KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

Ich habe immer von diesem Platz gewusst«, sagte Tsagaglalal zu Sophie. Sie machte eine einladende Handbewegung. »Komm, setz dich zu mir.«

Sophie schüttelte den Kopf.

»Bitte«, sagte Tsagaglalal leise. »Ich habe diesen Ort für dich und deinen Bruder geschaffen. Warum habe ich wohl meinen Gärtnern nie erlaubt, hier etwas zu verändern?«

Sophie ging ein Stück am Rand der Lichtung entlang und setzte sich dann vor einem Apfelbaum auf den Boden. Sie lehnte sich an den knorrigen Stamm und streckte die Beine lang aus. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, gab sie offen zu.

Tsagaglalal schwieg, den Blick fest auf das Gesicht des Mädchens gerichtet. Man hörte nichts als das Summen der Bienen und entfernte Verkehrsgeräusche.

»Ich habe mir gerade überlegt«, begann Sophie schließlich, »dass ich genau heute vor einer Woche in der Kaffeetasse bedient und mich aufs Wochenende gefreut habe. Josh war zum Mittagessen herübergekommen und wir haben uns ein Sandwich und ein Stück Kirschkuchen geteilt. Ich hatte gerade mit meiner Freundin Elle in New York telefoniert und war ganz aufgeregt, weil sie eventuell die Möglichkeit hatte, nach San Francisco zu kommen. Meine größte Sorge war, dass ich nicht freibekommen würde und nicht genügend Zeit für sie hätte.« Sie blickte Tsagaglalal an. »Ein Tag wie jeder andere. Ein ganz gewöhnlicher Donnerstag.«

»Und nun?«, fragte Tsagaglalal leise.

»Und jetzt, eine Woche später, wurden meine Sinne erweckt, ich kenne mich mit Magie aus, war in Frankreich und England, ohne in ein Flugzeug zu steigen; mein Bruder ist verschwunden und ich mache mir Sorgen um das Ende der Welt.« Sie lachte, doch es klang schrill und ein wenig hysterisch.

Tsagaglalal nickte. »Vor einer Woche warst du ein Mädchen, Sophie. In den vergangenen sieben Tagen hast du ein ganzes Leben gelebt. Du hast viel gesehen und noch mehr getan.«

»Mehr als ich wollte«, murmelte Sophie.

»Du bist erwachsen geworden«, fuhr Tsagaglalal fort, ohne auf die Unterbrechung einzugehen. »Du bist eine außergewöhnliche junge Frau, Sophie Newman. Du bist stark, klug und mächtig – unendlich mächtig.«

»Ich wünschte, es wäre nicht so«, erwiderte Sophie traurig. Sie blickte hinunter auf ihre Hände. Sie lagen auf ihren Oberschenkeln, die rechte Hand auf der linken und die Handflächen zeigten nach oben. Ungerufen sammelten sich silberne Aurafäden in ihren Handlinien und bildeten einen kleinen See mit einer glänzenden Flüssigkeit. Die flüssige Aura wurde von der Haut aufgenommen, und Sophie trug plötzlich silberne Handschuhe – zunächst aus weicher glatter Seide, dann aus Leder und schließlich aus Metall mit Nietenverbindungen. Sie spreizte die Finger. Die Handschuhe verschwanden und ihre Haut kam wieder zum Vorschein. Ihre Fingernägel blieben noch eine Weile glänzende silberne Spiegel, dann nahmen auch sie wieder die normale Färbung an.

»Du kannst vor dem, was du bist, nicht davonlaufen, Sophie. Du hast eine silberne Aura, und das heißt, du hast eine Verantwortung … und ein Schicksal. Dein Los wurde vor Tausenden von Jahren beschlossen.« Tsagaglalals Ton war fast mitfühlend. »Ich habe zugesehen, wie mein Mann Abraham mit Kronos gearbeitet hat. Kronos hat sein ganzes Leben damit zugebracht, die Zeit in den Griff zu bekommen. Dieses Vorhaben hat ihn völlig kaputt gemacht, hat seinen Körper verformt und sein Aussehen zigmal verändert. Es hat eine der abstoßendsten Kreaturen, die du je gesehen hast, aus ihm gemacht. Doch mein Mann nannte ihn seinen Freund, und ich habe keine Zweifel, dass Kronos das Wohlergehen der Humani und das Überleben dieses Schattenreiches am Herzen lag.«

»Die Hexe mochte ihn nicht …« Sophie schauderte, als am Rand ihrer Erinnerung eine Ahnung von Kronos’ wahrer Gestalt auftauchte.

