KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

Billy the Kid flitzte von einer Seite des Gangs zur anderen und besah sich die Menagerie der schlafenden Tiere in den Zellen. »Ich lebe ja jetzt schon sehr lang auf dieser Erde, aber so etwas hab ich noch nie gesehen.« Er betrachtete gerade einen muskelbepackten Mann mit blauer Haut und dichtem schwarzem Drahthaar. Aus den Schläfen wuchsen ihm zwei gebogene Hörner. »Du?«, fragte er Niccolò Machiavelli.

Machiavelli warf einen schnellen Blick in die Zelle. »Es ist ein Oni«, erklärte er. »Ein japanischer Dämon«, fügte er hinzu, bevor Billy nachhaken konnte. »Die Blauhäutigen sind ziemlich unangenehm, aber die Rothäutigen sind noch schlimmer.« Der Italiener schritt weiter den düsteren Gefängnisflur hinunter. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und seine kalten grauen Augen blickten stur geradeaus.

»Du machst dir wieder diese tiefgründigen, finsteren Gedanken«, bemerkte Billy leise, während er sich dem Schritt des Unsterblichen in dem schwarzen Anzug anpasste.

»Dann kannst du jetzt also Gedanken lesen?«

»Ich kann Körper lesen. Wer im Wilden Westen überleben wollte, musste beobachten, wie die Leute standen und sich bewegten, musste jede Regung und jeden Blick interpretieren und wissen, wer gleich eine Kanone ziehen und wer klein beigeben würde. Ich war sehr gut darin«, brüstete der Amerikaner sich stolz. »Und ich wusste immer, wann jemand im Begriff war, etwas Dummes zu tun«, fügte er sehr leise hinzu.

»Ich habe nicht vor, irgendetwas Dummes zu tun«, erwiderte Machiavelli ebenso leise. »Ich habe meinem Meister mein Wort gegeben, und ich bleibe dabei: Ich wecke die Bestien und lasse sie auf die Stadt los.«

»Aber du bist nicht glücklich bei dem Gedanken, stimmt’s?«

Machiavelli schaute Billy kurz von der Seite her an.

»Also, wenn ich mir so anschaue, was da in den Zellen liegt, glaube ich eher nicht, dass ich erleben will, wie sie frei durch eine Stadt ziehen, egal durch welche.« Billys Stimme war nur noch ein Flüstern. »Das sind doch alles Fleischfresser und Blutsauger, oder?«

»Ein Vegetarier-Monster ist mir bisher noch keines begegnet«, antwortete Machiavelli. »Ja, die meisten davon sind Fleischfresser. Einige von denen, die noch am menschlichsten aussehen, ernähren sich aber auch von der dunklen Energie schlechter Träume und Albträume.«

»Willst du, dass sie frei in San Francisco herumlaufen?«, fragte Billy ihn direkt.

Machiavelli blieb stumm, schüttelte aber leicht den Kopf. Seine Lippen formten ein Wort, das er nicht laut aussprach. Nein.

»Aber du brütest irgendwas aus«, fuhr Billy fort. »Das sehe ich doch.«

»Woran?«, fragte Machiavelli mit einem leisen Lächeln.

»Ganz einfach.« Die blauen Augen des Amerikaners blitzten im Dämmerlicht. »Du bist ein kleines bisschen zu leicht durchschaubar. Im Wilden Westen hättest du nicht lang überlebt.«

Machiavelli blinzelte überrascht. »Ich habe an gefährlicheren Orten überlebt als in deinem Amerika im neunzehnten Jahrhundert. Und das, weil an meiner Miene nie etwas abzulesen war und ich meine Meinung immer für mich behalten habe.«

»Und genau da liegt dein Fehler, Mr Machiavelli.«

»Jetzt bin ich aber gespannt. Kläre mich auf, junger Mann.«

Billy grinste vergnügt und zeigte dabei seine kräftigen Zähne. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dir noch was beibringen kann.«

