KAPITEL ZEHN

Hier biegst du ab.« Dr. John Dee beugte sich vor und zeigte nach rechts. »Wir fahren über den Barbary Coast Trail weiter zum Embarcadero und folgen dann den Schildern zur Oakland Bay Bridge.«

Josh nickte, die Lippen fest zusammengepresst. Er wollte nicht reden und versuchte, möglichst flach zu atmen. Der Atem des Magiers stank nach faulen Eiern.

»Wohin geht es eigentlich?«, erkundigte Virginia Dare sich von hinten.

»Erst mal nur weg hier«, fauchte Dee. »In den Straßen wimmelt es bald nur so von Polizisten und Feuerwehrleuten.«

Josh stellte den Rückspiegel so, dass er die Hinterbank im Blick hatte. Dee saß fast direkt hinter ihm, eingerahmt von einem kaum erkennbaren gelben Schimmer. Die jugendlich wirkende Frau hatte sich ganz rechts in die Ecke gedrückt, möglichst weit weg von dem Magier. Sie tippte sich mit ihrer Flöte an die Unterlippe.

Josh konzentrierte sich aufs Fahren des schweren Wagens und achtete darauf, dass er die erlaubte Geschwindigkeit nicht überschritt. Er versuchte, nicht an das zu denken, was gerade passiert war, und vor allem nicht daran, was mit seiner Schwester passiert war. Sie hatte sich gegen ihn gewandt – oder besser: Die Flamels hatten sie dazu gebracht, dass sie sich gegen ihn wandte. Aber wo war sie jetzt? Und wie sollte er seinen Eltern beibringen, dass sie nicht mehr bei ihm war? Sie erwarteten von ihm, dass er auf sie aufpasste, sie beschützte. Und er hatte versagt.

»Wie hieß der Komiker gleich noch mal?«, fragte Virginia Dare unvermittelt. »Er ist immer mit einem Partner aufgetreten und hat gesagt: ›Da hast du mir ja mal wieder eine schöne Suppe eingebrockt.‹«

»Stan Laurel«, antwortete Dee.

»Oliver Hardy«, korrigierte Josh ihn. Sein Vater war ein absoluter Fan von Dick und Doof. Josh mochte den chaotischen Humor der Marx Brothers zwar lieber, doch eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen war die, dass er auf dem Schoß seines Vaters saß und spürte, wie dessen ganzer Körper wackelte, während er lauthals über die Späße von Stan und Ollie lachte.

»Oliver Hardy«, wiederholte Virginia und nickte. »Ich hab die beiden mal getroffen, vor langer Zeit, als ich das erste Mal in Hollywood war.«

»Hast du in Filmen mitgewirkt?«, wollte Josh wissen. Er betrachtete sie im Rückspiegel. Hübsch genug war sie zweifellos.

Virginias weiße Zähne leuchteten im Dämmerlicht, als sie kurz lächelte. »Bevor der Tonfilm kam.« Dann wandte sie sich an Dee. »Wie gesagt: Da hast du mir ja mal wieder eine schöne Suppe eingebrockt.«

»Nicht jetzt, Virginia«, wehrte der Magier müde ab.

»Du hast mich früher schon in Schwierigkeiten gebracht, John, aber nie in dieser Größenordnung. Ich wusste, dass ich mich nie mit dir hätte einlassen dürfen.«

»Besonders viel Überzeugungskraft musste ich nicht aufbringen«, sagte Dee.

»Du hast mir eine Welt versprochen …«, begann sie, doch dann schoss Dees Hand herüber, er berührte ihren Arm, und sein Blick ging kurz zu Josh. Die Pause in ihrem Satz war so kurz, dass sie kaum auffiel. »… ohne Schmerz und Leiden«, fuhr sie fort, doch den sarkastischen Unterton konnte sie nicht aus ihrer Stimme heraushalten.

Josh bog von der Bay Street nach rechts in den Embarcadero ab.

