KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG

Ich war noch nie hier«, gab Nicholas Flamel zu. Er blieb stehen und blickte hinauf zu dem Schild über seinem Kopf.

PIER 14

»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht nur in deinem Laden verkriechen, Nicholas.« Perenelle hängte sich bei ihrem Mann ein und zusammen gingen sie unter dem aus grauen Betonklötzen zusammengefügten Eingang zu dem neuen Pier hindurch. »Der Pier ist jetzt seit ungefähr einem Jahr offen und einer meiner Lieblingsplätze in der Stadt.«

»Das hast du mir nie gesagt.« Er klang überrascht.

»Dann können wir uns auch nach all den Jahren immer noch überraschen«, neckte sie ihn.

Er beugte sich zu ihr und küsste sie rasch auf die Wange. »Auch nach all den Jahren«, wiederholte er. »Aber verrate mir doch bitte – wie oft kommst du hierher?«

»Fünfmal, vielleicht auch sechsmal die Woche.«

»Oh?«

»Ich bin gewöhnlich jeden Morgen, wenn ich den Laden verlassen habe, zum Embarcadero hinuntergegangen, bin die Promenade entlangspaziert und schließlich bis zum Ende dieses Piers geschlendert. Wo, dachtest du denn, dass ich in dieser Stunde sei?«

»Ich dachte, du seist auf einen Kaffee über die Straße gegangen.«

»Tee, Nicholas«, korrigierte Perenelle auf Französisch. »Ich trinke Tee. Du weißt, dass ich keinen Kaffee mag.«

»Du magst keinen Kaffee? Seit wann?«

»Erst seit ungefähr achtzig Jahren oder so.«

Flamel blinzelte. Seine hellen Augen spiegelten das Blau des Wassers. »Ich wusste es. Glaube ich.«

»Du nimmst mich auf den Arm.«

»Vielleicht«, gab er zu. Er blickte den Pier hinunter. »Der ist hübsch. Und ziemlich lang dazu.«

»Fünf Meter breit und zweihundertzwanzig Meter lang«, erklärte sie bedeutsam.

»Ah.« Flamel nickte. Er hatte verstanden. »Der Trick besteht darin, den Lotan gar nicht erst an Land kommen zu lassen.«

»Wenn er aufs Trockene kommt, haben wir verloren.« Perenelle zeigte nach links, wo Alcatraz hinter der Biegung der Bucht verborgen war. »Die Strömung um die Insel herum ist sehr stark. Alles, was ins Wasser geht, wird hier herunter gespült in die Bucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er weiter oben an Land geht.«

»Wenn er es doch tut …«, begann Flamel.

»Wenn er es doch tut, werden wir uns etwas überlegen«, beendete Perenelle den Satz. Dann lächelte sie, um ihren Worten die Spitze zu nehmen. »Falls die Strömung ihn über die Brücke hinaustreibt, besteht die Gefahr, dass er auf der anderen Seite der Bucht landet, vielleicht in Alameda. Bis wir um diese Zeit und bei dem starken Nachmittagsverkehr dort sind, dauert es eine Weile. Er würde immensen Schaden anrichten, bevor wir bei ihm wären.«

»Also müssen wir ihn unbedingt hier aufhalten«, schlussfolgerte Flamel.

»Genau. Du hast gesagt, ich soll dich so nah wie möglich ans Wasser bringen. Ich nehme an, du hast einen Plan?«

»Ich habe immer einen Plan, meine Liebe.«

Sie hörten schnelle Schritte hinter sich, drehten sich um und sahen Prometheus und Niten auf sich zueilen. Beide Männer hatten Angelruten geschultert.

Der schlanke Japaner grinste. »Fragt ihn nicht, was es gekostet hat, die Dinger zu mieten.«

»Wie viel?«, fragte Flamel.

