KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

Aten, der Herrscher über Danu Talis, stand auf dem Dach des Sonnenpalastes und beobachtete, wie die Vimanas aus dem Schlund von Huracan, dem Vulkangefängnis, aufstiegen.

Er hob leicht den Kopf. »Und keiner ist entkommen?«, vergewisserte er sich.

»Keiner, Bruder. Es war kein Problem für meine Anpu, sie gefangen zu nehmen.«

»Und der Mann mit der Hakenhand?«

»Wurde von den anderen getrennt, wie du befohlen hast.«

Aten drehte sich zu seinem Gesprächspartner um. Früher wäre es unmöglich gewesen, sie auseinanderzuhalten. Doch in letzter Zeit hatte sich der Wandel, den alle Älteren durchliefen, bei Aten bemerkbar gemacht. Sein Schädel, die Kieferknochen und die Nase waren länger geworden und die Lippen dicker. Die Augen saßen jetzt tiefer in den Höhlen und deutlich schräger. Er trug einen schweren Umhang aus Metall mit einer großen Kapuze und langen Ärmeln, um seine Verformungen zu verbergen.

»Wir sollten sie umbringen, jetzt gleich. Dann wäre die Sache erledigt«, schlug Anubis vor. Der Wandel hatte auch an seinem Körper bereits deutliche Spuren hinterlassen. Genau wie sein Bruder hatte Anubis früher einmal ausgesprochen gut ausgesehen. Doch jetzt waren seine Zähne so lang geworden wie die der Kreaturen, die er in seinem unterirdischen Labor erschuf. Seine kupferfarbene Haut hatte sich stellenweise schwarz verfärbt und war von winzigen roten Adern durchzogen. Das Sprechen bereitete langsam Probleme, und die Brüder wussten, dass es bald gänzlich unmöglich sein würde. Im Gegensatz zu Aten, der den Wandel zu verbergen suchte, stellte Anubis die Veränderungen – wie viele andere Ältere auch – wie eine Auszeichnung zur Schau.

»Sie umbringen?«, fragte Aten überrascht.

»Sie umbringen. Die schnellste Lösung eines Problems liegt immer darin, es zu beseitigen.«

»Aber, Bruder, wenn wir sie umbringen, geht uns die ungewöhnlichste Gelegenheit unseres Lebens durch die Lappen. Abraham sagt, sie seien aus der Zukunft.«

Anubis wollte ausspucken, was ihm aber nicht gelang. So zog er nur zischend die Luft durch die Zähne. »Ihn sollten wir auch umbringen.« Er stellte sich neben seinen Bruder und alle beide schauten sie über die im Rund angelegte Stadt hinaus auf den Vulkan. »Wo bleibt deine wissenschaftliche Neugier?«, fragte Aten leichthin. »Ich weiß noch, dass du als kleiner Junge unendlich neugierig warst.«

Anubis hob die Hände. Seine Finger krümmten sich zu Klauen, die Nägel waren bereits lang und schwarz. »Schau her, wohin es mich gebracht hat. Ich werde zu einem Monster. Ich bin sicher, dass meine Experimente mich auf irgendeine Art vergiftet und Einfluss auf meinen Wandel genommen haben. Denn eigentlich sollte wir doch gleich aussehen, Bruder, oder nicht?«

»Abraham behauptet, der Wandel bringe einfach nur unser wahres Selbst zum Vorschein«, erwiderte Aten gelassen.

»Und was heißt das in meinem Fall?«, knurrte Anubis.

Aten wandte der niederen Brüstung, die um das gesamte Dach herumlief, den Rücken zu und betrat die erste Ebene des riesigen Hängenden Gartens, der zum königlichen Palast gehörte. Er wollte Anubis nicht sagen müssen, dass er tatsächlich immer mehr zu einem der Ungeheuer mit Hundekopf wurde, die er vor tausend Jahren zum ersten Mal erschaffen hatte. »Geh ein Stück mit mir«, befahl er.

Der Dachgarten – »Garten des Mondes« genannt – war in sieben deutlich voneinander abgegrenzte ringförmige Bereiche unterteilt. Jeder Bereich hatte seine eigene Farbe und enthielt unterschiedliche Pflanzenarten. Aten trat in den ersten Ring, zog den schweren Umhang enger um sich, schloss die Augen und atmete tief ein. Dieser äußere Ring, eine Art Einfassung des gesamten Daches, war mit allen möglichen Lotusarten bepflanzt, über tausend verschiedene, die von überall auf der Welt stammten. Er erkannte jede einzelne Pflanze an ihrem ganz besonderen Duft.

