KAPITEL DREIUNDDREISSIG

An der Kreuzung Broadway und Scott Street blieb Mars Ultor stehen. Er war völlig außer Atem und musste sich an eine Hauswand lehnen. Von dort blickte er zurück über den Broadway. Er hatte nicht bedacht, dass es ständig nur bergauf ging. Seine Beine, die er lange nicht mehr bewegt hatte, schmerzten von oben bis unten und seine Muskeln waren völlig verkrampft. Als Zephaniah ihn aus seinem beinernen Gefängnis tief unter den Straßen von Paris befreit hatte, waren Jahrhunderte von verkrusteter und ausgehärteter Aura zu seinen Füßen zu Staub zerfallen. Er hatte damit einen Gutteil seiner Körpermasse verloren und war jetzt etliche Zentimeter kleiner. Voller Entsetzen hatte er festgestellt, dass sein einst muskulöser Körper weich und wabbelig geworden war. Besonders seine Beine waren so schwach, dass er das Gefühl hatte, sie könnten sein Gewicht kaum tragen. Doch Mars Ultors Kräfte würden zurückkommen. Zephaniah dagegen musste auf ewig auf ihre Augen verzichten. Sie hatte sie bei Kronos gegen das Wissen, wie sie die Sicherheit ihres Mannes gewährleisten könnte, eingetauscht.

Mars Ultor atmete tief durch. Wenn das alles vorüber war – und vorausgesetzt, er überlebte –, würde er dem verhassten Kronos einen Besuch abstatten. Der widerliche Ältere bewahrte Zephaniahs Augen garantiert noch irgendwo in einem Glas auf. Vielleicht würde er sich überzeugen lassen, dass es besser sei, sich von ihnen zu trennen. Mars Ultor verschränkte die Hände und ließ die Knöchel knacken. Er konnte ausgesprochen überzeugend sein.

Er bog links in die Scott Street ein.

Der Ältere spürte die extrem starke Kraftwelle und hatte sich schon auf dem Bürgersteig in Sicherheit gebracht, noch bevor der ausgediente, ramponierte Jeep aus Armeebeständen mit quietschenden Reifen am Straßenrand hielt. Drei Leute saßen darin.

Ein großer, ausgesprochen gut aussehender Indianer mit kupferfarbener Haut und scharf geschnittenem Gesicht beugte sich heraus. »Du bist Mars.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Wer will das wissen?« Mars blickte die Straße hinauf und hinunter und fragte sich, ob das wohl ein Überfall war.

Eine der beiden Personen auf dem Rücksitz beugte sich vor. Sie bog den Rand ihres Cowboyhuts nach oben, damit man die Klappe über ihrem rechten Auge sehen konnte. »Ich.«

Mars Ultor erstarrte. »Odin?«

Dann schob die dritte Person die Kapuze ihres schweren Dufflecoats zurück. Zum Vorschein kam ein schmales Hundegesicht. Zwei kräftige Fangzähne ragten aus dem Oberkiefer. Es handelte sich um eine Frau. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, die einen Großteil ihres Gesichts bedeckte, die Rinnsale der schwarzen Flüssigkeit, die ihr aus den Augen tropfte, jedoch nicht verbergen konnte.

»Hel?«

»Onkel«, krächzte sie.

Mit großen Augen blickte Mars Ultor von Odin zu Hel und zurück zum Fahrer. »Träume ich noch?«

»Wenn ja, ist es ein Albtraum.« Der Fahrer streckte die Hand aus dem Fenster. Er hatte kräftige Unterarme und ein breites türkisfarbenes Band umschloss sein Handgelenk. »Ich bin Ma-ka-tai-me-she-kia-kiak.« Er trug ausgefranste Jeans, alte Cowboystiefel und ein verwaschenes Grand-Canyon-T-Shirt. »Du kannst mich auch Black Hawk nennen, Schwarzer Falke. Quetzalcoatl ist mein Meister. Er hat mich losgeschickt, um diese beiden hier einzusammeln.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Vor einer Weile habe ich einen Anruf bekommen und wurde gebeten, auch dich noch abzuholen. Oh, und er lässt schön grüßen.« Black Hawk beugte sich zu Mars hinüber, als der auf der Beifahrerseite einstieg. »Allerdings glaube ich nicht, dass er den schönen Gruß ernst gemeint hat.« Er ließ den Motor aufheulen, drehte sich dann noch einmal zu den beiden Älteren auf dem Rücksitz um. »Was wird das eigentlich? Eine Art Kongress schlecht angezogener Älterer?«

