KAPITEL ZWÖLF

Bitte sag nichts, das meine Tante aufregen könnte«, bat Sophie, als sie sich in Pacific Heights dem Abzweig zur Sacramento Street und Tante Agnes’ Haus näherten.

»Ich sage nichts«, versprach Niten.

»Wenn ich mich reinschleichen und frische Kleider holen könnte, ohne dass sie es merkt, wäre das super. Aber normalerweise hält sie sich im vorderen Wohnzimmer auf, sieht fern oder schaut hinaus auf die Straße.« Sophie war von dem Marsch vom Coit Tower noch ganz rot im Gesicht und etwas außer Atem. »Ich werde dich ihr wahrscheinlich vorstellen müssen. Wenn sie sich von gestern noch an dich erinnert, sage ich einfach, du bist ein Freund.«

»Danke«, murmelte Niten mit ausdruckslosem Gesicht.

»Während du dich dann mit ihr unterhältst, verschwinde ich nach oben und hole frische Kleider. Für dich bringe ich etwas aus Joshs Schrank mit, auch wenn dir seine Sachen vielleicht ein bisschen zu groß sind.«

»Ich wäre dir trotzdem dankbar.« Niten hob den Arm und roch vorsichtig am Ärmel seines schwer mitgenommenen schwarzen Anzugs. »Ich stinke nach Rauch und alter Magie. Du übrigens auch, Miss«, fügte er hinzu. »Vielleicht überlegst du dir, ob du duschen willst.«

Sophie wurde knallrot. »Willst du damit sagen, dass ich müffle?«

»Leider ja.« Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. »Aber das ist nicht der einzige Geruch, der in der Luft liegt. Sag mir, was du noch riechst.«

Sophie atmete tief ein. »Ich rieche den Rauch in meinen Kleidern«, begann sie, »Salz in der Luft … Autoabgase …« Sie hielt in ihrer Aufzählung kurz inne. »Da ist noch etwas.« Noch einmal atmete sie tief ein und schaute dann in die Gärten vor den Häusern, an denen sie vorübergingen. »Es riecht nach Rosen.«

»Nein, Rosenduft ist es nicht«, widersprach Niten.

»Aber ich kenne den Geruch gut. Was ist es?«

»Jasmin.«

»Genau, du sagst es – Jasmin. Warum riecht es hier nach Jasmin?«

»Es ist der Geruch von uralter Kraft. Tsagaglalal ist erwacht.«

Ganz plötzlich war es Sophie kalt. Sie schlang die Arme um sich und blickte Niten an. »Wer ist sie? Was ist sie? Wenn ich versuche, auf die Erinnerungen der Hexe zuzugreifen, kommt in ihrem Fall nichts – nicht einmal Bruchstücke sind da.«

»Tsagaglalal ist allen ein Rätsel«, bekannte Niten. »Sie ist weder eine Erstgewesene noch gehört sie der nächsten Generation an, sie ist weder unsterblich noch ganz und gar menschlich, aber so alt wie König Gilgamesch. Aoife hat mir einmal erzählt, dass Tsagaglalal alles weiß und von Anfang an in diesem Schattenreich war. Sie hat beobachtet und gewartet.«

»Was beobachtet und worauf gewartet?«, fragte Sophie ungeduldig. Noch einmal versuchte sie, die Erinnerungen der Hexe an Tsagaglalal abzurufen, doch nichts kam.

Niten zuckte mit den Schultern. »Das kann keiner sagen. Diese Kreaturen denken nicht wie Menschen. Tsagaglalal und andere, die seit Tausenden von Jahren auf dieser Erde sind, haben Aufstieg und Fall ganzer Zivilisationen erlebt. Weshalb sollte das Leben einzelner Menschen sie interessieren? Wir, die Humani, bedeuten ihnen nichts.«

Schweigend gingen sie weiter die Scott Street hinunter. Sophie atmete noch einmal tief durch die Nase ein. Der Jasminduft schien noch intensiver geworden zu sein.

»Unsterblichkeit verändert das Denken der Wesen«, stellte Niten unvermittelt fest, und erst da fiel Sophie auf, dass er ganz selten von sich aus eine Unterhaltung begann. »Sie denken nicht nur anders von sich, sondern auch von der Welt um sie herum. Ich weiß, wie es ist, wenn man Hunderte von Jahren lebt. Ich konnte die Auswirkungen an mir selbst beobachten … Und ich frage mich immer wieder, wie es sich auf diejenigen auswirkt, die tausend, zweitausend oder zehntausend Jahre leben.«

»Mein Bruder und ich haben König Gilgamesch in London kennengelernt. Nicholas Flamel sagte, er sei der älteste Humani auf diesem Planeten.« Bei dem bloßen Gedanken an den König überspülte sie eine Flut von Gefühlen. Noch nie hatte sie mehr Mitleid für jemanden empfunden als für ihn.