»Noch ist nicht alles verloren«, meinte Dee. »Nicht, solange wir das hier haben.« Er knöpfte seinen fleckigen, zerrissenen Mantel auf und zog ein kleines, in Kupfer gebundenes Buch heraus, das mit der Zeit grüne Patina angesetzt hatte. Das Buch war etwa 15 cm breit und 22 cm lang und älter als die Menschheit. Der Doktor strich mit den Fingern über das Metall und gelbe Partikel lösten sich und knisterten unter seiner Haut. Die Luft roch augenblicklich sauer, als ihre drei Auren – Orange, Salbei und Schwefel – sich vermischten. Funken tanzten über sämtliche Metalloberflächen im Wagen. Die Innenlichter blinkten und erloschen dann und über den LCD-Bildschirm des Navigationssystems zuckten unregelmäßige, regenbogenfarbene Wellen. Das Radio schaltete sich selbsttätig an und durchlief ein Dutzend Sender, bevor es in einem statischen Knistern wieder ausging. Sämtliche Anzeigen am Armaturenbrett leuchteten rot auf. Durch den schweren Wagen ging ein Ruck, dann blieb er stehen.

»Steck es weg!«, rief Josh von vorn. »Es schrottet die gesamte Elektronik im Wagen.«

Dee schob das Buch wieder unter seinen Mantel, und Josh drehte den Zündschlüssel im Schloss, um den Wagen neu zu starten. Der Motor hustete, sprang dann an und Josh gab Gas.

»Gut gemacht«, sagte Virginia Dare.

»Der Codex ist der Schlüssel«, fuhr Dee fort, als sei nichts passiert. »Dessen bin ich mir sicher. Ich muss nur noch herausfinden, wie ich ihn einsetzen kann.« Er beugte sich vor und tippte Josh auf die Schulter. »Wenn nur die letzten beiden Seiten nicht herausgerissen worden wären.«

Josh erwiderte nichts darauf. Die Konzentration aufs Fahren hatte ihm seltsamerweise Gelegenheit gegeben, seine Gedanken zu ordnen. Unter seinem roten T-Shirt mit dem Logo der San Francisco 48er trug er in einem Stoffbeutel um den Hals die beiden Seiten, die er aus dem Codex herausgerissen hatte. Obwohl er dem Magier inzwischen vertraute – oder ihm zumindest weniger misstraute als Flamel –, sträubte sich etwas in ihm, Dee wissen zu lassen, dass er die Seiten hatte. Woher das kam, wusste er selbst nicht so genau.

»Alles ist auf dem Weg hierher«, sagte Virginia Dare leise. »Und ich meine wirklich alles. Die Cucubuths, die wir in London getroffen haben, sind nichts im Vergleich zu dem, was sich auf die Stadt hier zubewegt.« Sie drehte sich auf ihrem Sitz um, damit sie aus dem Rückfenster schauen konnte. Eine hohe Staubsäule stieg über San Francisco in den Himmel. »Die Behörden werden Untersuchungen anstellen. Zuerst ist deine Firma für das Chaos in Ojai verantwortlich und jetzt brennt deine Zentrale ab.« Noch während sie sprach, waren erneut Explosionsgeräusche zu hören, die wie entferntes Donnergrollen klangen. »Und das ist kein gewöhnliches Feuer. Ich bin sicher, sie kommen dahinter, dass du illegale Substanzen in dem Gebäude gelagert hast.«

Dee tat die Bemerkung als unwichtig ab. »Ein paar Chemikalien, die ich für Experimente brauche.«

»Gefährliche Chemikalien«, fuhr Virginia fort. »Außerdem hast du zwei Polizisten angegriffen. Die Behörden werden dich sehr genau unter die Lupe nehmen, Dr. John Dee. Wie viel können sie dir mit dieser Art von Untersuchung nachweisen?«

Dee zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Wenn sie tief genug graben, finden sie sicher was. In diesem digitalen Zeitalter kann nichts wirklich geheim bleiben.«

