KAPITEL EINUNDFÜNFZIG

Prometheus zeigte direkt nach vorn auf einen glänzenden Turm aus Kristall, der aus dem Wasser ragte. »Das ist unser Ziel.«

Palamedes beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Vimana-Flotte hinter ihnen. Die feindlichen Flugzeuge waren vorsichtiger geworden, nachdem sie drei Maschinen an die Megalodone verloren hatten. Sie hielten Abstand und begnügten sich für den Augenblick offensichtlich damit, dem Rukma zu seinem Ziel zu folgen.

»Der Turm wird angegriffen«, rief Scathach und beugte sich vor, um besser sehen zu können.

Ein größeres dreieckiges Kampfvimana schwebte über dem Turm. Lange Seile reichten hinunter bis zu einer Plattform etwas unterhalb der Turmspitze. Dort verteidigte ein einzelner Krieger mit einem Schwert und einer Streitaxt eine Tür gegen ein Dutzend heulender Anpu, die ihn mit gezahnten Speeren und tödlichen Khopesh angriffen. Mindestens zehn Anpu lagen schon um ihn herum auf dem Boden und mit wirbelndem Schwert stieß er einen weiteren von der Plattform hinunter ins schäumende Wasser. Seine Waffen waren dunkel von Anpu-Blut, doch auch seine eigene graue Rüstung war eingerissen und gebrochen und blutverschmiert. Ein Anpu erschien in der Tür des Rukma-Vimanas und feuerte eine Tonbogiri auf den Krieger ab. Er duckte sich weg, und blaue Funken sprühten auf, als die Kugel die Kristallwand traf. Der Boden rings um den Krieger wies weiße Schrammen auf, die aussahen wie Narben.

»Das nenn ich einen Krieger«, sagte Palamedes voller Bewunderung.

»Es gibt keinen nobleren«, bestätigte Prometheus. Und leise fügte er hinzu: »Halte durch, mein Freund, wir kommen.«

Ein hünenhafter Anpu führte mit einem langen gebogenen Schwert einen Hieb gegen den Krieger in Grau und traf ihn seitlich am Kopf. Sein Helm löste sich und flog durch die Luft.

Es dauerte einen Moment, bis die Unsterblichen in dem Rukma wussten, wen sie vor sich hatten. Sie kannten ihn nur alt und abgerissen, entrückt und verwirrt. Doch hier stand er in Glanz und Gloria – König Gilgamesch! Er brüllte vor Lachen, sein Gesicht war blutig, und er bleckte die Zähne, während er gegen einen übermächtigen Feind kämpfte. Noch mehr Anpu seilten sich aus dem schwebenden Rukma ab.

Scathach hievte sich aus ihrem Sitz. »Bring uns da runter!«

»Ich tue, was ich kann«, sagte Prometheus.

Die Vimana-Flotte hinter ihm kam immer näher.

»Bring uns einigermaßen in die Nähe, dann springe ich«, sagte die Schattenhafte und zog die beiden Kurzschwerter aus den Scheiden, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatte.

»Nein«, widersprach der sarazenische Ritter. Er zeigte auf das in der Luft schwebende Rukma. »Stell dich darüber. Wir lassen uns an ihren Seilen hinunter.«

Shakespeare löste seinen Sicherheitsgurt. »Ich bin kein Krieger«, sagte er zu Prometheus, »aber du. Zeig mir, was ich tun muss, dann versuche ich, das Ding hier in der Luft zu halten.«

Prometheus manövrierte sein Rukma fast direkt über das feindliche Schiff, das über dem Turm in der Luft stand. Noch bevor er es in exakt die richtige Position gebracht hatte, hatte Scathach schon die Tür aufgestoßen und war auf das drei Meter weiter unten schwebende Vimana gesprungen. Sie kam hart auf und rollte sich auf die Füße. Der Anpu-Schütze streckte den Kopf aus der Öffnung, weil er wissen wollte, woher das Geräusch gekommen war. Scathach packte ihn an der Kehle, zerrte ihn gewaltsam aus dem Flugzeug und schleuderte ihn durch die Luft. Er kreischte, als er ins Meer stürzte.

»Offenbar sind doch nicht alle taub«, murmelte sie.

Sie schnappte sich eines der herunterbaumelnden Seile, schlang einen Arm und ein Bein darum und rutschte auf die Plattform hinunter, wo sie mitten unter den erschrockenen Anpu landete.

»Ich bin Scathach!«, brüllte sie. Mit wirbelnden Schwertern trieb sie die Anpu vor sich her. »Man hat mich Dämonenschlächterin und Königsmacherin genannt.« Drei Anpu griffen gleichzeitig an. Sie duckte sich weg, führte einen Hieb gegen den ersten, trieb den zweiten in die Waffe seine Kameraden und zwang einen weiteren an den Rand der Plattform. Er stolperte und fiel mit wedelnden Armen über die Brüstung. »Man hat mich die Kriegerin und die Schattenhafte genannt.« Sie kämpfte mit Füßen und Fäusten, ihre Schwerter waren kreischende Verlängerungen ihrer Arme. »Ab heute füge ich der Liste den Titel ›Anpu-Killerin‹ hinzu.«

Die schockierten Anpu wichen zurück und ließen Scathach mit Gilgamesch allein.