Niten blickte das Mädchen von der Seite her an und sein Gesicht zeigte ausnahmsweise eine kleine Regung. »Du bist dem Zeitenältesten begegnet? Das ist eine seltene Ehre. Wir haben einmal Seite an Seite gekämpft. Er war ein außergewöhnlicher Krieger.«

»Er war verwirrt und einsam«, sagte Sophie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ja, das auch.«

»Du bist unsterblich, Niten. Bereust du es?«

Niten wandte den Blick ab, das Gesicht wieder völlig ausdruckslos.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Sophie rasch, »ich wollte nicht neugierig sein.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe über deine Frage nachgedacht. Jeden Tag meines Lebens denke ich darüber nach«, bekannte er mit einem kleinen, traurigen Lächeln. »Ich gebe zu, dass ich das, was ich durch die Unsterblichkeit verloren habe, gerne wiederhätte: die Gelegenheit, eine Familie zu gründen, Freunde zu haben oder auch eine Heimat. Sie hat mich zu einem Einzelgänger gemacht, einem Ausgestoßenen, einem rastlosen Wanderer – wobei ich, um die Wahrheit zu sagen, dies alles auch schon war, bevor ich unsterblich wurde. Aber eben diese Langlebigkeit hat mir auch Wunder offenbart«, fuhr er fort, und es war das erste Mal, dass Sophie sah, wie der Schwertkämpfer lebhaft wurde. »Ich habe fantastische Dinge gesehen und so vieles erduldet. Die Lebenszeit der Humani reicht nicht aus, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erleben, was allein diese Welt zu bieten hat. Ich habe jeden Winkel sämtlicher Kontinente auf diesem Planeten gesehen und Schattenreiche erkundet, die beides waren: schrecklich und unbeschreiblich schön. Und ich habe so vieles gelernt. Unsterblichkeit ist ein Geschenk, das jede Vorstellung übersteigt. Wenn man es dir anbietet, nimm es. Die Vorzüge übersteigen die Nachteile bei Weitem.« Er hielt abrupt inne. Es war wahrscheinlich die längste Rede, die Sophie je von ihm gehört hatte.

»Scathach hat gemeint, Unsterblichkeit sei ein Fluch.«

»Unsterblichkeit ist das, was du daraus machst«, erwiderte Niten. »Fluch oder Segen – ja, es kann beides sein. Doch wenn du tapfer und neugierig bist, gibt es kein größeres Geschenk.«

»Ich werde es mir merken für den Fall, dass sie mir jemand anbietet.«

»Und natürlich hängt alles davon ab, wer dir das Angebot macht!«

Sophie atmete tief durch, als das weiße, holzverkleidete Haus ihrer Tante an der Ecke auftauchte. Was sollte sie Tante Agnes sagen? Zuerst war sie verschwunden gewesen. Jetzt war sie wieder da, aber dafür war ihr Bruder weg. Agnes mochte zwar alt sein, aber dumm war sie nicht. Sie wusste, dass die Zwillinge unzertrennlich waren. Dass man den einen ohne den anderen sah, kam so gut wie nie vor. Sophie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Alles, was sie Tante Agnes erzählte, würde sofort bei ihren Eltern ankommen. Und wie sollte sie zu erklären versuchen, was mit Josh geschehen war? Sie wusste ja nicht einmal, wo er war. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er nicht der Bruder gewesen, mit dem sie aufgewachsen war. Er hatte ausgesehen wie Josh, aber seine Augen, die immer Spiegel ihrer eigenen gewesen waren, hatten sie angeschaut wie die eines Fremden.

Sie schluckte und blinzelte erneut ein paar Tränen weg. Sie würde ihn finden. Sie musste ihn finden.

Sophie sah die weißen Gardinen wackeln, als sie auf die Treppe zuging, und wusste, dass ihre Tante sie beobachtete. Sie drehte sich zu Niten um und der nickte kaum merklich. Auch er hatte die Bewegung gesehen. »Egal was du sagst, mach es nicht zu kompliziert«, riet sie.

