KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG

Dr. John Dee stand mitten im Zellenblock und brüllte seine Wut hinaus. Hinter ihm stand eine zerfledderte und schmutzige Sphinx und beobachtete ihn voller Abscheu.

Virginia und Josh liefen zurück in den Block, und Dee wirbelte herum, als er sie hörte. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Unbrauchbar!«, brüllte er. »Unbrauchbar, unbrauchbar, unbrauchbar!« Er warf eine Handvoll Papierschnipsel in die Luft. Wie Konfetti segelten sie zu Boden.

»Was ist unbrauchbar?«, fragte Virginia. Sie bemühte sich um einen ruhigen Ton, ließ aber die Sphinx nicht aus den Augen. Die Kreatur hatte sie ebenfalls im Blick und ließ die Zunge hin und her schnellen. Virginia legte eine Hand auf ihre Flöte. Die Zunge verschwand.

Josh hob die beiden Teile einer durchgerissenen Seite auf und hielt sie nebeneinander. »Sieht aus, als stammten sie aus einem ägyptischen Grab.« Er drehte die Seite um 180 Grad. »Irgendwie kommen sie mir bekannt vor. Möglich, dass mein Dad Fotos von etwas Ähnlichem in seinem Arbeitszimmer hängen hat.«

»Sie sind aus der Pyramide des Unas, der vor über viertausend Jahren in Ägypten regiert hat«, sagte Machiavelli in der Zelle direkt hinter Dee. »Früher hießen sie Pyramidentexte, aber heute nennen wir sie …«

»… das Totenbuch«, vollendete Josh den Satz. »Mein Dad hat tatsächlich Bilder davon. Wolltest du damit die Kreaturen wecken?«

Machiavelli hatte die Hände um die Stäbe seiner Zellentür gelegt. Er lächelte, sagte jedoch nichts.

Virginia baute sich vor Dee auf, blickte ihm in die Augen und versuchte, ihn mit der Kraft ihres Willens zu beruhigen. »Du wolltest mithilfe dieser Seiten also die Kreaturen wecken. Was ist geschehen? Erzähle es mir.«

Dee zeigte mit dem Finger auf die nächstgelegene Zelle. Sie war leer. Virginia trat näher und erst da entdeckte sie das Häufchen weißen Staub in einer Ecke.

»Ich weiß noch nicht einmal, was in der Zelle war. Irgendeine geflügelte Missgeburt. Wahrscheinlich eine Riesenvampirfledermaus. Ich habe die Worte gesprochen, das Vieh hat die Augen geöffnet und ist sofort zerbröselt.«

»Hast du vielleicht ein falsches Wort gesagt?« Virginia nahm Josh einen Papierschnipsel aus der Hand und betrachtete ihn. »Sieht ziemlich kompliziert aus, wenn du mich fragst.«

»Ich spreche fließend ägyptisch«, fauchte Dee.

»Stimmt«, bestätigte Machiavelli. »Das muss ich ihm zugutehalten. Und seine Aussprache ist ebenfalls sehr gut.«

Dee drehte sich rasch zu Machiavelli um. »Sag mir, was schiefgelaufen ist.«

Machiavelli schien darüber nachzudenken. Nach einer Weile schüttelte er jedoch den Kopf. »Das werde ich lieber nicht.«

Dee wies mit dem Daumen auf die Sphinx. »Im Moment absorbiert sie nur deine Aura und stellt sicher, dass du keinen Zauber gegen mich wirken kannst. Sie hätte aber sicherlich nichts dagegen, dich ganz zu fressen. Stimmt doch, oder?«, fragte er und schaute der Sphinx dabei in das schöne Gesicht.

»Oh, ich liebe Italienisch«, krächzte sie. Dann kam sie hinter Dee vor und senkte den Kopf, um in die gegenüberliegende Zelle schauen zu können. »Gib mir den hier«, verlangte sie und wies mit dem Kinn auf Billy the Kid. »Er kommt als leckere Zwischenmahlzeit gerade recht.« Ihre lange gespaltene Zunge zuckte in Billys Richtung. Der griff danach, zog daran und ließ sie dann zurückschnellen wie ein Gummiband. Die Sphinx schrie auf, hustete und zeterte.

Billy grinste. »Auf dem Weg in deinen Bauch erwürge ich dich, darauf kannst du dich verlassen.«

»Könnte schwierig werden ohne Arme«, lallte die Sphinx. Sie rollte die Zunge aus und wieder ein.

»Dann sorge ich wenigstens dafür, dass du Magendrücken kriegst.«

Dee sah Machiavelli an. »Sag es mir«, verlangte er erneut. »Oder ich verfüttere deinen amerikanischen Freund der Bestie.«

»Sag ihm nichts!«, brüllte Billy.

