denen einige so abstoßend sind, dass ihr noch übler wird.

Eine Sphinx erscheint, und instinktiv weichen Mars, Odin und Hel zurück. Eines nach dem anderen richten die Monster auf dem Flur ihre Aufmerksamkeit auf die drei Älteren.

Dann greifen sie an. Und die Älteren drehen sich um und fliehen den Korridor hinunter. Das entsetzliche Sammelsurium von Ungeheuern folgt ihnen.

Wieder veränderte sich das Bild auf unangenehme Art und Weise. Sophie sah durch Joshs Augen, wie Mars etwas aus der Tasche fiel. Sie erkannte darin seine Smaragdtafel und registrierte, dass …

… ihr Bruder losprescht, um sie aufzuheben, und dabei den Hinterlassenschaften der Tiere ausweicht.

Und als er die Tafel aufhob und die spiegelglatte Oberfläche betrachtete, sie in den Händen hin und her drehte, war sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Und da sah sie die Veränderungen, sah die tiefen Falten um die Augen herum, die verächtlich nach unten gebogenen Mundwinkel. Der Josh, den sie kannte, hatte nie so ausgesehen.

»Oh Josh«, flüsterte Sophie. »Was hast du getan?«

Josh Newman rannte hinaus auf den ehemaligen Gefängnishof. In großen Zügen atmete er die frische Luft ein. »Auf diesem Stockwerk sind alle frei …«

Dee und Dare standen mitten auf dem Hof. Der Magier hatte zwei der vier Kraftschwerter zu einem umgekehrten L auf den Boden gelegt. »Gib mir deine Schwerter«, verlangte er.

Ohne zu zögern, reichte Josh ihm Durendal, doch Clarent behielt er bei sich. Etwas sträubte sich in ihm, diese Klinge aus der Hand zu geben.

Der Magier ergänzte das Muster auf dem Boden um das dritte Schwert. Jetzt war nur noch die linke Seite des Quadrats offen. Dee streckte die Hand aus.

Josh spürte, wie Clarent in seiner Faust pulsierte.

»Schnell!«, kreischte Dee. Da erst merkte Josh, dass der Unsterbliche in heller Panik war. »Das waren Mars und Odin und Hel. Todfeinde allesamt.«

Virginia grinste. »Offensichtlich haben sie ihre Differenzen beigelegt, um dich zu schnappen.«

»Du hast nichts zu befürchten«, beruhigte Josh den Doktor. »Bevor ich hier herausgekommen bin, habe ich gerade noch gesehen, wie die Bestien sie den Flur hinuntergejagt haben.«

In diesem Moment erschien Mars. Als er Dee sah, stieß er sein entsetzliches Kriegsgeheul aus und stürmte auf ihn zu. Er trug ein Breitschwert, das so lang war, wie er groß war. Die Spitze schleifte auf dem Boden und schlug auf den Steinen Funken.

»Das Schwert, Josh!«

Josh zog Clarent aus dem Schaft und warf Dee die Klinge zu. Der fing sie geschickt auf und legte sie ans offene Ende des Quadrats. Durch die plötzliche Bewegung rutschte Josh die Smaragdtafel aus der Tasche und fiel auf den Boden.

Und dann lenkte Dee seine starke Aura in die vier Schwerter und erweckte eines nach dem anderen zu glühendem Leben.

»Geh jetzt, Sophie«, forderte Tsagaglalal das Mädchen auf.

»Gehen? Wohin denn?«

»Die Tafel funktioniert wie ein Krafttor-Spiegel.« Die alte Frau tippte auf das Bild auf der Tafel. »Geh dorthin. Geh zu deinem Bruder.«

»Wie?«

»Was habe ich dir gesagt, braucht es in erster Linie?«, fragte Tsagaglalal.

»Fantasie und Wille.«

»Willst du bei deinem Bruder sein?«

»Ja.«

»Mehr als alles andere auf der Welt?«

»Ja.«

»Dann geh.«

Und Sophie Newman fasste die Ränder der Tafel mit beiden Händen und die Oberfläche schimmerte silbrig und wurde zu einem perfekten Spiegel …

… und auf Alcatraz wurde die smaragdgrüne Tafel auf dem Boden ebenfalls silbern und die Luft war plötzlich erfüllt vom unverkennbaren Duft nach Vanille.

»Sophie?« Josh wirbelte herum und sah gerade noch, wie seine Schwester hinter ihm aus dem Nichts auftauchte. Sprachlos starrte er sie an.

Ein quadratisches Loch tat sich im Boden auf, eingerahmt von den brennenden Schwertern. Darin war nichts als wabernde Schwärze wie zäher, blubbernder Teer.