»Zu viel«, antwortete Prometheus wütend. »Die Miete für zwei Stunden ist so hoch, dass ich dafür ein ganzes Fischerboot hätte kaufen können oder zumindest ein sehr gutes Fischgericht«, knurrte er. »Außerdem mussten wir noch eine Kaution hinterlegen für den Fall, dass wir sie nicht zurückbringen.«

»Wie sieht unser Plan aus?«, fragte Niten. Er hielt einen leeren Eimer hoch. »Wirklich angeln können wir gar nicht. Wir haben keine Köder.«

»Aber natürlich haben wir die.« Flamel lächelte. »Ihr seid die Köder.«

Niten und Prometheus lehnten am Geländer der halbrunden Aussichtsplattform ganz am Ende von Pier 14. Sie hatten die Angeln ausgeworfen und unterhielten sich leise. Für die Stadt oder die Brücke, Treasure Island oder den Embarcadero hatten sie keinen Blick. Nichts unterschied sie von ganz gewöhnlichen Anglern.

Nicholas und Perenelle saßen auf Stühlen hinter ihnen. Der Alchemyst hatte entdeckt, dass es sich um Drehstühle handelte, und machte sich jetzt einen Spaß daraus, sich mal nach rechts und mal nach links zu drehen. Sein Stuhl quietschte bei jeder Drehung. Irgendwann hielt Prometheus es nicht mehr aus und blickte den Unsterblichen finster an. »Wenn du das noch einmal tust, verfüttere ich dich höchstpersönlich dem Lotan.«

»Und ich helfe dabei«, fügte Niten hinzu.

Plötzlich stand Perenelle auf. »Es kommt etwas«, sagte sie leise.

»Ich sehe nichts …«, begann der Alchemyst, doch dann entdeckte auch er es. Eine sich schlängelnde Welle, eine dunkle Unregelmäßigkeit im Wasser der Bucht. Er drehte sich zu dem Älteren und zum Schwertkämpfer um. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt.«

Sie nickten und stellten sich wieder zu ihren Angeln.

Flamel wandte sich an seine Frau. »Perenelle.«

Auch die Zauberin nickte. Sie lehnte sich ans Geländer und betrachtete die Menschen auf dem Pier. Einige waren ganz offensichtlich Touristen – die Kameras waren ein todsicheres Indiz –, während die junge Frau mit dem Kind im Sportwagen wahrscheinlich in San Francisco wohnte. Dann waren da noch zwei ältere Fischer, die mit dem Geländer verwachsen zu sein schienen, und drei junge Männer, die mit Orangen und Äpfeln das Jonglieren übten.

Perenelle konzentrierte sich. Statische Elektrizität knisterte in ihrem Haar.

Fast noch im selben Moment packten die beiden Angler ihre Sachen zusammen und schlenderten schweigend davon. Die Touristen verloren plötzlich das Interesse an der Stadt und der Bucht und das Kind im Sportwagen fand, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, und begann zu weinen. Nur die drei Jongleure blieben.

»Sie sind zu sehr aufs Jonglieren konzentriert«, murmelte Flamel. »Deshalb hast du keinen Einfluss auf sie.«

»Natürlich, das ist es.« Perenelle lachte. »Ich schalte langsam auf meine alten Tage.«

Eine Möwe schoss übers Wasser und schnappte sich einen Apfel aus der Luft, den einer der Jongleure hochgeworfen hatte. Eine zweite spießte eine Orange auf und plötzlich flatterten vier dieser großen Vögel zwischen den jungen Männern herum, pickten nach ihnen und ließen stinkenden Guano auf sie heruntertropfen. Die jungen Männer warfen die noch übrigen Früchte ins Wasser und rannten zum Eingang des Piers zurück.

»Gut gemacht«, sagte Flamel. »Jetzt sorge noch dafür, dass niemand mehr in die Nähe kommt.«

Perenelle nickte.

Der Alchemyst wandte den Kopf. »Prometheus, Niten, es ist so weit.«

Die Luft war plötzlich erfüllt vom süßen Duft nach grünem Tee und dem kräftigeren Geruch von Anis. Ein schwaches rotes Leuchten erschien an Prometheus’ Händen und ringelte sich über die ganze Länge seiner Angelrute. Es knisterte und brutzelte, dann glitt es an der Angelschnur nach unten und zischte ins Wasser.

Nitens königsblaue Aura verteilte sich wie ein Tattoo auf seinen Händen. Sie floss bis in die Spitze seiner Fiberglasangel, verfärbte sie und tropfte dann wie Tinte an der Schnur hinunter. Das Wasser unter dem Pier wurde tiefblau.