»Der Tag, an dem wir aufhören zu lernen, ist der Tag, an dem wir sterben.«

Billy rieb sich kräftig die Hände. »Richtig. Dann kann ich wohl mit Recht behaupten, dass du ein neugieriger Mensch bist. Korrekt, Mr Machiavelli?«

»Immer gewesen. Es ist eine der vielen Charaktereigenschaften, die Dee und ich gemeinsam haben. Wir sind beide ungeheuer neugierig. Ich war immer der Meinung, dass Neugier eine der wichtigsten Stärken eines Mannes ist.«

Billy nickte. »Ich war auch immer neugierig. Hat mir ’ne Menge Ärger eingebracht. Aber wenn du dich jetzt mal kurz umschaust …«

Machiavelli blickte über die Schulter zu Josh, Dee und Virginia Dare, die hinter ihnen herkamen.

»Der Junge ist offensichtlich überrascht. Und er hat Angst …« Billy blickte immer noch stur geradeaus.

Josh Newman folgte den beiden Unsterblichen wie benommen. Seine Augen wurden immer größer, und er brachte den Mund nicht mehr zu, als sie an einer Zelle nach der anderen vorbeigingen und er die unterschiedlichsten Kreaturen zu sehen bekam. Er hatte Angst, das war offensichtlich. Goldene Rauchkringel stiegen von seinem Haar auf und drangen aus Ohren und Nasenlöchern. Seine Hände steckten in goldenen Handschuhen und er hatte sie zu Fäusten geballt.

»Dee interessiert sich nicht für die Kreaturen. Er hat sie schließlich hierhergebracht und weiß, womit er es zu tun hat«, fuhr Billy fort. »Virginia interessiert sich genauso wenig dafür, da sie in der Vergangenheit entweder schon gegen sie gekämpft hat oder weiß, dass ihre Flöte sie beschützt.« Er legte den Kopf schräg. »Oder vielleicht, weil sie weiß, dass sie gefährlicher ist als die Bestien.«

»Ich kenne sie nur vom Hörensagen«, warf Machiavelli ein. »Ist sie so schlimm wie ihr Ruf?«

»Schlimmer.« Billy nickte ein paar Mal rasch hintereinander. »Viel, viel schlimmer. Mach nie den Fehler und traue ihr.«

Dee und Virginia bildeten die Nachhut. Machiavelli sah, dass die beiden in ein Gespräch vertieft waren. Das Gesicht der Frau war eine unergründliche Maske. Ihre grauen Augen hatten dieselbe Farbe wie die Wände und der Boden. Als sie merkte, dass Machiavelli sie beobachtete, hob sie eine Hand zum Zeichen, dass sie es zur Kenntnis genommen hatte. Dee blickte auf und seine Miene verfinsterte sich. Kurzfristig war der Zellenblock erfüllt vom Gestank nach fauligen Eiern, der noch strenger war als der der schlafenden Bestien. Machiavelli wandte sich ab, bevor Dee sein Lächeln sehen konnte. Es amüsierte ihn, dass der Magier immer noch Angst vor ihm hatte.

»Deine Neugier vorausgesetzt, müsstest du eigentlich in die Zellen schauen«, schloss Billy, »aber du tust es nicht. Deshalb gehe ich davon aus, dass du an etwas weitaus Wichtigeres denkst.«

»Beeindruckend«, lobte Machiavelli. »Und deine Logik ist unwiderlegbar – mit einer Ausnahme.«

»Und die wäre?«

»Seltsam aussehende Kreaturen und monströse Bestien können mich schon lange nicht mehr schrecken. Wenn du es genau wissen willst, waren es immer nur die Menschen – und ihre nächsten Verwandten, die Älteren und die nächste Generation –, die es geschafft haben, mir Angst einzujagen.« Er nickte in Richtung der Zellen. »Diese armen Bestien werden nur von ihrem Drang zu überleben und zu fressen gesteuert. Das ist ihre Natur und ihre Natur hat sie berechenbar gemacht. Der Mensch dagegen besitzt die Fähigkeit, seine Natur zu verändern. Der Mensch ist das einzige Tier, das die Welt vernichten kann. Tiere leben nur in der Gegenwart. Die Menschen besitzen die Fähigkeit, für die Zukunft zu leben, Pläne für ihre Kinder und Enkel zu schmieden, Pläne, die Jahre, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte brauchen, bis sie sich verwirklichen lassen.«

»Wie ich gehört habe, ist diese Art des Planens deine Spezialität«, sagte Billy.

