KAPITEL ZWEI

Das Gebäude brannte lichterloh. Dutzende von Alarmanlagen heulten und kreischten und dicker schwarzer Rauch lag in der Luft. Es stank nach verbranntem Gummi und geschmolzenem Plastik.

»Raus! Nichts wie raus!« Dr. John Dee zerschlug mit dem kurzen Schwert, das er in der rechten Hand hielt, die schwere Tür aus Stahl und Holz. Er durchschnitt sie, als wäre sie aus Papier. »Die Treppe hinunter«, befahl er.

Virginia sprang, ohne zu zögern, durch das Loch in der Tür. In ihrem langen dunklen Haar knisterten Funken.

»Mir nach«, rief Dee Josh zu und lief gebückt durch die kaputte Tür. Die gelbe Aura des Doktors löste sich in sichtbaren gelben Fäden von seiner Haut, und Josh stieg der Gestank nach faulen Eiern in die Nase, als er dicht hinter Dee herlief.

Josh war speiübel, und das nicht nur wegen des ekligen Schwefelgeruchs, den der Doktor verströmte. Sein Kopf dröhnte und vor seinen Augen pulsierten winzige Farbpunkte. Er war benommen und immer noch zittrig nach seiner Begegnung mit der schönen Archonin Coatlicue. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich auf die Ereignisse der letzten paar Minuten absolut keinen Reim machen. Genauso schleierhaft war ihm, wie er überhaupt hier gelandet war. Er erinnerte sich noch, dass er über Landstraßen gefahren war … über die Autobahn … und in die Stadt hinein. Aber er hatte keine Ahnung gehabt, wohin er fuhr, sondern lediglich gewusst, dass er irgendwohin musste.

Josh versuchte, sich an die Abfolge der Ereignisse zu erinnern, die ihn in das brennende Gebäude geführt hatte, doch je mehr er sich konzentrierte, desto verschwommener wurden diese Ereignisse.

Und dann war plötzlich Sophie aufgetaucht. Am deutlichsten erinnerte er sich noch an die schreckliche Veränderung, die seine Zwillingsschwester durchgemacht hatte. Als sie vor wenigen Augenblicken das Apartment des Doktors betreten hatte, war er ganz aus dem Häuschen gewesen vor Freude … aber auch irritiert. Weshalb war sie gekommen? Wie hatte sie ihn gefunden? Die Flamels müssen sie hergeschickt haben, hatte er gedacht. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Sie war da und konnte ihm helfen, Coatlicue in diese Welt zurückzuholen. Das war das Allerwichtigste.

Seine Freude hatte allerdings nicht lange angehalten. Sie war rasch in Angst umgeschlagen, in Empörung und schließlich sogar in Wut über das, was seine Schwester tat. Sophie war nicht gekommen, um ihm zu helfen, sie … Josh wusste nicht, was genau sie gewollt hatte. Sprachlos hatte er beobachtet, wie ihre silberne Aura sich um ihren Körper herum zu einer Rüstung verhärtet hatte. Dann hatte sie die schöne und wehrlose Archonin mitleidlos mit einer Peitsche geschlagen. Coatlicues Schreie hatten Josh fast das Herz gebrochen. Und gänzlich unerträglich war es geworden, als sich die Archonin auch noch zu ihm umgedreht hatte. Sie hatte die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn mit ihren großen Augen angeschaut, in denen sich der Schmerz über den Verrat spiegelte. Er war es gewesen, der sie aus ihrem Schattenreich gerufen hatte. Er trug die Verantwortung für ihren Schmerz. Und er konnte ihr nicht helfen.

Aoife war Coatlicue auf den Rücken gesprungen und hatte sie festgehalten, während Sophie wieder und wieder mit dieser schrecklichen Peitsche auf sie eingeschlagen hatte. Und dann hatte Aoife die verwundete Archonin zurück in ihr Schattenreich gezogen. Als Coatlicue verschwand, hatte Josh das Gefühl gehabt, etwas sei unwiederbringlich verloren. Er war so nahe daran gewesen, etwas Bedeutendes zu vollbringen, so nah! Hätte er Coatlicue die Rückkehr in diese Welt ermöglicht, hätte sie … Josh schluckte einen Mundvoll Rauch, der nach Gummi schmeckte, und hustete. Seine Augen tränten. Er war sich nicht sicher, was sie getan hätte.

Dee war zwei Stufen unter ihm. Als er sich umdrehte und im Halbdunkel zu ihm aufschaute, waren seine grauen Augen weit aufgerissen. Sein Blick war wild. »Bleib dicht hinter mir«, zischte er. Dann wies er mit dem Kinn zu dem brennenden Zimmer hinter Josh. »Merkst du was? Sie haben getan, was sie immer tun! Den Flamels und ihren Speichelleckern folgen Tod und Zerstörung.«

Josh musste erneut husten. Er brauchte dringend frische Luft. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Anschuldigung hörte. »Das hat Scathach auch gesagt.«

»Die Schattenhafte hat einen großen Fehler gemacht: Sie hat sich für die falsche Seite entschieden.« Ein hässliches Lächeln huschte über Dees Gesicht. »Ein Fehler, den auch du beinahe gemacht hättest.«

»Was ist da oben eigentlich passiert?«, fragte Josh. »Es ging alles so schnell, und Sophie –«

»Jetzt ist wohl kaum die Zeit für lange Erklärungen.«

»Sag es mir«, verlangte Josh ärgerlich, und in der verpesteten Luft lag plötzlich der Duft von Orangen.