Und die dunklen Umrisse im Wasser wechselten plötzlich die Richtung.

»Der Lotan wird von euren Auren angezogen«, erklärte Flamel. »Er schmeckt sie im Wasser, so wie ein Hai Blut schmeckt. Er muss nah herankommen, so nah wie möglich, aber ihr müsst beide vorsichtig sein. Wir wollen nicht, dass er euch verspeist.«

»Da kommt er«, verkündete Niten. Das Weiß seiner Augen, seine Zunge und seine Zähne hatten sich blau verfärbt.

»Wir sind bereit«, sagte Prometheus.

Flamel berührte den grünen Skarabäus, den er jetzt an einem Band um den Hals trug. Der Stein wurde warm in seiner Hand. Es handelte sich um einen einfachen Zauber, er hatte ihn schon tausend Mal gewirkt, wenn auch noch nie in dieser Dimension.

Ein roter Kopf erschien über dem Wasser … dann ein zweiter … und ein dritter … und schließlich ein vierter, schwarz und doppelt so groß wie die anderen. Und plötzlich waren es sieben Köpfe, die durchs Wasser auf sie zukamen.

»Hoffentlich filmt das hier keiner«, sagte Flamel.

Prometheus grinste. »Glauben würde es ohnehin niemand. Siebenköpfige Monster gibt es schlichtweg nicht. Jeder, der das Bild sehen würde, würde sagen, es sei bearbeitet.«

»Ich spüre ihn«, meldete sich Niten. »Er saugt mir meine Aura weg.«

»Meine auch«, bestätigte Prometheus.

»Lasst ihn noch ein kleines Stückchen näher herankommen.« Flamel legte beiden eine Hand auf die Schulter und ihre Auren schimmerten grünlich.

»Alchemyst«, drängte Niten gepresst.

»Noch ein kleines Stück. Je näher, desto besser.«

»Nicholas«, warnte Perenelle erschrocken.

Die roten und blauen Flecken im Wasser flossen jetzt auf die Kreatur zu wie Eisenspäne auf einen Magneten. Sie sahen, wie der große dicke Körper des Lotans sich weiter aus dem Wasser hob.

»Er springt!«, rief Prometheus.

Niten biss die Zähne zusammen und schwieg.

Der Lotan nahm einen letzten Schluck von ihren Auren. Dann schoss er senkrecht in die Luft, bis nur noch die Schwanzspitze das Wasser berührte. Sieben Mäuler waren weit aufgerissen, Hunderte spitzer Zähne bereit zum …

Minzeduft erfüllte die Luft, intensiv, schwer und süß.

Es gab einen Knall … gefolgt von einer Explosion in Grün, Rot und Blau. Die drei Männer wurden eingehüllt in einen Nebel aus duftenden Farben.

Flamel streckte blitzschnell den Arm aus und fing ein kleines, blau geädertes Ei, das er in die Handfläche seiner anderen Hand fallen ließ. Prometheus und Niten wichen schwankend zurück und sackten gegen die Eisenstäbe des Geländers. Beide atmeten schwer. Sie hatten Falten im Gesicht, die vorher nicht da gewesen waren. Nitens dunkle Augenbrauen waren mit weißen Härchen durchsetzt. Nicholas Flamel hielt das kleine Ei zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Seht, der Lotan.«

Prometheus schnappte nach Luft. »Beeindruckend. Wie hast du es gemacht?«

»Als eure Auren ihn an den Pier gezogen hatten, habe ich ihm erlaubt, ein wenig von meiner Aura aufzusaugen. Sobald er sie geschluckt hatte, habe ich einen einfachen Transmutationszauber angewandt und ein Element in ein anderes überführt. Es ist eines der Grundprinzipien der Alchemie.« Er grinste. »Ich habe den Lotan in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt.«

»In ein Ei.« Man sah Prometheus an, wie überrascht er war.

»In dem unser aller Anfang liegt«, bestätigte Flamel. Er warf das blau geäderte Ei in die Luft. Eine Möwe fing es mit dem Schnabel, legte den Kopf zurück und schluckte es ganz hinunter.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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