»Josh!«, brüllte Dee. Dann sprang er in das Loch.

Josh hatte sich sofort zu ihm umgedreht.

»Geh nicht!«, bat Sophie flehentlich.

»Josh!«, rief auch Virginia Dare. Beinahe vorsichtig stieg auch sie in die Schwärze und wurde sofort von ihr geschluckt.

»Ich muss gehen«, sagte Josh und machte einen Schritt auf das Loch zu. Die Flammen schlugen schon nicht mehr ganz so hoch aus den Steinklingen.

»Nein!«

Josh setzte einen Fuß in die Schwärze. Sophie ergriff seine Hand und wollte ihn zurückziehen, während er sich loszureißen versuchte. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzerrt. »Ich komme nicht zurück. Ich habe gesehen, was sie mit dir gemacht haben.«

»Josh, sie haben dich reingelegt. Sie benutzen dich nur!«

»Ich bin nicht derjenige, der hier benutzt wird«, zischte er. »Mach endlich die Augen auf. Die Flamels benutzen dich. Und das so lange, bis du völlig kaputt bist – genau so, wie sie es mit allen anderen auch gemacht haben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe. Dee und Virginia Dare brauchen mich. Du nicht.«

»Und ob ich dich brauche. Ich komme mit.« Und anstatt weiter an Josh zu ziehen, schubste sie ihn, und gemeinsam stolperten sie ins Nichts.

Es war keine Bewegung zu spüren.

Da war gar nichts.

Der einzige Fixpunkt in der Leere war Joshs warme Hand in ihrer.

Sophie sah nichts, obwohl ihre Augen weit offen waren. Es war nichts zu hören, und als sie schrie, kam kein Laut aus ihrem Mund.

Und obwohl dieser Zustand ewig anzuhalten schien, hätte er genauso gut nur einen einzigen Augenblick dauern können.

Dann war da ein Lichtpunkt.

Winzig.

Ein stecknadelkopfgroßes Licht direkt vor ihnen. Fielen sie hinein oder kam es auf sie zu?

Sie konnte wieder sehen.

Sie sah Joshs entsetztes Gesicht und wusste, dass sie genauso dreinschaute. Er blickte sie an und für einen Moment war er wieder ihr Bruder. Doch dann wurden seine Züge hart und er schaute weg. Aber ihre Hand ließ er nicht los.

Das Licht schluckte sie.

Die Sinne funktionierten wieder. Schmerzhaft das Sehen, qualvoll das Hören. Steine und Geröll unter ihren Füßen, der strenge Geruch von Tieren, ein exotischer Geschmack im Mund.

Sophie öffnete die Augen. Sie lag mit dem Gesicht im Gras. Unter ihr Blumen, die es auf der Erde, die sie kannte, nie gegeben hatte. Winzige Gebilde aus gesponnenem Glas und gehärtetem Harz.

Als sie sich herumrollte, stellte sie fest, dass sie nicht allein waren. Sie knuffte ihren Bruder. »Wird Zeit, dass du aufwachst.«

Vorsichtig öffnete er ein Auge und stöhnte. Als er begriff, was er da sah, war er mit einem Schlag hellwach und setzte sich kerzengerade auf. »Das ist …«

»… eine fliegende Untertasse«, ergänzte sie.

»Ein Vimana«, flüsterte Dee. »Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben noch mal eines sehe.« Er kniete im Gras und betrachtete den Flugapparat ehrfürchtig. Virginia Dare saß mit untergeschlagenen Beinen neben ihm. Ihre Flöte hielt sie locker in der Hand.

Das Vimana landete. Die Luft war erfüllt von einem Unterschall-Dröhnen. Dann öffnete sich das Dach und ein Mann und eine Frau erschienen. Beide trugen weiße Keramikrüstungen, die mit grafischen Mustern und Hieroglyphen geschmückt waren. Fast hätte man die Zeichen für lateinische Buchstaben halten können. Das Paar war groß und schlank und die gebräunte Haut bildete einen starken Kontrast zu den Rüstungen. Das Haar der Frau war kurz geschoren, der Schädel des Mannes glatt rasiert. Sie hatten strahlend blaue Augen.

Dee kauerte sich auf den Boden, ein Versuch, sich so klein wie möglich zu machen. »Meister«, flüsterte er. »Vergebt mir.«

Das Paar ignorierte ihn. Es hatte nur Augen für die Zwillinge.

»Sophie«, sagte der Mann.

»Josh«, sagte die Frau.

»Mom … Dad«, flüsterten die Zwillingen wie aus einem Mund.

Das Paar verbeugte sich. »An diesem Ort nennt man uns Isis und Osiris. Willkommen auf Danu Talis, Kinder. Willkommen zu Hause.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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