Tsagaglalal nickte. »Und er hat sie für das, was sie getan hat, verachtet.«

»Was hat sie denn getan?«, fragte Sophie, doch die Erinnerungen kamen in so rascher Folge, dass es sie schüttelte.

… ein Kriegshammer zerschmettert einen Kristallschädel, saust dann auf einen zweiten herunter und auf einen dritten …

… eine rauchende Säure frisst sich in Bücher aus Metall; sie schmelzen und tropfen von einstürzenden Regalen …

… außergewöhnliche Luftschiffe aus Glas und Keramik, zerbrechlich, wunderschön und technisch ausgereift, rund, länglich und dreieckig, werden von Klippen gestoßen und versinken im Meer …

Tsagaglalal beugte sich vor. »Die Hexe hat Artefakte der Erdenfürsten, der Erstgewesenen und der Archone aus Tausenden von Jahren zerstört. Das gesamte Geheimwissen, wie mein Mann es nannte.«

»Es war zu gefährlich.« Ohne zu überlegen, hatte Sophie die Meinung der Hexe wiedergegeben.

»Der Ansicht war die Hexe, ja.« Tsagaglalals Miene wurde unendlich traurig. »Dein Freund, der Unsterbliche William Shakespeare, hat einmal geschrieben: ›An sich ist nichts weder gut noch böse. Das Denken erst macht es dazu.‹«

»Das ist aus Hamlet. Wir haben das Stück letztes Jahr in der Schule durchgenommen.«

»Zephaniah war der Meinung, dass das Geheimwissen gefährlich sei und sie deshalb ein Recht hätte, es aus der Welt zu schaffen. Aber Wissen an sich ist nie gefährlich, das musst du dir merken. Die Art und Weise, wie das Wissen angewandt wird, kann gefährlich sein. Die Hexe hat in ihrer Arroganz unzählige Jahrtausende an Wissen unzugänglich gemacht. Deshalb hat Kronos sie, als sie ihn um einen Gefallen bitten musste, teuer dafür bezahlen lassen. Vielleicht hat er auch zu verhindern versucht, dass sie noch mehr zerstört, obwohl es zu dieser Zeit wahrscheinlich schon zu spät war. Ich frage mich manchmal, ob die Humani nicht da stünden, wo sie heute stehen, wenn wir noch Zugang zu diesem Wissen hätten.«

Vor Sophies innerem Auge tauchten Bilder von der Technologie der Erstgewesenen auf, vorüberziehende Ansichten von Städten mit Hochhäusern aus Glas, von riesigen Schiffsflotten aus Metall und von kristallenen Flugobjekten, die über den Himmel jagten. Dann wurde es dunkel, und sie sah, wie eine wunderschöne, filigrane Stadt schmolz, als in ihrem Zentrum eine tödliche Pilzwolke aufstieg. Sie schüttelte den Kopf und tat einen zittrigen Atemzug, versuchte, die Bilder zu verscheuchen, und blinzelte sich in die Gegenwart zurück. Die für einen Nachmittag in San Francisco üblichen Geräusche – eine Schiffssirene in der Ferne, das Tuten der Alarmanlage eines Autos, das Heulen eines Rettungswagens – kehrten zurück. »Nein, wir hätten alles zerstört«, murmelte sie.

