KAPITEL NEUN

Die Insel Danu Talis«, sagte Marethyu leise und zog den langen Umhang enger um seinen Körper. »Eines der nicht mehr existierenden Weltwunder.«

Scathach, Johanna von Orléans, Saint-Germain, Palamedes und William Shakespeare standen auf einem Berg und blickten hinunter auf eine goldene Stadtinsel von gewaltigen Ausmaßen. Sie erstreckte sich bis zum Horizont. Die Stadt selbst war als kreisrundes Labyrinth angelegt und umgeben von glitzernden blauen Wasserwegen, die sich auch zwischen den Bauwerken hindurchzogen. Auf dem Wasser glänzte silbern das Sonnenlicht. Es blendete, wenn die goldenen Gebäude es reflektierten. Einige Stellen waren fast zu hell, als dass man hinschauen konnte.

Saint-Germain saß im saftigen grünen Gras und Johanna setzte sich neben ihn. »Danu Talis gibt es nicht mehr«, bemerkte er in ruhigem Tonfall. »Ich glaube, ich habe gelesen, dass die Insel untergegangen ist.«

»Wir sind in der Geschichte zehntausend Jahre zurückgegangen«, erklärte der Mann mit dem Kapuzenumhang. Ein warmer Wind fuhr in die Ärmel seines Umhangs, schob sie hoch und ließ den flachen Metallhaken erkennen, der die linke Hand ersetzte. »Das ist Danu Talis kurz vor dem Untergang.«

»Vor dem Untergang«, flüsterte Scathach. Die Kriegerin ging zu einem Erdhaufen und beschattete mit beiden Händen die Augen. Die anderen brauchten nicht zu sehen, dass sie in Tränen schwammen. Sie holte tief Luft und versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. Vergeblich. »Dann sind meine Eltern und mein Bruder dort unten?«

»Alle sind da«, bestätigte Marethyu. »Sämtliche Älteren sind auf der Insel – sie haben sich noch nicht über die Schattenreiche verteilt. Einigen davon, wie Prometheus und Zephaniah, seid ihr in eurer Zeit begegnet, aber hier sind sie noch jung. Sie werden euch natürlich nicht kennen, da sie euch noch nicht begegnet sind. Du wirst deine Eltern kennen, Kriegerin, aber sie werden dich nicht erkennen, weil du für sie noch nicht geboren bist.«

»Aber ich könnte sie wiedersehen«, flüsterte Scathach. Blutrote Tränen rollten über ihre Wangen.

»Das könntest du. Doch vielleicht reicht die Zeit dazu nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Saint-Germain rasch.

»Danu Talis ist dem Untergang geweiht. Das Ende kann morgen eintreten, in zwei Tagen oder auch in drei. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Stadt bald versinken muss.«

»Und wenn sie es nicht tut?« Saint-Germain strich sich das lange schwarze Haar aus dem Gesicht. »Was ist, wenn die Insel bestehen bleibt und sich prächtig entwickelt?«

»Dann wird die Welt, die du kennst, aufhören zu existieren«, antwortete Marethyu voller Leidenschaft. »Die Insel muss auseinanderbrechen und die Wesen des Älteren Geschlechts müssen über den ganzen Globus zerstreut werden. Die Magie, die es braucht, um Danu Talis zu zerstören, muss den Erdboden vergiften, die Luft und das Wasser und das Feuer der Vulkane, sodass die Kinder der Älteren, die nächste Generation, die nach dem Untergang von Danu Talis geboren werden, sich im selben Maß von ihren Eltern unterscheiden, wie ihre Eltern sich von den Urvätern unterschieden haben, die vor ihnen da waren.« Der Mann mit der Hakenhand wandte sich wieder an Scathach. »Wenn die Insel nicht untergeht, hast weder du je existiert noch hat es deine Schwester.«

Scathach schüttelte den Kopf. »Aber ich bin hier und deshalb muss die Insel gesunken sein.«

»In diesem Zeitstrang sicherlich –«, begann Marethyu, doch Shakespeare unterbrach ihn.

»Erzähle mir etwas über die Fäden der Zeit«, bat er.