Dee blieb stehen. Seine Aura leuchtete so hell, dass seine Augen und Zähne gelb wirkten. »Es hat nicht mehr viel gefehlt und du hättest die Welt für immer verändert, Josh. Wir standen kurz davor, einen Prozess in Gang zu setzen, der diese Erde in ein Paradies verwandelt hätte. Und du wärst bei dieser Verwandlung das Mittel zum Zweck gewesen.« Das Gesicht des Doktors verzerrte sich vor Zorn. »Heute haben die Flamels meine Pläne durchkreuzt. Und weißt du auch, warum? Weil sie – und ihresgleichen – nicht wollen, dass die Welt ein Ort wird, an dem es sich besser leben lässt. Die Flamels lieben das Dunkel, sie leben am Rand der Gesellschaft, leben ein Leben im Verborgenen, leben von Lügen. Der Schmerz und die Not anderer machen sie stark. Sie wissen, dass es in meiner neuen Welt keine dunklen Ecken gibt, wo sie sich verstecken können, kein Leiden, um davon zu profitieren. Sie wollen nicht, dass ich – und meinesgleichen – Erfolg haben. Mit deiner Hilfe sind wir dem Erfolg vielleicht näher gekommen, als wir es jemals waren.«

Josh versuchte stirnrunzelnd zu begreifen, was der Doktor ihm da erzählte. Log Dee? Es konnte nicht anders sein … Obwohl Josh das Gefühl nicht loswurde, dass ein Körnchen Wahrheit in den Worten des Unsterblichen steckte. Nur: Was machte das aus den Flamels?

»Du hast Coatlicue gesehen?«, fragte Dee.

Josh nickte. »Sicher.«

»Und – war sie schön?«

»Ja.« Er blinzelte und ließ ihr Bild vor seinem geistigen Auge entstehen. Sie war schöner als alle Frauen, die er je gesehen hatte.

»Auch ich habe ihre wahre Gestalt gesehen«, erzählte Dee leise. »Sie war eine der Mächtigsten dieser uralten Rasse der Archone, die die Welt in der Zeit vor der Zeit regierten. Vielleicht waren sie sogar Außerirdische. Coatlicue war Wissenschaftlerin und bediente sich einer so fortschrittlichen Technologie, dass sie von Magie nicht zu unterscheiden war. Sie war in der Lage, die Materie selbst zu manipulieren.« Dee betrachtete Josh aufmerksam, bevor er bedächtig weitersprach. »Coatlicue hätte diese Welt heute neu erschaffen, sie wieder heil machen können. Sie hätte sie in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen können. Aber du hast gesehen, was Aoife mit ihr gemacht hat, ja?«

Josh schluckte hart. Er hatte gesehen, wie Aoife auf den Rücken der Archonin gesprungen war und sie zurückgezerrt hatte zu dem weit offenen Eingang in ihr Schattenreich. Er nickte.

»Und du hast auch gesehen, was deine Schwester ihr angetan hat?«

»Ja.«

»Sophie hat sie mit der Peitsche geschlagen – und zwar nicht mit einer gewöhnlichen Peitsche. Ich könnte wetten, dass es Perenelles Peitsche war, geflochten aus Schlangen, die sie aus Medusas Haar zog. Schon die leiseste Berührung verursacht Höllenqualen.« Dee legte Josh eine Hand auf die Schulter, und der Junge spürte, wie sich Wärme in seinem Arm ausbreitete. »Sophie ist jetzt für dich verloren, Josh. Sie steht ganz unter dem Bann der Flamels, ist ihre Marionette, ihre Sklavin. Sie werden sie opfern, wie sie in der Vergangenheit schon viele andere geopfert haben.«

Josh nickte zum dritten Mal. Er wusste, dass es vor ihnen andere Zwillinge gegeben hatte, und er wusste auch, dass die nicht überlebt hatten.

»Vertraust du mir, Josh Newman?«, fragte Dee unvermittelt.

Josh blickte den Magier an. Er öffnete den Mund, wollte antworten, sagte dann aber doch nichts.

»Ah.« Dee lächelte. »Eine gute Antwort.«

»Ich habe gar nicht geantwortet.«

»Manchmal ist keine Antwort auch eine Antwort«, erwiderte der Unsterbliche. »Lass mich die Frage anders stellen: Vertraust du mir mehr als den Flamels?«

»Ja«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus Joshs Mund.