»Vielleicht«, sagte Tsagaglalal leise. »Die Vernichtung der Welt und alles Lebens darauf war eine Möglichkeit, mit der mein Mann und Kronos praktisch täglich konfrontiert waren. Ich saß dabei und habe gesehen, wie sie die Myriaden von Zeitsträngen nach denjenigen durchsuchten, die die Existenz der Humani und dieses Schattenreichs möglichst lange gewährleisten würden. Sie nannten sie Glücksstränge. Hatten sie einen solchen Glücksstrang ausfindig gemacht, taten sie alles, was in ihrer Macht stand, damit er sich auch entwickeln konnte.«

Eine kühle, von Salz und Auspuffgasen geschwängerte Brise strich durch die umstehenden Bäume und Büsche. Blätter wisperten miteinander und Sophie fröstelte plötzlich. »Und Josh und ich waren in einem dieser Glücksstränge?«

»Ein Junge und ein Mädchen kamen darin vor, ja. Zwillinge. Gold und Silber.« Tsagaglalal blickte das Mädchen an. »Mein Mann kannte sogar eure Namen.«

Sophie legte die Hand auf die grüne Tafel, die sie in den Bund ihrer Jeans gesteckt hatte. Ihr Name stand darauf.

Tsagaglalal nickte. »Er wusste eine Menge über euch, wenn auch nicht alles. Die Zeitstränge sind nicht immer sehr genau. Doch Abraham und Kronos wussten ohne Zweifel, dass die Zwillinge für das Überleben der Humani-Rasse und der Welt eine entscheidende Rolle spielen würden. Und ihnen war klar, dass sie ein perfektes Zwillingspaar, eine Gold- und eine Silberaura, beschützen mussten.«

»Josh und ich sind nicht perfekt«, warf Sophie rasch ein.

»Das ist niemand. Aber ihr habt reine Auren. Wir wussten, dass die Zwillinge Wissen bräuchten. Deshalb hat mein Mann den Codex erschaffen, das Buch Abrahams des Weisen, das auf seinen wenigen Seiten das Wissen der ganzen Welt enthält.« Die alte Frau verzog schmerzlich das Gesicht. »Damals setzte der Wandel bei ihm ein. Weißt du, was der Wandel bedeutet?«

Sophie wollte schon den Kopf schütteln, doch dann nickte sie, als das Wissen der Hexe in ihres einfloss. »Eine Umbildung. Die Ältesten des Älteren Geschlechts verwandeln sich meist in …« Sie hielt inne und blickte konzentriert auf die inneren Bilder. »… in Monster.«

»Nicht alle, aber die meisten. Einige Umbildungen sind auch wunderschön. Mein Mann glaubte, der Wandel sei möglicherweise eine Mutation, die einsetzt, wenn unvorstellbar alte Zellen der Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind.«

»Aber du hast dich nicht verwandelt.«

»Ich gehöre nicht dem Älteren Geschlecht an«, antwortete Tsagaglalal ganz einfach. »Als Abraham den Codex schuf, hat er dafür gesorgt, dass nur die Humani damit umgehen konnten. Auf Ältere wirkt allein schon die Berührung wie Gift. Eine Reihe von Humani wurde zu Hütern bestimmt. Sie sollten das Buch über die Jahrhunderte beschützen.«

»Und das war auch deine Rolle?«, fragte Sophie.

»Nein«, antwortete Tsagaglalal zu ihrer Überraschung. »Als Hüter des Buches wurden andere ausgewählt. Meine Aufgabe war es, die Smaragdtafeln sicher zu verwahren, über die Gold- und Silber-Auren zu wachen und am Ende für sie da zu sein, wenn sie mich brauchen.«

»Tsagaglalal«, flüsterte Sophie, »die Wächterin.«

Die alte Frau nickte. »Ich bin die Wächterin. Mithilfe von verbotenem Archonen-Wissen hat Abraham mich unsterblich gemacht. Ich war ausersehen, über die Zwillinge zu wachen und sie zu beschützen. Und damit er über mich wachen und mich beschützen konnte, vermachte mein Mann auch meinem jüngeren Bruder das Geschenk der Unsterblichkeit.«

»Dein Bruder …«, begann Sophie leise.