»Schön, dich wiederzusehen, alter Freund. Du warst hervorragend.«

Der Krieger schaute sie aus seinen blauen Augen erstaunt an. »Kenne ich dich?«

Der schreckliche Kriegsschrei der Anpu ertönte und eine ganze Horde griff gleichzeitig an.

»Sie dürfen auf keinen Fall hinein«, rief Gilgamesch. Er stöhnte, als ein Khopesh in seinen Brustpanzer krachte. »Abraham bringt das Buch zu Ende.«

Scathachs Schwert trennte ein anderes Khopesh in der Mitte durch und griff dann den Träger an. Der Anpu stieß einen spitzen Schrei aus und ging in Deckung.

»Bist du allein gekommen?«, fragte Gilgamesch.

Im selben Moment ließen sich vier Gestalten an den Seilen herab und stürzten sich in das Gemenge.

Die Kriegerin lächelte. »Ich habe ein paar Freunde mitgebracht.«

Prometheus schnappte sich zwei Anpu, mit jeder Hand einen, und warf sie von der Plattform, während Johanna mit ihrer unvorstellbar schnellen Schwertführung einen über den Rand trieb. Saint-Germain kämpfte mit zwei langen Dolchen. Er war so schnell und gewandt, dass es unmöglich war, seine Angriffe abzuwehren.

Prometheus kämpfte sich mit seinen hammerharten Fäusten zu Gilgamesch durch und stellte sich neben ihn. »Mein Freund«, begrüßte er ihn. »Bist du verletzt?«

»Nicht der Rede wert. Nur Kratzer.«

Scathach trieb die letzten Anpu über den Rand der Plattform. »Lasst uns hier verschwinden und …«, begann sie, doch Prometheus riss sie zu Boden – nur den Bruchteil einer Sekunde bevor drei Tonbogiri-Kugeln über ihrem Kopf in die Kristallwand einschlugen. »… hineingehen«, vollendete sie ihren Satz.

Während rings um sie herum Tonbogiri-Kugeln durch die Luft sirrten und mit Gekreische von der Plattform abprallten, drängten sie in den Turm.

Eine schöne junge Frau in einer weißen Keramikrüstung, in jeder Hand ein Khopesh, erwartete sie. Geschmeidig ging sie in Kampfstellung, als sie die Fremden durch die Tür schlüpfen sah. Erst als auch Prometheus und Gilgamesch kamen, entspannte sie sich.

»Darf ich euch meine Schwester Tsagaglalal vorstellen«, sagte Gilgamesch stolz. »Hätte ich die Anpu nicht aufhalten können, wäre sie die Letzte in der Verteidigung für Abraham gewesen.«

»Ich wusste, du würdest kommen, Prometheus«, sagte die junge Frau mit den großen grauen Augen. Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Ich bin froh, dass es dir gut geht«, flüsterte sie.

»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.« Er wies mit dem Kinn auf eine Tür, die vom Flur abging. »Ist er bald fertig?«

»Er ist bei den letzten Zeilen«, antwortete Tsagaglalal.

Scathach riskierte einen schnellen Blick nach draußen. »Shakespeare ist da oben leichte Beute.«

Während sie gegen die Anpu gekämpft hatten, war die Vimana-Flotte immer näher gekommen. Das Rukma mit Shakespeare am Schaltpult geriet unter ständigen Beschuss. An dem Flugzeug waren schon überall Einschlagstellen zu erkennen, und während sie es beobachteten, gab es plötzlich einen Knall, und aus der linken Tragflächenspitze trat schwarzer Rauch aus. Das Flugzeug neigte sich gefährlich weit zur Seite.

Palamedes wollte sofort losstürmen. »Wir müssen –« Doch Prometheus und Saint-Germain erwischten ihn gerade noch und zogen ihn wieder in den Flur. Genau an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, schlugen etliche Tonbogiri-Kugeln in den Türrahmen ein und zerfetzten ihn.

Plötzlich bewegte sich etwas auf dem Rukma und Shakespeare erschien auf dem Kuppeldach. Während ringsherum Tonbogiri-Kugeln ganze Stücke aus dem Flugzeug rissen, kroch er auf die schräg stehende Tragfläche hinaus. Dann breitete er die Arme aus und rutschte von seinem Flugzeug direkt auf das darunter schwebende Rukma. Er schlüpfte in die Öffnung und erschien wenige Augenblicke später wieder mit dem Tonbogiri-Gewehr des Anpu-Schützen.

