KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

Anubis berührte das Kontrollfeld des Vimanas. Das runde Fluggerät legte sich sanft in die Kurve und blieb so im Schatten der aufziehenden Abendwolken. Unter sich, sehr weit unter sich, sah er seinen Bruder Aten auf dem Dachgarten des Sonnenpalastes mit dem Einhändigen hin und her gehen. »Ich würde ein kleines Vermögen dafür geben, wenn ich hören könnte, worüber sie reden«, sagte er zu der vermummten Gestalt neben sich.

»Sie sollten überhaupt nicht miteinander reden«, knurrte eine Stimme unter dem Stoff hervor.

»Was soll ich tun, Mutter?«

Die Gestalt beugte sich vor und das Licht der Stadt unter ihnen brachte ihre gelben Augen zum Glühen. Es ließ eine haarige Schnauze erkennen, spitze, dreieckige Ohren und lange, zitternde Schnurrhaare. Der Wandel hatte sich bei Bastet, der Mutter von Aten und Anubis, besonders grausam ausgewirkt. Während sie immer noch den Körper einer schönen jungen Frau hatte, waren Kopf und Hände die einer riesigen Katze. »Manchmal glaube ich, dein Vater hat die falsche Person zu seinem Nachfolger bestimmt«, zischte sie. »Du hättest es werden sollen.«

Anubis senkte den Kopf. Die Veränderungen an den Kinn- und Kieferknochen ließen ein Lächeln nicht zu.

Eine schmale Katzenpfote zeigte auf den Mann mit der Hakenhand. »Ich verstehe nicht, wie dein Bruder es erträgt, mit dieser fiesen Kreatur auch nur in einem Raum zu sein.«

»Weiß Aten überhaupt, was der Mann mit der Hakenhand ist?«, fragte Anubis.

Bastet fauchte. »Er muss es wissen. Aten hat Geschichte studiert. Er weiß, dass jede legendäre Person – ob Erdenlord, Erstgewesener oder Archon – von ihm spricht, von dem Mann mit der Hakenhand, dem Zerstörer. Die Erdenfürsten haben ihn Moros genannt und die Erstgewesenen kannten ihn als Mot. Bei den Archonen dagegen hieß er Oberour Ar Mao. So sind wir auf unseren Namen für ihn gekommen: Marethyu.«

»Tod.«

»Tod«, bestätigte Bastet. »Und er ist gekommen, um uns zu vernichten. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Selbst Abraham und Kronos, diese beiden Dummköpfe, die sich überall einmischen müssen, sind sich darin einig.«

»Was soll ich tun?«, fragte Anubis noch einmal. Er dirigierte das Vimana weiter nach unten und folgte dann Aten und dem Mann mit der Hakenhand, als sie den Balkon betraten, der um den Dachgarten herumführte.

Bastets Krallen bohrten sich in die glatte Wand des Vimanas und hinterließen tiefe Spuren in dem praktisch unzerstörbaren Keramikmaterial. »Es wäre eine Schande für deinen Vater. Ich bin froh, dass er nicht erleben muss, wie sein Sohn mit dieser Kreatur spricht.« Sie schüttelte den großen Kopf. »Ich habe mitgeholfen, diese Insel vom Meeresboden zu lösen und zu heben. Zusammen mit deinem Vater habe ich Danu Talis jahrtausendelang regiert. Ich werde nicht zulassen, dass die Stadt wegen der Dummheit deines Bruders zerstört wird.« Speichelfäden tropften von Bastets Fängen. »Vom heutigen Tag an ist Aten nicht mehr mein Sohn.« Sie drehte den gewaltigen Katzenkopf und blickte in Anubis’ schwarze Augen. »Hol Danu Talis zurück. Ich werde dich unterstützen, wenn du Anspruch auf den Thron erhebst. Ich rede mit Isis und Osiris. Sie mögen deinen Bruder nicht. Auch sie werden sich auf deine Seite stellen.«

Anubis knurrte. »Sie sind nie am Hof. Wer weiß schon, wem gegenüber sich meine Tante und mein Onkel zur Loyalität verpflichtet fühlen?«

»An der Loyalität von Isis und Osiris hat es nie Zweifel gegeben. Im Gegensatz zu deinem Bruder wussten sie immer, dass sie ihrer Familie und dieser Insel gegenüber eine Verpflichtung haben«, fauchte Bastet. »Jeder für sich ist schon stark und gemeinsam verfügen sie über ganz außergewöhnliche Kräfte. Ich habe einige der neuen Schattenreiche gesehen, mit deren Bau sie begonnen haben. Eine wahre Pracht! Und obwohl deine Tante und dein Onkel in meinem Alter sind – Isis ist sogar ein wenig älter –, haben sie das Glück, dass der Wandel bei ihnen noch nicht eingesetzt hat. Er sieht gut aus und sie ist immer noch eine Schönheit.« Es gelang Bastet nicht, die Bitterkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Wenn Isis und Osiris mich unterstützen, wird der Rest der Älteren und Großen Älteren sich ihnen anschließen«, überlegte Anubis laut. »Aber warum sollten die beiden meinen Anspruch auf den Thron befürworten?«

»Sie haben selbst keine eigenen Kinder. Nach Aten bist du ihr ältester Neffe. Und es hat ihnen nie genügt, nur einen Kontinent in einem Reich zu regieren. Schon vor Jahrtausenden haben sie verkündet, dass sie eines Tages über eine Myriade von Welten herrschen würden, und wenn sie diese Welten selbst erschaffen müssten.« Bastet zeigte nach unten. »Nimm Marethyu gefangen. Du hast es schon einmal getan und kannst es wieder tun. Um auch deinen Bruder festzunehmen, musst du schnell handeln, aber die Anpu hören nur auf dich. Dann schickst du ein paar Anpu nach Murias und lässt Abraham und alle, die auf seiner Seite stehen, festnehmen.«

»Und was mache ich dann, Mutter?«

Bastet blinzelte überrascht. Sie wandte das Gesicht nach Norden, wo sich das Vulkangefängnis Huracan über der Insel erhob. »Ganz klar: Du musst sie alle – Aten, Marethyu, Abraham und die ausländischen Gefangenen – ins Feuer des Vulkans werfen.«

Anubis nickte. »Und wann soll ich das tun?«

Wieder zeigte Bastet nach unten. Aten hatte Marethyus Hand ergriffen, um irgendeine Abmachung zu besiegeln, die sie gerade getroffen hatten. »Jetzt wäre eine gute Zeit.« Ihre Krallen schlossen sich um die zu Pfoten verformten Hände ihres Sohnes und drückten so fest zu, dass Blut floss. »Bring sie um, Anubis. Bring sie alle um. Dann gehört Danu Talis dir.«

»Und dir, Mutter«, flüsterte Anubis und versuchte, ihr seine zerkratzten Hände zu entziehen.

»Und mir«, bestätigte sie. »Wir werden bis in alle Ewigkeit darüber herrschen.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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