»Und was möchtest du?«

»Meine Schwester retten.«

Dee nickte. »Natürlich willst du das.« Es gelang ihm nicht, den Ton leiser Verachtung in seiner Stimme zu unterdrücken. »Du bist ein Humani.«

»Sie steht unter einem Bann, oder? Wie kann ich diesen Bann brechen?«

Dees graue Augen wurden zu gelbem Stein. »Da gibt es nur eines: Du musst den töten, der sie kontrolliert. Das ist entweder Nicholas Flamel. Oder Perenelle Flamel. Oder es sind beide.«

»Ich weiß nicht …«

»Ich kann dir sagen, was du zu tun hast«, bot Dee an. »Du brauchst mir nur zu vertrauen.«

Irgendwo im Innern des Gebäudes explodierte Glas. Lediglich ein leises, fast melodisches Klimpern war zu hören. Dann flog die Tür über ihnen auf und heiße Luft strömte von oben durchs Treppenhaus. Eine Reihe schnell hintereinander folgender Explosionen erschütterte das Gebäude und wie Spinnennetze überzogen Risse den Verputz an den Wänden. Der metallene Handlauf war plötzlich so heiß, dass man ihn nicht mehr anfassen konnte.

»Was bewahrst du da oben eigentlich auf?«, rief Virginia Dare von unten. Die Unsterbliche war von einer durchsichtigen grünen Aura umgeben, die ihr feines schwarzes Haar wie einen Umhang von Rücken und Schultern hob.

»Lediglich die Zutaten für ein paar kleinere alchemistische Experimente …«, begann Dee.

Eine donnernde Explosion ließ die drei auf die Knie sinken. Teile des Verputzes regneten von der Decke und ein intensiver Güllegestank breitete sich im Treppenhaus aus.

»… und für das eine oder andere größere«, fügte er hinzu.

»Wir müssen hier raus. Bald stürzt das ganze Gebäude ein«, rief Virginia. Sie drehte sich um und lief weiter die Treppe hinunter. Dee und Josh folgten ihr dicht auf den Fersen.

Josh atmete tief durch. »Rieche ich verbranntes Brot?«, fragte er überrascht.

Virginia warf einen kurzen Blick hinauf zu Dee. »Ich will gar nicht wissen, woher dieser Geruch kommt.«

»Nein, das willst du nicht«, bestätigte der Doktor.

Nachdem sie das Ende der Treppe erreicht hatten, warf sich Virginia gegen die zweiflügelige Tür – und prallte daran ab. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert und eine dicke Kette war durch die Griffe gezogen worden.

»Das verstößt doch garantiert gegen das Brandschutzgesetz«, murmelte Dee.

Virginia sagte etwas in einer Sprache, die auf dem amerikanischen Kontinent seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen worden war, fiel dann aber schnell wieder ins Englische zurück. »Kann es eigentlich noch schlimmer kommen?«, knurrte sie.

Es klickte und zischte, die in die Decke eingebaute Sprinkleranlage ging an und Wasser regnete auf das Trio herunter. Über alles legte sich ein stechender Geruch.

»Sieht ganz danach aus«, beantwortete sie ihre eigene Frage. Dann bohrte sie Dee ihren Zeigefinger in die Brust. »Du gleichst den Flamels mehr, als du zugeben magst, Doktor. Auch dir folgen Tod und Zerstörung.«

»Ich bin absolut nicht wie sie.« Dee legte die Hand auf das Schloss und drückte. Seine Aura loderte um die Finger herum gelb auf und tropfte in langen, klebrigen Fäden auf den Boden.

»Ich dachte, du wolltest deine Aura nicht einsetzen«, sagte Virginia rasch.

»Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es keine Rolle mehr spielt, wer weiß, wo ich bin«, entgegnete Dee. Er riss das Schloss in der Mitte durch, als wäre es aus Karton, und warf es beiseite.

Josh sah ihn an. »Jetzt wissen alle, wo du bist.«

»Ja, und sie werden mich holen kommen«, bestätigte Dee. Er stieß die Tür auf und trat dann zurück, damit seine unsterbliche Freundin und Josh als Erste nach draußen gehen konnten. Nach einem Blick auf die Flammen, die trotz der laufenden Sprinkleranlage immer noch loderten, stürmte auch er durch die Tür … und direkt hinein in Josh und Virginia Dare, die gleich hinter der Schwelle stehen geblieben waren.

»Ich fürchte, sie sind schon da«, murmelte Josh.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
titlepage.xhtml
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_000.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_001.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_002.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_003.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_004.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_005.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_006.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_007.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_008.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_009.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_010.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_011.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_012.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_013.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_014.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_015.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_016.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_017.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_018.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_019.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_020.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_021.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_022.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_023.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_024.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_025.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_026.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_027.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_028.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_029.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_030.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_031.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_032.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_033.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_034.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_035.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_036.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_037.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_038.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_039.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_040.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_041.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_042.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_043.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_044.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_045.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_046.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_047.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_048.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_049.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_050.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_051.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_052.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_053.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_054.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_055.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_056.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_057.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_058.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_059.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_060.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_061.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_062.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_063.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_064.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_065.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_066.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_067.html