KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

Das Rukma-Vimana surrte über eine Landschaft von ungewöhnlicher Schönheit. Wald, wohin man blickte. Flüsse schlängelten sich durch die Bäume und mündeten in riesige Seen, deren Wasser so klar war, dass man bis weit unter die Oberfläche schauen konnte. Sie überflogen gigantische Mammutherden und beobachteten Säbelzahntiger, die den Tieren im hohen Gras auflauerten. Gewaltige schwarze und braune Bären erhoben sich auf die Hinterbeine, als das Vimana über sie hinwegflog, und beim Auftauchen des Flugzeugs zerstreuten sich ganze Schwärme von Pterosauriern.

»Eine wahrhaft magische Landschaft«, sagte Shakespeare zu Palamedes. »Gut möglich, dass ich den Mittsommernachtstraum noch einmal neu schreiben muss.«

Der sarazenische Ritter nickte, doch dann drehte er seinen Freund zu einem der nach hinten gehenden Kabinenfenster um. »Auch diese Welt ist nicht ohne Fehler«, murmelte er und wies auf den Himmel hinter ihnen.

»Wir haben Gesellschaft«, verkündete Scathach und trat von einem Fenster weg. »Jede Menge.«

»Ich weiß.« Prometheus zeigte auf einen gläsernen Bildschirm, der fast direkt vor ihm in den Boden eingelassen war. Rote Punkte flitzten darauf hin und her.

Palamedes blickte sich in der Kabine um. »Das ist ein Kampfflugzeug. Gibt es hier Waffen?«

Der kräftige Ältere grinste vom Steuerpult herüber. Weiße Zähne leuchteten aus dem roten Bart. »Oh ja, die gibt es. So viele du willst.«

»Ich fürchte, wir bekommen gleich ein ›aber‹ zu hören«, murmelte William Shakespeare.

»Aber sie funktionieren nicht«, fuhr Prometheus fort. »Diese Maschinen sind alt. Niemand, nicht einmal Abraham, weiß, wie man sie repariert. Die meisten können kaum noch fliegen und gewöhnlich fallen jeden Tag eine oder zwei vom Himmel.« Er wies mit dem Daumen auf ein in Stoff eingeschlagenes Bündel auf dem Sitz neben sich. »Falls ihr euch bewaffnen wollt – ich habe mir die Freiheit genommen, eure Waffen von den Anpu zurückzuholen.«

»Ah, jetzt bin ich wieder glücklich.« Scathach steckte ihre Schwerter in die leeren Scheiden auf ihren Schultern.

Saint-Germain und Johanna saßen nebeneinander. Ihre Köpfe berührten sich, während sie aus einem der runden Kabinenfenster schauten. »Sie holen rasch auf«, berichtete Johanna. »Es sind zu viele, als dass man sie zählen könnte.«

»Unser einziger Trost ist, dass auch davon die wenigsten funktionierende Waffen an Bord haben«, sagte Prometheus.

Palamedes blickte zu Scathach hinüber. »Wenn du ›die wenigsten‹ sagst …«, begann sie.

»Einige werden bewaffnet sein«, stellte Prometheus klar.

»Im Anflug!«, brüllte Saint-Germain. »Zwei haben Raketen abgeschossen.«

»Setzt euch und schnallt euch an«, befahl Prometheus. Die Gruppe nahm rasch die Plätze hinter ihm ein und er fügte hinzu: »Wir sind zu langsam, um ihnen davonzufliegen, und die kleineren sind unendlich viel leichter zu manövrieren.«

»Gibt es auch gute Nachrichten?«, fragte Scathach.

»Ich bin der beste Pilot in ganz Danu Talis«, antwortete Prometheus.

Scathach lächelte. »Wenn jemand anders das behaupten würde, hielte ich es für Angeberei. Aber nicht bei dir, Onkel.«

Prometheus warf der Kriegerin einen raschen Blick zu. »Wie oft muss ich es dir noch sagen: Ich bin nicht dein Onkel.«

»Jedenfalls noch nicht«, murmelte sie.

»Sind alle angeschnallt?«, fragte Prometheus. Ohne auf Antworten zu warten, zog er das dreieckig Vimana senkrecht nach oben und ließ es dann wieder nach vorn abkippen, sodass die Erde über ihren Köpfen und der Himmel unter ihnen waren. Dann brachte er es erneut in die normale Flugposition und Erde und Himmel befanden sich wieder an ihrem üblichen Platz.

»Ich muss gleich kübeln«, murmelte Scatty.

»Das wäre sehr schlecht«, erwiderte Shakespeare, »vor allem weil ich direkt hinter dir sitze.«

Johanna ergriff die Hand ihrer Freundin. »Du musst dich auf andere Dinge konzentrieren«, riet sie ihr auf Französisch.