Tsagaglalal nickte. Ihr Blick war starr auf den Himmel gerichtet. »Wir haben über zehntausend Jahre zusammen auf der Erde gelebt und über Generationen von Newmans gewacht. Und was für einen Stammbaum sie haben! Mein Bruder und ich haben Adlige und Bettler bewacht, Herren und Sklaven. Wir haben in so ziemlich jedem Land auf diesem Planeten gelebt und gewartet, gewartet, immer nur gewartet …« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Es gab hin und wieder eine Goldaura in deiner Familie, auch einige Silberauren. Selbst ein paar Zwillingspaare, doch die prophezeiten Zwillinge waren nicht dabei. Und der Verstand meines Bruders ist unter der Bürde der Jahre langsam zusammengebrochen.«

»Aber wie kommen die Flamels ins Spiel? Weshalb haben sie nach Zwillingen gesucht?«

»Ein Fehler, Sophie. Eine Fehlinterpretation. Vielleicht sogar eine gewisse Arroganz. Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, auf das Buch aufzupassen. An irgendeinem Punkt glaubten sie dann, dass es ihnen aufgetragen sei, die legendären Zwillinge zu finden.«

Sophie hatte das Gefühl, als würde alle Luft aus ihrem Körper gesaugt. »Dann war alles, was sie getan haben … sinnlos?«

Tsagaglalal lächelte. »Nein, sinnlos war es nicht. Alles, was sie taten, hat sie näher zu dieser Stadt gebracht, in diese Zeit und schließlich zu euch. Es war nicht ihre Aufgabe, die Zwillinge zu finden – die Prophezeiung lautete, dass die Zwillinge sie finden würden. Ihre Aufgabe war es, die Zwillinge zu beschützen und dafür zu sorgen, dass ihre Sinne erweckt würden.«

Sophies Kopf drohte zu platzen. Der Gedanke, dass alles in ihrem Leben, angefangen mit der Geburt, bereits vor zehntausend Jahren vorhergesagt worden war, löste schieres Entsetzen in ihr aus. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Dein Bruder«, fragte sie rasch. »Wo ist er jetzt?«

»Wir gingen zum ersten Mal nach England, als wir erfuhren, dass Scathach einem jungen Mann namens Arthur auf den Thron verholfen hatte. Mein Bruder schloss den jungen Mann ins Herz. Arthur wurde wie ein Sohn für ihn. Als er starb, war mein Bruder am Boden zerstört. Sein Verstand begann zu zerfallen. Er fand es schwierig, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten, Realität und Fantasiegespinste. Er war überzeugt, Arthur käme zurück und bräuchte ihn dann. Deshalb hat er England nie mehr verlassen. Er sagte, er würde dort sterben.«

»Gilgamesch«, flüsterte Sophie.

»König Gilgamesch«, ergänzte Tsagaglalal ebenso leise. »In England war er allerdings unter einem anderen Namen bekannt.« Tränen rollten ihre faltigen Wangen hinunter und im Garten roch es plötzlich intensiv nach Jasmin. »Für mich ist er verloren. Seit Langem verloren.«

»Wir sind ihm begegnet«, erzählte Sophie aufgeregt. Sie beugte sich vor und berührte Tsagaglalals Arm. Ihre Aura knisterte. »Er lebt! In London.« Sie musste selbst Tränen wegblinzeln, als sie an den zerlumpten, schmutzigen alten Obdachlosen mit den schockierend blauen Augen dachte, dem sie auf der Rückbank eines Taxis zum ersten Mal begegnet war.

Der Jasminduft wurde sauer. Tsagaglalals Stimme klang bitter. »Ach, Sophie, ich weiß, dass er noch lebt und in London ist. Ich habe Freunde dort, die auf meine Bitte hin ein Auge auf ihn haben, dafür sorgen, dass er immer genügend Geld hat und nie hungern muss.« Sie weinte jetzt. Dicke Tränen tropften von ihrem Kinn ins Gras, wo winzige Jasminblüten aufgingen und sich innerhalb einer Sekunde wieder schlossen. »Er erinnert sich nicht mehr an mich«, flüsterte Tsagaglalal. »Nein, das stimmt nicht. Er erinnert sich wohl an mich, aber er erinnert mich so, wie ich einmal war, vor zehntausend Jahren, jung und hübsch. Mit meinem jetzigen Aussehen erkennt er mich nicht wieder.«