Virginia blies sacht über das Mundstück ihrer Flöte. Der Ton war schrill, unharmonisch. »Die Polizei von San Francisco wird das FBI einschalten. Die werden mit Scotland Yard in London sprechen, und wenn sie eine Verbindung zu den jüngsten verheerenden Ereignissen in Paris herstellen, kommt auch noch die französische Sicherheitsbehörde ins Spiel. Wenn die Polizei erst anfängt, dich auf den Filmen ihrer Überwachungskameras zu suchen, finden sie dich auch. Dann fangen sie an, Fragen zu stellen, und wollen garantiert wissen, wie du von Ojai nach Paris gekommen bist, ohne dass es Unterlagen über die Reise gibt, und wie du es dann geschafft hast, nach San Francisco zurückzukehren, obwohl du weder in ein Linienflugzeug noch einen Privatjet gestiegen bist.«

»Du brauchst deine Schadenfreude nicht gar so deutlich zu zeigen«, murmelte Dee.

»Und dann wollen wir auch die Älteren nicht vergessen. Ich kann mir vorstellen, dass genau in diesem Moment Ältere, Angehörige der nächsten Generation und jede Menge sonstige Kreaturen dem Gestank der Magie folgen und hierher unterwegs sind. Und garantiert wurde eine phänomenal hohe Belohnung auf dich ausgesetzt, egal ob sie dich tot oder lebendig herbeischaffen.«

»Lebendig«, ließ Dee sich unglücklich vernehmen. »Sie wollen mich lebendig.«

»Woher weißt du das?«

»Machiavelli hat es mir gesagt.«

»Machiavelli!«, wiederholten Virginia und Josh wie aus einem Mund.

»Er zählt nicht zu deinen Freunden, John«, erinnerte Virginia sich, »es sei denn, du hast deinem Herzen einen Stoß gegeben und deine Meinung über ihn hat sich um hundertachtzig Grad gewendet.«

»Er ist nicht mein Freund, aber auch nicht unbedingt mein Feind. Auch er hat seinen Meister des Älteren Geschlechts enttäuscht.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Er ist übrigens nur ein paar Meilen von hier entfernt, auf Alcatraz mit Billy the Kid.«

»Billy the Kid?«, fragte Josh rasch dazwischen. »Der Billy the Kid? Der Gesetzlose?«

»Ja, ja«, blaffte Dee ungeduldig. »Der unsterbliche Billy the Kid.«

»Was treibt der denn hier?« Josh war einigermaßen verwirrt.

»Unfug«, antwortete Dee lächelnd.

»Wie kommen sie denn auf die Insel? Ich dachte, Alcatraz sei für die Öffentlichkeit gesperrt.«

»Stimmt«, bestätigte Dee. »Meine Firma, die Enoch Enterprises, ist jetzt Eigentümerin. Wir haben die Insel vom Staat gekauft und ihnen erzählt, dass wir ein Museum für lebendige Geschichte daraus machen wollen.«

Josh ging vom Gas, weil die Ampel vor ihm auf Rot schaltete. »Ich nehme mal an, das war gelogen«, warf er ein.

»Dr. John Dee ist außerstande, die Wahrheit zu sagen«, murmelte Virginia.

Der Unsterbliche ignorierte sie. »Meine Meister haben mir aufgetragen, an einem sicheren Ort möglichst dicht bei der Stadt jede Menge Ungeheuer und Monster zu versammeln. Das Inselgefängnis war ideal dafür. Und die Zellen standen auch schon bereit, um die Monster einzusperren.«

Virginia richtete sich kerzengerade auf. »Welche Art von Monster?«, wollte sie wissen. »Das Übliche oder hast du etwas Interessantes gefunden?«

»Die allerschlimmsten«, antwortete Dee. »Die Albträume, die grausamen Wilden, die ausgemachten Scheußlichkeiten.«

»Wozu?«

»Wenn die Zeit gekommen ist, wollen sie sie auf die Stadt loslassen.«

»Wozu?«, fragte Virginia noch einmal.

»Um die Humani abzulenken, damit die Wesen des Älteren Geschlechts in dieses Schattenreich zurückkehren können. Die Kreaturen werden die Stadt verwüsten und selbst die modernste Armee mit all ihren Waffen und ihrer Schusskraft wird sie nicht aufhalten können. Wenn San Francisco kurz vor dem Kollaps steht, werden die Älteren in Erscheinung treten und die Monster besiegen. Sie werden zu Rettern der Menschheit und man wird sie wieder als Götter verehren.«

»Aber warum das alles?«, fragte Josh.