Der Mann mit der Hakenhand wickelte sich fester in seinen Umhang und wandte sich der Gruppe zu. »Es gibt viele Zeitstränge. Der Ältere Kronos kann über die verschiedenen Fäden in der Zeit vor und zurück wandern, wenn auch nur als Beobachter. Er greift nie ein. Eine einzige Veränderung würde sich auf den gesamten Zeitstrang auswirken, genauso wie auf alle anderen, die von ihm ausgehen.«

»Mein Meister, Tammuz, konnte durch die Zeit reisen«, sagte Palamedes.

Marethyu nickte. »Aber er konnte nur in die Vergangenheit zurückgehen und sehen, was geschehen war. Kronos kann auch in die Zukunft gehen und sehen, was möglicherweise geschehen wird.«

Saint-Germain blickte zu Marethyu auf. »Ich hatte schon einmal mit diesem Widerling Kronos zu tun. Dem ist nicht zu trauen.«

Beim Lächeln bildeten sich Fältchen um Marethyus Augen. »Er kann dich nicht leiden, das stimmt. Wollen wir hoffen, dass ihr euch nicht begegnet.«

»Und was macht nun diesen Zeitstrang zu etwas so Besonderem?«, fragte Saint-Germain.

Marethyu drehte sich um und blickte über die goldene Stadt. »Jedes große Ereignis lässt mehrere Zeitströme entstehen, unterschiedliche Möglichkeiten und Chancen.« Er wedelte mit der Hand. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass die Zerstörung dieses Ortes eine außergewöhnlich große Zahl unterschiedlicher Zeitströme hervorgebracht hat.«

»Ja … und?« Saint-Germain klang ungeduldig.

»Wir sind durch die dreizehn Tore des Schattenreichs gegangen, um hierher zu gelangen. Kronos hat sie für mich so angeordnet, dass wir uns nicht nur in der Zeit zurück, sondern auch über die Zeitstränge hinweg bewegt haben. Hier, jetzt, befinden wir uns im allerersten Zeitstrang, bevor die Welt versank und die Zeitströme sich aufgeteilt haben.«

»Aber warum?«, wollte Shakespeare wissen. »Wenn wir nichts unternehmen, geht die Welt unter, und alles läuft so weiter wie immer?«

»Nein, nein, die Älteren haben unter Osiris und Isis einen Plan ausgearbeitet, der alles verändern wird. Sie wollen dafür sorgen, dass Danu Talis nie unterging.«

Saint-Germain nickte. »Ich an ihrer Stelle würde dasselbe tun. Und ich gehe davon aus, dass sie Jahrtausende Zeit hatten, um ihren Plan zu perfektionieren.«

»Was passiert, wenn es ihnen gelingt?«, fragte Johanna.

»Dann hört alles, was du kennst, einfach auf zu existieren«, wiederholte Marethyu. »Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in den Myriaden von Schattenreichen. Milliarden von Leben, mehrere zehn Milliarden Leben sind dann verloren. Aber ihr – alle, die ihr hier seid – habt die Macht, dies zu verhindern.«

Johanna von Orléans ließ den Blick über die Insel schweifen und griff dabei nach der Hand ihres Mannes. Der Graf von Saint-Germain umschloss mit beiden Händen die ihre und drückte sie fest. Dann beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. »Sieh es einfach als ein weiteres Abenteuer«, flüsterte er. »Wir haben schon so viele erlebt.«

»Aber keines wie dieses«, erwiderte sie leise auf Französisch.

Shakespeare rückte näher an Palamedes, den sarazenischen Ritter, heran. »Ich wünschte, ich würde noch schreiben«, murmelte er. »Was für eine Geschichte könnte man daraus machen!«

»Was mir Sorge bereitet, ist das Ende dieser Geschichte«, knurrte Palamedes mit seiner tiefen Bassstimme. »Mein größter Wunsch war immer ein ruhiges Leben. Und doch lande ich ständig mitten in Kriegen und Schlachten.« Er schüttelte den Kopf.

»Wie alt ist die Stadt wohl?«, überlegte Saint-Germain laut. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er auf das Labyrinth aus Straßen und Kanälen hinunter. »Sie erinnert mich ein wenig an Venedig.«

Marethyu zuckte mit den Schultern. »Die Stadt ist jünger als die Insel und die Insel ist jünger als die Erde. Es heißt, dass die Großen Älteren die Insel durch die Kombination sämtlicher Zweige der Elemente-Magie an einem einzigen Tag gehoben haben. Es galt als die größte magische Leistung, die die Welt je gesehen hat.«

»Gibt es eine Bibliothek da unten?«, erkundigte sich Shakespeare.