»Brüderchen, unseren Besuchern darf nichts passieren«, warnte er und ließ etwas von seiner Autorität in seine Stimme einfließen. Er wusste, dass Anubis gern hinter seinem Rücken handelte. »Sie bekommen Wasser und etwas zu essen. Und sie werden nicht verhört – das übernehme ich selbst.«

»Ist das klug, Aten?«

Ohne sich umzudrehen, drohte der Herrscher über Danu Talis: »Stelle meine Entscheidungen nicht noch einmal infrage, Brüderchen. Denk daran, was mit unserem anderen Bruder geschehen ist. Du wirst ohne Widerrede tun, was ich dir sage. Sollte den Besuchern irgendetwas passieren, werde ich dich persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen.« Er drehte sich rasch um und sah noch den spöttisch arroganten Ausdruck auf dem Gesicht seines Bruders. »Du denkst, ich wäre schwach geworden, nicht wahr?«, fragte er in einem freundlich Tonfall.

Anubis trat vor ihn. Er trug ein langes, ärmelloses Kettenhemd, das ihm bis fast an die Knie reichte. Beim Gehen schwang es hin und her und der Saum aus geflochtenem Metall streifte die zarten Lotusblüten in den Beeten und zerfledderte sie. Er ließ sich vor Aten auf ein Knie nieder und senkte den Kopf. »Ich war dabei, als du gegen die Erstgewesenen und die Archonen gekämpft hast. Ich habe zusammen mit dir Erdenfürsten in die Flucht geschlagen. Du herrschst über ein Reich, das sich von Horizont zu Horizont erstreckt, von Pol zu Pol. Nur ein Dummkopf würde dich für einen Feigling oder schwach halten.«

»Dann sei kein Dummkopf!« Aten beugte sich zu seinem Bruder hinunter, fasste seine kräftige Schulter und zog ihn auf die Füße. Die Pupillen in seinen flachen gelben Augen verengten sich; aus kreisrunden Punkten wurden schmale Striche. »Was du nicht erwähnt hast, war, dass all dies vor langer Zeit geschah. Ich bin seit achthundert Jahren in keine Schlacht mehr geritten.«

»Warum sollten wir kämpfen? Wir haben schließlich die Anpu, die das für uns übernehmen können.« Anubis zitterte leicht, obwohl er bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen. In seinen Augen stand allerdings die nackte Angst.

»Du glaubst wohl, das Leben hier hätte mich milder gestimmt«, fuhr Aten fort, als hätte er ihn nicht gehört. »Du glaubst wohl, der Wandel hätte mich geschwächt.« Bei diesen Worten legte sich seine Hand fester um die Schulter des Bruders, die Finger drückten auf die Nerven und zwangen Anubis wieder auf die Knie. »Und ein weichherziger, schwacher Herrscher könnte leicht vom Thron gestoßen und durch einen stärkeren ersetzt werden. Durch jemanden wie dich. Aber du vergisst, Bruder, dass ich so viele Spione in der Stadt habe wie Blumen auf dem Dach hier. Ich weiß, was du gesagt hast, und ich weiß um das Komplott, das du geschmiedet hast.« Aten ballte die Faust um ein Stück Kettenhemd, schleifte seinen Bruder über den mit Quarzkristallen bestreuten Weg zurück zu der niederen Umfassungsmauer und drückte seinen Brustkorb dagegen. »Schau hinunter«, zischte er. »Was siehst du?«

»Nichts …«

»Nichts? Dann bist du blind. Schau genauer hin.«

»Ich sehe Menschen, die aus dieser Entfernung winzig erscheinen. Unbedeutende Menschen.«

»Unbedeutende Menschen, ja. Aber es ist mein Volk, sie sind meine Untertanen. Nicht deine. Niemals deine.« Aten zog seinen Bruder weiter über die Brüstung hinaus. »Wenn du meine Entscheidungen noch einmal infrage stellst, bringe ich dich um. Wenn ich herausbekomme, dass du eine Verschwörung gegen mich anzettelst, bringe ich dich um. Wenn du dich in der Öffentlichkeit noch einmal negativ über mich oder meine Königin äußerst, bringe ich dich um. Hast du mich verstanden?«

Anubis nickte. »Du bringst mich um«, murmelte er.

Aten stieß seinen Bruder von sich. Anubis landete in einem Beet mit reinweißen Lotusblüten. Ihr Duft erregte Übelkeit. »Du bist mein Bruder, und auch wenn es dich überraschen mag: Ich liebe dich. Das ist der einzige Grund, weshalb du diesen Tag überlebt hast. Und jetzt schaff mir den Mann mit der Hakenhand herbei.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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