»Wenn sie erst wieder da sind, können sie anfangen, die Erde zu erneuern.«

»Das weiß ich doch. Aber warum können sie nicht einfach zurückkommen? Warum muss die ganze Stadt zerstört werden?«

»Nicht die ganze Stadt …«, begann Dee.

»Du weißt genau, was ich meine!«

»Die Wesen des Älteren Geschlechts werden die Monster besiegen und die Stadt wieder aufbauen. Das alles wird unter den Augen der gesamten Presse geschehen und wird zu einer spektakulären Demonstration ihrer Kräfte. Vergiss nicht, Josh, die Älteren können Dinge vollbringen, die an Wunder grenzen. Sie können den Leuten von ihren Kräften erzählen oder sie können den Humani einfach zeigen, wozu sie in der Lage sind. Und ein Bild ist mehr wert als tausend Worte.«

Virginia nickte. »Und wann soll das alles passieren?«

»An Litha, dem Tag der Sommersonnwende.«

»Aber bis dahin sind es noch zwei Wochen. Was machen Machiavelli und Billy jetzt schon auf der Insel?«

»Der Ablauf muss sich geändert haben«, antwortete Dee kurzangebunden.

»Machiavelli lässt die Monster doch nicht wirklich auf die Stadt los, oder?«, fragte Josh rasch. Er konnte sich gut vorstellen, dass Dee solche Kreaturen nach San Francisco einschleuste, aber Machiavelli traute er es nicht zu. Ihn hielt er für etwas menschenfreundlicher.

»Wer weiß schon, was der Italiener tun wird«, blaffte Dee. »Der Mann hat Pläne geschmiedet, deren Ergebnisse erst Jahrzehnte später sichtbar wurden. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er auf der Insel festsitzt –«

»Moment mal«, unterbrach Josh ihn. »Wenn Alcatraz den Enoch Enterprises gehört …«

»… und die Polizei die Enoch Enterprises in die Mangel nimmt«, fuhr Virginia Dare fort, »werden sie der Insel einen Besuch abstatten, sobald sie einen Durchsuchungsbefehl haben.«

»Das werden sie bereuen«, prophezeite Dee.

Virginia lachte. »Wenn ich das richtig sehe, Dr. Dee, gibt es in ganz San Francisco keinen Ort, an dem du dich verstecken kannst. Und wenn erst der FBI eingeschaltet ist, kennt ganz Amerika dein Gesicht und deinen Namen. Wohin willst du dann gehen? Was willst du dann tun?«

»Überleben«, antwortete der Unsterbliche, »wie immer.«

Josh fuhr die Green Street hinunter, als ihm ein junger Mann mit einem schweren Rucksack auffiel, der links von ihm unter dem Eingangsbogen zu Pier 15 stand. Etwas war seltsam an der Haltung des Mannes – sie war verkrampft und unnatürlich. Josh kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich – und schon entdeckte er die mattgrünen Aurafäden, die von der Gestalt ausgingen. Er sah auch noch, wie der Mann sein blasses Gesicht so drehte, dass er ihnen nachschauen konnte, und dann sein Handy an den Mund hob. Sofort informierte er die anderen. »Man hat uns entdeckt.«

Der Doktor drückte sich gegen die getönte Scheibe und blickte über die Straße. »Ein Boggart«, stellte er knapp fest.

Virginia Dare beugte sich über den Sitz und schaute ebenfalls hinaus. »Ein Sackmann, um genau zu sein. Und man hat uns entdeckt, kein Zweifel. Sackmänner sind meist harmlos, aber sie arbeiten als Späher für Kreaturen, die richtig gefährlich werden können.«

Unter dem Eingangsbogen von Pier 9 entdeckte Josh drei weitere Sackmänner. Er hatte erwartet, dass sie aussahen wie … Also, was er erwartet hatte, wusste er selbst nicht so genau, aber sie sahen aus wie ganz normale junge Männer mit Jeans und T-Shirt und zerschrammten Turnschuhen, die sich dicke, ziemlich mitgenommene Rücksäcke über die Schulter gehängt hatten.