Die Tür ging auf, und Tante Agnes erschien, eine kleine, zerbrechlich wirkende Gestalt, schmal und knochig, mit knubbeligen Knien und von Arthrose geschwollenen Fingern. Ihr Gesicht war kantig, sie hatte ein spitzes Kinn und waagrecht verlaufende Wangenknochen, über denen die Augen tief in ihren Höhlen lagen. Das stahlgraue Haar war so straff aus dem Gesicht gekämmt und am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengedreht, dass die Gesichtshaut spannte.

»Sophie«, begrüßte die alte Dame das Mädchen leise. Sie streckte den Kopf vor und blinzelte kurzsichtig. »Und wo ist dein Bruder?«

»Oh, er kommt, Tantchen«, behauptete Sophie, während sie die Treppe hinaufstieg. Oben angekommen beugte sie sich zu ihrer Tante hinunter und küsste sie auf die Wange. »Wie ist es dir ergangen?«

»Ich habe gewartet, dass ihr beide zurückkommt.« Die alte Frau klang müde.

Sophie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Obwohl ihre Tante sie gelegentlich zum Wahnsinn trieb, wussten die Zwillinge, dass sie ein gutes Herz hatte. »Darf ich dir einen Freund vorstellen, Tantchen? Das ist –«

»Miyamoto Musashi«, unterbrach Tante Agnes sie sehr leise. »So sehen wir uns wieder, Schwertkämpfer.« Ihre Stimme hatte sich bei den letzten Worten merklich verändert, sie war tiefer geworden, klang jetzt kraftvoll und befehlsgewohnt.

Sophie war an ihrer Tante vorbei in den dunklen Flur getreten, doch bei den überraschenden Worten blieb sie abrupt stehen und wirbelte herum. Ihre Tante hatte gerade japanisch gesprochen! Und irgendwoher wusste sie Nitens Namen – seinen richtigen Namen. Dabei hatte Sophie ihn noch gar nicht vorgestellt. Sie blinzelte. Feiner weißer Rauch stieg von der alten Dame auf. Und plötzlich roch es ganz intensiv nach Jasmin.

Jasmin …

Erinnerungen tauchten auf.

Dunkle, gefährliche Erinnerungen an Feuer und Wasser, an einen Himmel, so schwarz wie Ruß, und an ein Meer voller Wracks.

»Und wo ist die zweifelhafte Aoife von den Schatten?«, fuhr Agnes, wieder auf Englisch, fort.

Erinnerungen an einen Kristallturm, gegen den eine aufgewühlte See peitscht. Lange, gezackte Risse laufen über die Turmwände und sind gleich darauf wieder verschwunden. Blitze winden sich in Spiralen um den Turm. Und eine Frau, die eine endlose Treppe hinaufrennt. Und rennt und rennt …

Sophie hatte das Gefühl, als würde die Welt um sie herum sich drehen. Sie streckte die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, und merkte, dass ihre silberne Aura auf ihrer Haut zu glitzern begann.

Jasmin …

Erinnerungen an eine Frau, die vor einer goldenen Statue kniet und ein kleines, in Metall gebundenes Buch in den Händen hält, während hinter ihr die Welt zersplittert und in Flammen aufgeht.

Niten stieg die Treppe herauf und verbeugte sich tief vor Agnes. »Sie ist mit der Archonin Coatlicue in ein Schattenreich gegangen, Mistress«, sagte er.

»Die Archonin tut mir leid«, erwiderte Agnes leise.

Und plötzlich wusste Sophie, warum ihr der Jasminduft so vertraut vorkam. Es war das Lieblingsparfüm von Tante Agnes. Und der Duft von Tsagaglalal, der Wächterin.

Und dann drehte sich alles um Sophie herum und die Welt wurde schwarz.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
titlepage.xhtml
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_000.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_001.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_002.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_003.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_004.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_005.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_006.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_007.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_008.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_009.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_010.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_011.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_012.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_013.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_014.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_015.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_016.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_017.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_018.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_019.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_020.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_021.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_022.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_023.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_024.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_025.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_026.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_027.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_028.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_029.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_030.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_031.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_032.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_033.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_034.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_035.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_036.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_037.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_038.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_039.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_040.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_041.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_042.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_043.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_044.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_045.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_046.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_047.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_048.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_049.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_050.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_051.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_052.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_053.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_054.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_055.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_056.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_057.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_058.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_059.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_060.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_061.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_062.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_063.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_064.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_065.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_066.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_067.html