»Worauf zum Beispiel?« Scathach presste die Hand auf den Mund und schluckte hart.

Johanna zeigte nach vorn.

Scatty schaute in die angegebene Richtung und vergaß sofort ihre Übelkeit. Sie flogen auf mindestens hundert Vimanas zu. Die meisten waren klein und kreisrund wie diejenigen, die sie im Krater gesehen hatten. Doch es gab auch große längliche darunter und Scatty entdeckte sogar zwei Rukma-Vimanas.

Und Prometheus flog direkt auf sie zu!

William Shakespeare rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. »Also, ich war noch nie ein Krieger und kenne mich mit Taktik wenig aus, aber sollten wir nicht in die andere Richtung fliegen?« Sie waren inzwischen so nah herangekommen, dass sie die großen Augen der Anpu im ersten Vimana erkennen konnten.

»Das werden wir auch«, versprach Prometheus. »Sobald die Raketen explodieren.«

»Welche Raketen?«, wollte Shakespeare wissen.

»Die beiden direkt hinter uns.« Prometheus zog den Schalthebel zurück und das Vimana stieg wieder senkrecht in die Luft und legte sich dann auf den Rücken. Erde und Himmel wechselten die Position. Scathach stöhnte.

Und die beiden Raketen, deren Ziel sie gewesen waren, schossen an dem Rukma vorbei und direkt in die nächsten beiden Vimanas hinein. Sie explodierten in Feuerbällen. Flammenbänder zogen über drei weitere Maschinen hinweg, während zwei andere ineinanderkrachten.

»Minus sieben.« Palamedes schlüpfte sofort wieder in die Rolle des Kriegers und erstattete seinem Kommandeur Bericht über die Zahl der gefallenen Feinde.

»Bleiben noch dreiundneunzig«, ergänzte Saint-Germain und zwinkerte seiner Frau zu. Johanna ergriff seine Hand, drehte sie um und tippte auf die Oberseite seines Handgelenks, wo ein Dutzend winziger Schmetterlinge in die Haut tätowiert waren. Dann hob sie in einer stummen Frage eine streichholzdünne Augenbraue.

»Ich mache einen Vorschlag«, rief Saint-Germain nach vorn zu Prometheus. »Ich bin ein Meister des Feuers. Warum öffnen wir nicht einfach die Tür und ich lasse einen kleinen Blitz vom Himmel fahren?«

Prometheus’ Lachen klang eher wie ein Grunzen. »Du kannst es ja versuchen. Versuche, deine Aura zu aktivieren.«

Saint-Germain schnippte mit den Fingern. Das war sein Partytrick und normalerweise schoss daraufhin eine Flamme aus seinem Zeigefinger. Aber nichts tat sich. Er strich über den Schmetterlingsbeschleuniger oben auf seinem Handgelenk und versuchte es erneut. Eine dünne schwarze Rauchfahne ringelte sich unter seinem Fingernagel hervor.

»Das Verfahren, das die Vimanas in der Luft hält – was immer es ist –, unterdrückt deine Aura«, erklärte Prometheus. »Abraham glaubt sogar, dass sie fliegen, weil sie einen Teil ihres Antriebs aus der Aura des Piloten holen.«

»Dann können wir also unsere Auren nicht einsetzen«, schlussfolgerte Saint-Germain. »Wir haben keine Waffen und ihnen entkommen können wir auch nicht. Was können wir überhaupt?«

»Ihnen entfliegen.«

Das Rukma-Vimana sackte nach unten. Palamedes und Saint-Germain jauchzten, während Shakespeare und Scathach aufschrien. Nur Johanna blieb ruhig und gefasst.

Zehn Vimanas lösten sich aus dem Flottenverband und folgten ihnen nach unten.

Prometheus flog so dicht über dem Boden, dass er Blumen köpfte und das Gras platt drückte. Ein Vimana kam dicht heran, und sie sahen, wie der Anpu darin eine Waffe entsicherte. Prometheus zog die Maschine über ein paar Bäume. Ganz bewusst flog er direkt auf einen jungen Baum zu, zog sein Rukma aber im letzten Moment wieder nach oben, sodass der Baum nicht brach, sondern sich nur bog – und beim Zurückschnellen das Verfolger-Vimana traf. Der Pilot erschrak und verlor die Kontrolle über sein Fluggerät. Es kam ins Trudeln und bohrte sich in die Erde.

»Wieder eines weniger«, kommentierte Palamedes.

»Netter Trick«, sagte Saint-Germain. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob du ihn wiederholen kannst.«

Die neun anderen Vimanas kamen rasch näher.