»Ich sehe noch mal drei«, bemerkte Dee kläglich.

Alle drei Sackmänner drehten ihre bleichen Gesichter so, dass sie dem vorbeifahrenden Wagen nachschauen konnten. Und wie ein Mann hoben sie ihre Handys an die Münder. Einer stellte ein Skateboard auf den Bürgersteig und fuhr dem Wagen damit nach. Geschickt schlängelte er sich durch die Menge.

»Ich schätze mal, sie stellen uns eine Falle«, vermutete Virginia leise.

Die Ampel schaltete auf Grün und Josh schoss über den Broadway. Um Pier 5 herum lümmelten sich wieder ein paar junge Männer und dann sahen sie noch einmal eine Gruppe ein Stück weiter die Straße hinunter vor dem »Port of San Francisco« an Pier 1. Ein identisch angezogenes Trio schwang sich auf manipulierte Fahrräder, überquerte die Straße, wobei sie wie wild in die Pedale traten und geschickt dem Gegenverkehr auswichen. Dann folgten sie dem Wagen.

»Ich hab noch nie so viele auf einem Haufen gesehen. Es sind teure Spione. Ich würde zu gern wissen, wem sie Meldung machen«, sagte Virginia.

Einer der Radfahrer holte den Wagen ein und passte sich seiner Geschwindigkeit an. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Fahrradkurier – knallbuntes T-Shirt, Helm, schwarze Sonnenbrille. Nur der zerschrammte Rucksack störte. Josh stellte den Seitenspiegel so, dass er den Mann beobachten konnte. »Was hat er in seinem Rucksack?«, fragte er.

Dee lachte bitter. »Glaub mir, das willst du gar nicht wissen.«

John Dee lehnte sich in seinem Sitz zurück, als der Radfahrer versuchte, mit seinem Handy Fotos zu machen.

Josh umklammerte das Lenkrad fester. Er hatte Angst, er könnte den Radler erfassen und zu Fall bringen.

»Es macht ihnen nicht einmal etwas aus, dass du weißt, dass sie dich entdeckt haben«, stellte Virginia fest. »Sie müssen sich sehr sicher sein, dass sie dich kriegen.« Sie legte die Flöte an die Lippen. Die Luft vibrierte, als ein einzelner Ton erklang, fast zu hoch für das menschliche Gehör.

Vorder- und Hinterreifen des Fahrrads neben ihnen explodierten in schwarzen Fetzen, der Fahrer wurde über den Lenker katapultiert und schlitterte über die Straße. Das Fahrrad krachte mit solcher Wucht in einen der Bäume auf dem Mittelstreifen, dass es anschließend nur noch ein Haufen verbogenes Metall war.

Virginia lehnte sich auf ihrem Ledersitz zurück und lachte. »Jetzt bist du der Gejagte, Doktor. Du wirst gejagt und weder in diesem noch in irgendeinem anderen Schattenreich kannst du dich verstecken. Was willst du jetzt machen?«

Dr. John Dee schwieg eine ganze Weile, dann begann er plötzlich zu lachen, ein leises, schnarrendes Keuchen, das seinen ganzen Körper schüttelte und ihm den Atem nahm. »Na, was schon? Wieder zum Jäger werden.«

»Und wen willst du jagen, Dr. Dee?«

»Die Älteren.«

»Das hast du schon bei Coatlicue versucht. Ohne Erfolg.«

Im hinteren Teil des Wagens stank es wieder nach Schwefel. »Weißt du, welches Tier das gefährlichste ist?«, fragte Dee unvermittelt.

Die seltsame Frage verblüffte Josh. Er zuckte mit den Schultern. »Der Eisbär? Oder der Vielfraß?«

»Das Nashorn?«, meldete sich Virginia.