»Er hat gesagt, er hat alles aufgeschrieben«, erzählte Sophie. Sie wischte silberne Tränen von ihren Wangen. »Er hat gesagt, er würde auch über mich schreiben, damit er mich nicht vergisst.« Sie erinnerte sich, wie der alte Mann ihr einen Packen Papier gezeigt hatte, der mit Schnur zusammengebunden war. Es waren Seiten aus Notizbüchern dabei, Titelblätter von Taschenbüchern, Zeitungsschnipsel, Speisekarten und Servietten aus Restaurants, dickes Pergament und sogar gegerbte Tierhaut und hauchdünne Kupfer- und Rindenplättchen. Sie alle waren auf ungefähr dieselbe Größe geschnitten oder gerissen und in einer winzigen Schrift von Hand beschrieben worden.

»Diese Unsterblichkeit ist ein Fluch«, sagte Tsagaglalal unvermittelt und voller Zorn. »Ich habe meinen Mann geliebt, aber es gab Zeiten – viel zu viele Zeiten –, da habe ich ihn für das, was er mir und meinem Bruder angetan hat, gehasst und seinen Namen verflucht.«

»Abraham hat geschrieben, dass ich seinen Namen jetzt und in alle Ewigkeit verfluchen würde«, erinnerte sich Sophie.

»Wenn mein Mann eine Schwäche hatte, dann die, dass er immer die Wahrheit gesagt hat. Und die Wahrheit ist manchmal hart.«

Sophie hielt den Atem an. Ein paar Erinnerungen der Hexe schoben sich zwischen ihre Gedanken und sie handelten von etwas Wichtigem. Sie konzentrierte sich, um zu verstehen, worum es ging. »Bei dem Prozess, der Gilgamesch unsterblich gemacht hat, sind Fehler unterlaufen. Aber wenn ihm seine Unsterblichkeit genommen wird –« Sie hielt inne.

»Woran erinnerst du dich, Kind? Wusste die Hexe noch mehr?«

»Nein, mir ist gerade eingefallen, worum Gilgamesch Josh gebeten hat.«

»Und was war das?«

»Mein Bruder musste ihm versprechen, dass wir, wenn das alles vorüber ist – und falls wir überleben –, mit dem Codex nach London zurückkehren.«

Die alte Frau runzelte die ohnehin faltige Stirn. »Weshalb nur?«

»Gilgamesch erzählte, dass auf der ersten Seite des Codex ein Zauberspruch stünde.« Sie überlegte angestrengt und versuchte, sich an die genauen Worte des Königs zu erinnern. »Er hat gesagt … Er hat gesagt, er hätte direkt neben Abraham gestanden und zugeschaut, wie dieser ihn in die Codex-Schrift übertragen hätte.«

Tsagaglalal nickte. »Sowohl mein Bruder als auch Prometheus waren immer an der Seite meines Mannes. Ich wüsste zu gern, was er gesehen hat.«

»Die Wortfolge, die Unsterblichkeit verleiht«, antwortete Sophie. »Und als Josh und ich ihn fragten, wozu er die bräuchte, da er ja bereits unsterblich sei –«

»Um die Formel umzukehren«, unterbrach Tsagaglalal sie. »Es könnte funktionieren. Er könnte wieder sterblich werden. Vielleicht würde er sogar sein Gedächtnis wiedererlangen und sich an mich erinnern«, flüsterte die alte Frau. »Wir könnten wieder richtige Menschen werden und in Frieden sterben.«

»Wieder richtige Menschen?«, wiederholte Sophie fragend. Plötzlich fiel ihr etwas ein, das die alte Frau zuvor gesagt hatte. »Du gehörst nicht dem Älteren Geschlecht an und bist auch keine Archonin oder Erstgewesene. Was bist du eigentlich?«

Tsagaglalal blickte sie mit einem traurigen Lächeln an. »Was glaubst du, Sophie, warum wurde der Codex wohl so erschaffen, dass die Älteren ihn nicht ertragen und nur Humani ihn anfassen können? Gilgamesch und ich sind Humani. Wir gehörten zu den ersten Urmenschen, die von Prometheus’ Aura in der namenlosen Stadt am Rande der Welt zum Leben erweckt wurden. Jetzt gibt es keine Urmenschen mehr. Nur Gilgamesch und ich sind noch übrig. Und für mich gibt es nur noch eines zu tun.«