»Sie haben die Kuppeln geöffnet«, berichtete Saint-Germain. »Und sie befestigen etwas auf den Dächern, das aussieht wie Gewehre.«

»Tonbogiri«, antwortete Prometheus knapp. Er schwenkte seine Maschine nach rechts, dann nach links, als zwei Gewehre abgefeuert wurden. »Man nennt sie auch Cutter.« Ein metallisches Kreischen war zu hören, dann folgte ein kräftiger Schlag, als etwas dicht neben Scathach die Wand des Rukmas durchschlug. Eine deformierte Kugel rollte ihr vor die Füße. »Nicht berühren!«, warnte Prometheus, als die Kriegerin sich hinunterbeugte. »Die Kugeln sind scharf wie Rasiermesser. Wenn du sie dir in die Handfläche fallen lassen würdest, kämen sie auf der Unterseite wieder heraus, noch bevor du auch nur irgendetwas gespürt hättest.«

Der Ältere lenkte das Rukma über einen See und ließ es ins Wasser eintauchen. Eine eiskalte Fontäne stieg hinter dem Flugschiff auf und klatschte in das offene Dach des nachfolgenden Vimanas. Erschrocken duckte der Pilot sich vom Kontrollpult weg. Seine Maschine trudelte in die Schusslinie der nachfolgenden, gerade als der Anpu darin feuerte. Die Tonbogiri-Kugel schnitt haarscharf durch das Steuergerät des Vimanas. Es neigte sich nach vorn und stürzte in den See.

»Jetzt sind es nur noch ungefähr zweiundneunzig«, verkündete der sarazenische Ritter.

Prometheus beschrieb einen perfekten Kreis auf dem See. Das Wasser brodelte. Ein Vimana erschien an ihrer Seite und der Anpu darin brachte sein Tonbogiri in Anschlag. Prometheus schaltete den Motor aus und das Rukma sank wie ein Stein. Als es ins Wasser eintauchte, stieg eine gewaltige Gischtfontäne auf. Es sank in einer Bläschenwolke. Sofort drang Wasser durch die Dichtungen an den Fenstern und an der Türe und strömte durch das Loch, das der Tonbogiri geschlagen hatte. Der Älter pfiff frustriert durch die Zähne. »So etwas habe ich noch nie getan. Früher konnte man mit diesen Dingern ins Weltall fliegen«, murmelte er.

Ein metallisches Geräusch ertönte, als etwas auf das Dach fiel, und sie blickten auf. Durchs Wasser sahen sie über sich verschwommen das runde Vimana. Ein zweites und dann ein drittes kamen dazu. Tonbogiri-Kugeln klatschten in den See. Sie zogen Bläschenbänder hinter sich her, verloren im Wasser aber rasch an Geschwindigkeit. Langsam trudelten sie abwärts. Einige landeten mit einem sanften Plopp auf dem Dach des Rukmas, andere sanken auf den Boden des Sees.

Plötzlich knackte es und eine Bodenplatte hob sich. Eiskaltes Wasser drang bei Johannas Füßen herein. »Wir haben ein Leck!«

»Hinauf!«, brüllte Palamedes. »Wir müssen aufsteigen, bevor wir zu schwer werden!«

»Moment noch«, knurrte Prometheus. Er wies mit dem Kinn auf den Bildschirm zu seinen Füßen. Zwei rote Punkte kamen rasch näher.

»Wie ist es möglich, dass sie von hinten kommen?«, fragte Saint-Germain verblüfft.

»Tun sie nicht. Sie kommen von unten«, korrigierte Prometheus. »Und es sind keine Vimanas. Wir haben irgendetwas aus der Tiefe geweckt.«

»Das hast du mit Absicht getan«, schimpfte Scathach. »Deshalb hast du das Wasser aufgewirbelt.«

»Was immer es ist, es nähert sich schnell …. sehr schnell …« Palamedes zeigte auf den Schirm. »Und es werden immer mehr.«

»Da draußen ist etwas – es bewegt sich im Wasser«, rief Saint-Germain aufgeregt. »Etwas …« Er hielt inne. Es hatte ihm vorübergehend die Sprache verschlagen. »Großes … mit Zähnen … jede Menge Zähne.«

Prometheus bediente einen Hebel, und das Rukma schoss nach oben und aus dem Wasser, gefolgt von zwei riesigen, haiähnlichen Kreaturen. Die erste krachte in zwei der über dem See kreisenden Vimanas. Sie stürzten ab und gingen sofort unter. Die zweite Kreatur schnappte nach einem weiteren Vimana, zerbiss es fast und zog es dann unter die Wasseroberfläche.

Noch drei der riesigen Kreaturen stiegen mit weit aufgerissenem Maul aus dem Wasser. »Haie«, stellte Scathach fest.

»Megalodon-Haie«, ergänzte Prometheus. Während er das Rukma immer weiter hinaufzog, flossen kleine Wasserbäche aus den Lecks.

»Sie waren mindestens zehn Meter lang!«, sagte Scatty.

»Ich weiß«, erwiderte Prometheus, »es müssen Babys gewesen sein.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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