»Jedes Tier, das in der Falle sitzt«, antwortete Dee einfach. »Weil es nichts zu verlieren hat.«

Virginia seufzte. »Ich habe so das Gefühl, dass mir die Richtung, in die das führt, nicht gefällt.«

»Ganz im Gegenteil, sie wird dir sehr gut gefallen«, erwiderte Dee leise. »Virginia, ich habe dir eine Welt versprochen … Aber ich kann meinem Angebot noch eines draufsetzen. Stell dich an meine Seite, kämpfe mit mir, leihe mir deine Kräfte und du hast die freie Wahl unter allen existierenden Schattenreichen. Ich werde dir jedes geben, das du haben möchtest, egal welches es ist.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir genau das schon einmal angeboten.«

»Überlege es dir, Virginia«, fuhr er rasch fort, »nicht nur eine Welt, sondern zwei oder drei oder mehr. Du kannst dir dein eigenes Reich aufbauen. Das hast du dir doch immer gewünscht, nicht wahr?«

Virginia wechselte im Rückspiegel einen Blick mit Josh. »Der Stress hat ihn verrückt gemacht«, stellte sie traurig fest.

»Und du, Josh, schlag dich auf meine Seite, gib mir die Kraft deiner goldenen Aura, und du kannst dafür die Erde, dieses Schattenreich hier, regieren. Und ich schwöre, dass ich dir die nötigen Kräfte verleihen werde, um damit zu machen, was du willst. Du – du, Josh Newman – kannst zum Retter dieser Welt werden.«

Die Vorstellung war so ungeheuerlich, dass es Josh den Atem raubte. Und dennoch … Vor einer Woche hätte er noch gesagt, es sei lächerlich, aber jetzt … Er spürte, wie die Seiten des Codex auf seiner Brust immer heißer wurden, und plötzlich erschien ihm die Idee gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Die Welt regieren. Er lachte zittrig. »Ich glaube, Virginia hat recht. Du bist wirklich verrückt geworden.«

»Nein, nicht verrückt. Bei vollem Verstand. Zum ersten Mal in meinem langen Leben fange ich an, die Dinge klar zu sehen. Glasklar. Ich war mein Leben lang ein Diener, ein Diener der Königin und des Landes, des Älteren Geschlechts und der nächsten Generation. Ich habe die Wünsche der Menschen und der Unsterblichen erfüllt. Jetzt wird es Zeit, dass ich der Herr werde.«

Josh blickte stur geradeaus und sagte nichts. Er fuhr am Ferry Building vorbei. Die Uhr am Turm zeigte 11:30. Irgendwann brach er das Schweigen. »Was hast du vor?«, fragte er und hatte auf einmal ein ganz komisches Gefühl im Magen. Noch während er fragte, begannen die Seiten des Codex wieder warm an seiner Haut zu pulsieren. Es war wie ein Herzschlag.

»Ich werde die Wesen des Älteren Geschlechts mit der Kraft des Codex vernichten.«

»Sie vernichten?« Joshs Magen hob sich. »Aber du hast doch gesagt, wir brauchen sie.«

»Wir bräuchten ihre Kräfte«, erwiderte Dee rasch, »um die Welt wieder aufzubauen. Aber was wäre, wenn wir über diese Kräfte verfügen würden? Was wäre, wenn wir all das tun könnten, was auch sie können? Dann bräuchten wir sie nicht. Wir würden werden wie Götter.«

»Hast du gesagt, du willst die Älteren vernichten?«, fragte Virginia leise nach, den Blick fest auf Dee gerichtet.

»Ja.«

»Alle?«, fragte sie ungläubig.

»Alle.«

Sie lachte entzückt auf. »Und wie stellst du dir das vor, Doktor? Sie sind auf über tausend Schattenreiche verteilt.«

Dees Aura leuchtete um ihn herum wie ein gelber Pilz. »Jetzt sind sie das. Aber es gab einmal eine Zeit, als sie alle an einem Ort versammelt waren und längst nicht so mächtig wie heute.«

Virginia schüttelte verwirrt den Kopf. »Wann? Wo?«

Urplötzlich wusste Josh die Antwort. »Vor zehntausend Jahren«, sagte er leise. »Auf Danu Talis.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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