Mars war immer noch geschockt. Er ignorierte den Fahrer und drehte sich ebenfalls zu den beiden Älteren um. »Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, habt ihr euch in den Haaren gelegen.«

Odin tat die Sache ab: »Das war damals …«

»… und heute ist heute«, lispelte Hel. »Jetzt haben wir einen gemeinsamen Feind. Einen utlaga-Diener, der glaubt, er könnte sich zum Meister aufschwingen.«

Black Hawk fuhr langsam die Straße hinauf. Er suchte nach einer bestimmten Adresse und ließ den Blick immer von einer Straßenseite zur anderen wandern.

»Es gibt da einen Humani namens John Dee«, erklärte Odin.

Mars Ultor nickte. »Zephaniah hat mir von ihm erzählt. Sie sagte, er hätte versucht, Coatlicue zurückzuholen, um sie auf uns zu hetzen.«

»Dee hat den Yggdrasil zerstört.« Odin wechselte in eine Sprache, die Jahrtausende vor der Ankunft der Humani auf der Erde gesprochen wurde, und fuhr fort: »Er hat Hekate umgebracht.«

Plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch und die Haut des Älteren nahm einen dunklen violettroten Ton an. »Ah, das hat meine liebe Frau vergessen, mir zu sagen. Ein Humani hat Hekate umgebracht?«, fragte Mars Ultor, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Deine Hekate?«, vergewisserte er sich, an Odin gewandt.

Der Ältere nickte. »Meine Hekate«, antwortete er leise.

»Und er hat den Yggdrasil zerstört«, wiederholte Hel. »Die Schattenreiche Asgard und Niflheim wurden zerschlagen und genauso die Welt der Dunkelheit. Die Tore zu weiteren sechs Welten brachen ein. Die sind jetzt für immer von allem abgeschnitten und zu Stagnation und Untergang verdammt.«

»Ein einzelner Mann hat das alles getan?«, fragte Mars ungläubig.

»Der Humani Dee«, bestätigte Hel. Sie beugte sich vor und hüllte Mars in eine eklig stinkende Wolke ein. »Dees Meister wollen ihn lebendig. Doch solange Dee lebt, stellt er eine Gefahr für uns alle dar. Mein Onkel und ich verfolgen denselben Zweck: Wie sind hier, um Dee umzubringen.« Sie legte Mars Ultor eine Krallenhand auf die Schulter. »Es wäre ein Fehler, sich uns in den Weg zu stellen.«

Mars fegte die Finger der Älteren von seiner Lederjacke, als schnippte er eine Fluse weg. »Komm erst gar nicht auf die Idee, mir zu drohen, Nichte. Ich weiß, dass ich lange weg war. Vielleicht hast du in der Zwischenzeit vergessen, wer ich bin. Was ich bin.«

»Wir wissen, wer du bist, Cousin«, sagte Odin leise. »Wir wissen auch, was du bist – wir alle haben bei deinen Wutausbrüchen Freunde und Verwandte verloren. Viel wichtiger erscheint mir die Frage: Weshalb bist du hier?«

Mars Ultor lächelte. »Ausnahmsweise, mein lieber Cousin und meine liebe Nichte, stehen wir einmal auf derselben Seite. Vor wenigen Stunden erst hat meine Frau mich befreit und mir nur den einen Auftrag erteilt: Dr. John Dee umzubringen.«

Schwarzer Falke lenkte den Jeep an den Straßenrand und stellte den Motor ab, bevor einer der beiden Älteren auf dem Rücksitz etwas erwidern konnte. »Wir sind da«, verkündete er.

»Wo?«, fragte Mars Ultor.

»Bei Tsagaglalal, der Wächterin.«

Mars und Odin halfen Hel gerade aus dem Wagen, als die Haustür aufging und Prometheus und Niten, beide in ihrer Aura-Rüstung, auf der Schwelle erschienen. Die Luft war plötzlich erfüllt von einer unangenehmen Mischung aus Gerüchen – verbranntes Fleisch und grüner Tee, Anis, Stechwinde und fauliger Fisch. Dann zog Mars Ultor mit einem wütenden Aufschrei ein kurzes Schwert unter seiner Lederjacke hervor und stürzte sich auf Prometheus. Die Schwertklinge zielte auf dessen Kehle.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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