»Er hat in seinem ganzen Leben noch kein Gewehr bedient«, sagte Palamedes. »Er verabscheut Waffen.«

Noch während Palamedes sprach, konnte die Gruppe beobachten, wie Shakespeare das Tonbogiri-Gewehr in Anschlag brachte und von den Rückschlägen dreimal durchgeschüttelt wurde.

Zwei der angreifenden Vimanas gerieten außer Kontrolle und jedes schleuderte in ein weiteres Vimana hinein. Vier brennende Flugobjekte trudelten ins Wasser.

»Aber er war schon immer für eine Überraschung gut«, fügte Palamedes hinzu.

Shakespeare schoss noch zweimal und zerstörte zwei weitere Flugapparate. Einer davon krachte in den Turm und das ganze Gebäude tönte wie eine Glocke.

Doch inzwischen hatten immer mehr Vimanas den Turm erreicht. Die größeren Kampf-Rukmas und die länglichen Vimanas positionierten sich in der ersten Reihe.

»Sie sind bestimmt bewaffnet«, vermutete Prometheus. »Sie schießen ihn ab und nehmen dann uns unter Beschuss.«

»Wir könnten zu den Seilen rennen – uns in das Vimana schwingen und verschwinden«, schlug Scathach vor.

»Sie würden uns beim Hinaufklettern erwischen. Außerdem kann Abraham nicht klettern.«

Saint-Germain riskierte wieder einen Blick nach draußen. Shakespeare hatte die Schützen vertrieben. »Ich glaube, wir bekommen gleich ein neues Problem.«

Sie drängten sich um die Tür und blickten hinaus in den dunkler werdenden Himmel. Ein weiteres Vimana war angekommen, eine schmale Maschine aus Kristall, die blitzblank und neu aussah. Die untergehende Sonne ließ eine Seite in einem warmen Goldton erscheinen, während die andere fast vollkommen transparent blieb.

»Wer ist jetzt der Neue?«, fragte Scathach. »Der Flottenkommandant?«

Prometheus runzelte die Stirn. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Als Besitzer kommt nur jemand aus einem der regierenden Clans infrage – Aten vielleicht oder Isis. Aber Aten würde so etwas nicht tun: Er würde nicht gegen Abraham vorgehen. Andererseits unterstehen die Anpu Anubis und dieses Monster mit dem Hundekopf steht ziemlich unter der Fuchtel seiner Mutter. Er tut, was sie ihm sagt. Aber egal wer es ist«, er schüttelte den Kopf, »etwas Gutes können wir von ihm nicht erwarten.«

Eine Reihe winziger Punkte leuchteten am Rand des kristallenen Luftschiffs auf, und ein Dutzend Vimanas, einschließlich einiger Rukmas, gingen in Flammen auf.

»Ich könnte mich aber auch täuschen«, gab Prometheus zu.

Das Kristall-Vimana rauschte vorbei, und alle konnten sehen, wer es flog. Marethyu winkte zum Gruß mit seinem Haken. Dann raste er mitten in die Vimana-Flotte hinein. Fast augenblicklich gingen ein Dutzend Luftschiffe in Flammen auf und in der Flotte brach Panik aus. Bei dem Versuch zu entkommen, krachte ein Vimana ins andere. Die Luftschiffe, die Waffen an Bord hatten, versuchten, sie auf das Kristall-Vimana zu richten, doch es war zu schnell, und sie trafen nur ihre eigenen Flugapparate.

Marethyu flitzte kreuz und quer durch die Flotte. Er nahm die Rukma-Vimanas und die länglichen Schiffe ins Visier und brachte sie brennend zum Absturz.

Als die Flotte sich schließlich zerstreute, war nicht einmal die Hälfte davon übrig. Keines der größeren Schiffe war noch in der Luft. Das Meer und die Felsen um den Turm herum waren gesprenkelt mit glänzenden Metallteilen und dunklen Trümmern.

Marethyu lenkte das Kristall-Vimana über die Plattform und landete. Er blieb darin sitzen und rührte sich nicht.

Scathach war als Erste draußen. Sie lief im Zickzack um die vielen Metall- und Keramikteile der abgeschossenen Rukmas herum zu seinem Luftschiff. Als sie es erreicht hatte, blickte sie hinein, nickte dann und wandte sich ab. Sie hatte gesehen, dass Marethyu die rechte Hand über die Augen gelegt hatte. Seine Schultern zuckten. Und sie wusste, dass er um die Toten weinte und um die Zerstörung, die er angerichtet hatte. Es war nötig gewesen, das wusste sie, und er hatte ihnen ohne allen Zweifel das Leben gerettet. Doch in diesem Augenblick, als sie ihn weinen sah um das, was er getan hatte, vertraute sie ihm mehr, als sie es in der Vergangenheit je getan hatte. Denn es bewies, dass er, was immer er war – wer immer er war –, seine Menschlichkeit noch nicht verloren hatte.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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