Sophie lehnte sich an den Stamm des Apfelbaums und verschränkte die Arme. Sie wusste, was ihre Tante vorschlagen wollte. »Kann ich ablehnen?«

»Du kannst.« Mit dieser Antwort hatte Sophie nicht gerechnet. »Aber wenn du ablehnst, werden Zehntausende Menschen, die im Lauf der Zeit lebten und starben, um dich zu beschützen, umsonst gestorben sein. Alle diejenigen, die den Codex bewacht haben, die Generationen von Zwillingen, die Älteren und die aus der nächsten Generation, die sich auf die Seite der Humani gestellt haben – sie alle sind dann umsonst gestorben.«

»Und die Welt hört auf zu existieren«, fügte Sophie hinzu.

»Das auch.«

»Hat dein Mann das vorhergesehen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Tsagaglalal. Ihre Augen waren rot gerändert, doch sie hatte keine Tränen mehr. »Der Wandel hat in diesen letzten Tagen seinen Körper verändert und ihn in reines Gold verwandelt. Das Sprechen wurde unmöglich. Ich bin sicher, er hätte dennoch einen Weg gefunden, sich mir mitzuteilen, doch dann wurde Danu Talis in der entscheidenden Schlacht zerstört.« Tsagaglalal wandte sich von Sophie ab. Ihr Blick folgte einer dicken Hummel, die mit lautem Summen über die Lichtung flog und an der Stelle im Gras landete, an der nur wenige Augenblicke zuvor Jasminblüten aufgeblüht und wieder verwelkt waren. »Abraham und Kronos haben viele Abläufe der Geschichte gesehen und jeder dieser Abläufe wurde von individuellen Entscheidungen bestimmt. Oft war es unmöglich festzustellen – außer in ganz groben Zügen –, wer was getan hatte. Deshalb ist die ursprüngliche Prophezeiung so vage – ›Einer, um die Welt zu retten, einer, um sie zu zerstören.‹ Ich weiß nicht, wer von beiden du bist, Sophie.« Sie wies mit dem Kinn aufs Haus. »In der Schachtel ist noch eine Tafel und sie ist an deinen Bruder adressiert.«

Sophie stockte der Atem, als sie begriff, was das bedeutete.

Tsagaglalal nickte. »Ja, es hätte genauso gut Josh sein können, mit dem ich hier rede, während Sophie Newman neben Dee und Virginia Dare auf Alcatraz steht. Aber der Augenblick wird kommen – und zwar bald –, an dem du dich entscheiden musst. Und die Entscheidung, die du triffst, wird die Zukunft der Welt und der unzähligen Schattenreiche bestimmen.« Sie sah das Entsetzen auf Sophies Gesicht und legte dem Mädchen eine Hand auf die Wange. »Vergiss, was du weißt – oder glaubst zu wissen –, und vertraue deinem Instinkt. Folge deinem Herzen. Vertraue sonst niemandem.«

»Aber Josh? Was ist mit ihm? Ihm kann ich doch vertrauen, oder?«, fragte Sophie aufgeschreckt.

»Folge deinem Herzen«, wiederholte Tsagaglalal. »Und jetzt schließe die Augen, damit ich dir alles über die Magie der Erde beibringen kann.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
titlepage.xhtml
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_000.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_001.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_002.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_003.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_004.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_005.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_006.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_007.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_008.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_009.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_010.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_011.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_012.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_013.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_014.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_015.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_016.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_017.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_018.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_019.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_020.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_021.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_022.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_023.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_024.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_025.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_026.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_027.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_028.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_029.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_030.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_031.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_032.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_033.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_034.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_035.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_036.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_037.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_038.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_039.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_040.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_041.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_042.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_043.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_044.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_045.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_046.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_047.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_048.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_049.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_050.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_051.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_052.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_053.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_054.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_055.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_056.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_057.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_058.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_059.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_060.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_061.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_062.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_063.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_064.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_065.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_066.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_067.html