»Oh ja. Eine der bedeutendsten der Welt. Die große Bibliothek von Danu Talis befindet sich in einer riesigen Kammer, die am Fuß der Pyramide aus dem gewachsenen Fels gehauen wurde. Du könntest den Rest deines Lebens damit zubringen, dich nur durch ein Regal zu arbeiten. Und es gibt mehrere Hundert Meilen Regale. Die Insel ist relativ modern, aber die Zivilisation von Danu Talis ist viel, viel älter. Die Großen Älteren haben vor den Älteren regiert und in die Stufen der Pyramide ist eine Liste der Könige eingemeißelt, die mehrere Hunderttausend Jahre zurückreicht. Und vor den Großen Älteren gab es ja noch andere Rassen: die Archone, die Erstgewesenen und ganz weit in der Vergangenheit die Erdenfürsten. Eine Zivilisation baute auf den Ruinen der vorhergegangenen auf.« Mit seiner Hakenhand zeigte Marethyu auf eine riesige Stufenpyramide. »Das ist die Sonnenpyramide, sie ist nicht nur das Herz der Insel, sondern des ganzen Reiches. Die entscheidende Schlacht wird dort gewonnen oder verloren.«

»Und du weißt das alles, weil es bereits geschehen ist«, sagte Scathach.

»In einem Zeitstrang, ja.«

»Und was geschieht in den anderen Strängen?«

Marethyu zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele Stränge, viele Möglichkeiten, aber wir sind weit zurückgegangen und stehen augenblicklich an dem Punkt, an dem die Stränge sich noch nicht geteilt haben und unser Handeln die Zukunft noch formen kann.«

»Woher weißt du, dass das auch stimmt?«, fragte Scathach.

»Weil Abraham der Weise es mir gesagt hat.«

»Dann sollten wir vielleicht zu diesem Abra–« Scatty hielt abrupt inne und wirbelte herum. Ihre Augen blitzten.

Ein leises Summen erfüllte die Luft, das Geräusch eines entfernten Bienenschwarms.

»Auf den Boden …«, rief Marethyu. Dann würgte er und geriet ins Wanken, als blauweiße Energie sich flackernd auf seiner Brust entlud und Funken sprühend in seinen Haken fuhr. Er brach zusammen. Heller Rauch stieg von seinem Körper auf und weiße Funken tanzten über die in seinen Haken geschnittenen Runen.

Johanna wollte Marethyu beistehen, doch Saint-Germain hielt sie am Arm fest. Er schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Warte.«

Shakespeare und Palamedes traten sofort auseinander. Der Dichter bezog links hinter seinem Freund Stellung. Falls es zum Kampf kam, würde Will seinem Freund den Rücken frei halten.

»Vimanas im Anflug«, zischte Scathach. Sie kauerte sich auf den Boden, machte jedoch keinerlei Anstalten, zu den beiden Schwertern auf ihrem Rücken zu greifen. »Nicht bewegen und kein Metall berühren.«

»Was sind Vim…«, begann Johanna. Dann folgte ihr Blick Scathachs Finger, der senkrecht nach oben zeigte.

Die warme Luft zitterte, es wurde eisig kalt und unvermittelt fielen drei sich drehende Scheiben aus dem klaren Himmel und blieben leise summend und vibrierend direkt über ihren Köpfen in der Luft stehen. Alle blickten nach oben. Auf der Unterseite der Metallscheiben war eine Karte von Danu Talis eingraviert.

»Vimanas«, erklärte Scathach, »fliegende Scheiben. Ein paar haben den Untergang von Danu Talis überstanden und das Schattenreich Erde erreicht. Mein Vater hatte eines … bis Aoife es geschrottet hat. Die Schuld hat sie mir dann in die Schuhe geschoben«, fügte sie bitter hinzu.

Die größte Scheibe – mit einem Durchmesser von mindestens vier Metern – senkte sich bis kurz über den Boden ab, landete jedoch nicht. Auf dem Gras darunter bildete sich eine dünne Eisschicht. Unter einer Kristallkuppel oben auf der Scheibe saßen zwei schwarze Gestalten mit Schakalkopf und blickten sie aus durch und durch roten Augen an.

»Ich hasse diese Typen«, murmelte Saint-Germain.

»Anpu«, flüsterte Scathach. »Ich fürchte, es gibt Ärger. Riesenärger.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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