»Das ist richtig.« Machiavelli wies mit der Hand auf eine Zelle, in der drei haarige Domovoi schliefen, einer hässlicher als der andere. »Deshalb machen mir diese hier keine Angst. Sie interessieren mich nicht einmal.«

»Jetzt klingst du so hochmütig wie Dee.« In Billys Stimme schwang ein stahlharter Unterton mit. »Und ich bin sicher, dass die Leute in San Francisco in diesem Punkt vollkommen anders denken als du.«

»Stimmt«, gab Machiavelli zu.

Billy holte tief Luft. »Wenn diese Kreaturen an Land gehen, gibt es …« Er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort. »Chaos. Anarchie.«

»Wer macht sich jetzt tiefgründige, finstere Gedanken?«, fragte Machiavelli leichthin. »Wer hätte das gedacht – ein Gesetzloser mit einem Gewissen.«

»Wahrscheinlich sind es dieselben tiefgründigen, finsteren Gedanken, die du dir gemacht hast«, murmelte Billy. »Ich gebe zu, ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, diese Monster auf mein Volk loszulassen.«

»Dein Volk«, neckte Machiavelli ihn.

»Mein Volk. Dass es nicht deines ist, weiß ich. Es sind keine Italiener …«, begann Billy.

Machiavelli unterbrach ihn. »Es sind Menschen und das macht sie auch zu meinem Volk.«

Billy warf ihm einen schnellen Blick zu. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, dachte ich, du seist genau wie Dee. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

Machiavelli lächelte kaum merklich. »Dee und ich sind uns in vielem sehr ähnlich; sag ihm das aber bitte nicht. Er wäre beleidigt. In einem Punkt unterscheiden wir uns allerdings: Um seine Ziele zu erreichen, würde Dee alles tun. Ich habe gesehen, wie er die Befehle seines Meisters befolgt hat, obwohl es die Zerstörung ganzer Städte und das Auslöschen Zehntausender von Menschenleben bedeutet hat. Das habe ich nie getan. Der Preis für meine Unsterblichkeit waren meine Dienste, aber nicht meine Seele. Ich bin heute ein Mensch und ich war immer einer.«

»Gut zu wissen«, murmelte Billy the Kid.

Der Flur endete an einer Metalltür. Machiavelli stieß sie auf, blinzelte in die Nachmittagssonne und lief rasch die Steinstufen zum ehemaligen Gefängnishof hinunter. Er atmete die frische, salzige Luft tief ein, um den ekligen Moschusgestank der Tiere loszuwerden, der in den Zellenblocks hing. Er wartete, dass Billy sich wieder zu ihm gesellte. Als er sich umdrehte, stand Billy noch auf der letzten Stufe, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren. »Ich habe meinem Meister und Quetzalcoatl mein Wort gegeben, dass ich die Kreaturen auf die Stadt loslasse. Ich kann mein Wort nicht zurücknehmen.«

»Du kannst nicht oder du willst nicht?«

»Ich kann nicht«, wiederholte Machiavelli bestimmt. »Ich werde nicht zum waerloga – zum Schwurbrecher.«

Billy nickte. »Ich habe Respekt vor einem Mann, der zu seinem Wort steht. Sieh einfach zu, dass du aus dem richtigen Grund dazu stehst.«

Machiavelli beugte sich vor und seine eisenharten Finger bohrten sich in Billys Schulter. Er blickte Billy durchdringend an. »Nein, du musst zusehen, dass du es aus dem richtigen Grund brichst

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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