»Das ist einer der seltenen Momente, in denen ich mit Billy übereinstimme. Ich werde dir nichts sagen.«

Der Magier blickte von einer Zellenwand zur anderen, dann zurück zu Machiavelli. »Was ist nur los mit dir? Du warst einmal einer der besten Agenten der Dunklen des Älteren Geschlechts in diesem Schattenreich. Es gab Zeiten, da habe selbst ich neben dir ausgesehen wie ein Amateur.«

»Du warst immer ein Amateur, John.« Machiavelli lächelte. »Schau dich doch an. Du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten? Welche Schwierigkeiten? Ich habe keine Schwierigkeiten.« Dees Augen zuckten plötzlich wild hin und her und er begann zu kichern. »Du hast doch keine Ahnung, was ich vorhabe. Ich will mich ja nicht zu sehr loben, aber mein Plan ist genial.«

»Deine Arroganz ist noch mal dein Untergang, John«, sagte Machiavelli. Damit drehte er sich um und legte sich auf die schmale Pritsche.

»Ich bringe den Gesetzlosen um«, verkündete Dee unvermittelt. »Ich verfüttere ihn an die Sphinx.«

Machiavelli blickte an die Decke und rührte sich nicht auf seiner Pritsche.

»Willst du, dass ich es tue?«, schrie Dee ihn an. »Willst du, dass ich Billy the Kid umbringe?« Er lehnte sich an die Gitterstäbe und schaute zu Machiavelli hinein. »Wie? Keinen Versuch, deinen Freund in letzter Minute zu retten?«

»Ich kann Billy retten und Tausende zum Tod verurteilen. Oder ich kann Billy zum Tod verurteilen und Tausende retten«, erwiderte der Italiener leise. »Was soll ich tun, Billy? Was meinst du?«

Billy trat an die Gitterstäbe seiner Zelle. »In der Schule – ich bin tatsächlich eine Weile in die Schule gegangen – haben sie uns eine Redensart beigebracht, die bei mir hängen geblieben ist. ›Es ist besser, ein Mann stirbt für das Volk, als dass die ganze Nation zugrunde geht.‹«

Niccolò Machiavelli nickte. »Das gefällt mir. Doch, das gefällt mir sogar sehr.« Darauf wandte er sich von Dee ab. »Du hast deine Antwort.«

Dee drehte sich zu der Sphinx um. »Er gehört dir.«

Die lange schwarze Zunge der Kreatur schoss aus ihrem Mund und wickelte sich um Billys Hals. Mit einem scharfen Ruck zog sie ihn an die Stäbe. »Mittagessen«, schnarrte sie.

Ein einzelner reiner Ton erklang in dem Zellenblock. Die Sphinx brach zusammen und blieb als unschöner Fell- und Federhaufen auf dem Boden liegen.

»Nein«, flüsterte Virginia.

Billy taumelte in die Zelle zurück. Er rang nach Luft. Um seinen Hals lief jetzt ein dicker roter Streifen.

Dee war sprachlos vor Zorn. Er klappte den Mund auf und zu, doch außer einem Zischen kam nichts heraus.

»Sei vernünftig, John«, sagte Virginia. »Ich kenne Billy schon sehr lange und wir haben ein paar tolle Abenteuer miteinander erlebt. Er ist für mich das, was einem Freund am nächsten kommt. Wenn er stirbt, und das wird er früher oder später, weil er mehr als dämlich sein kann«, fügte sie mit einem finsteren Blick auf den Amerikaner hinzu, »sollte es einigermaßen würdevoll geschehen. Ich will nicht, dass er an dieses … an dieses Ding verfüttert wird.«

»Danke«, keuchte Billy.

»Bitte. Ich hab was gut bei dir.«

»Ich werde dran denken.«

Virginia wandte sich wieder an Dee. »Ich schlage dir einen Deal vor.«

»Was willst du?«

»Billys Leben«, antwortete sie ruhig.

»Hast du vergessen, mit wem du es zu tun hast?«, fauchte Dee.

»Hast du es vergessen?«, fragte sie leise zurück.

Dr. John Dee tat einen tiefen, zittrigen Atemzug. Er trat einen Schritt zurück, stieß gegen den massigen Körper der Sphinx und plumpste schwer vor ihr auf den Boden. Ein intensiver Moschusgeruch umwehte ihn. »Einen Deal«, hustete er.

»Einen Deal.«

»Was hast du mir denn anzubieten?«

Virginia ließ die Flöte zwischen den Fingern wirbeln. Die schnelle Bewegung brachte ein paar Töne hervor. Schwer hingen sie in der Luft.

Und dann raschelte es in sämtlichen Zellen.

Mit einem Satz war Dee auf den Beinen. Er lief von einer Seite des Flurs auf die andere. Alle Kreaturen regten sich. »Du kannst das? Du kannst sie aufwecken?«

Virginia drehte die Flöte weiter zwischen den Fingern. »Natürlich. Normalerweise lege ich Dinge schlafen, doch dieselbe Melodie, nur umgekehrt, weckt sie wieder auf. Hier wurde offensichtlich ein einfacher Schlafzauber angewandt.«

Josh ging zur nächstgelegenen Zelle und lugte hinein. Etwas mit Fell, Federn und Schuppen lag zusammengeringelt auf dem Boden. Plötzlich ging ein Ruck durch das Wesen.

»Tu es nicht, Virginia«, bat Billy flehentlich.

»Halt die Klappe, Billy.«

»Denk an die Menschen in San Francisco.«

»Ich kenne keinen einzigen Menschen in San Francisco«, entgegnete Virginia. Sie überlegte kurz. »Doch, ich kenne welche, und ich mag sie nicht. Aber dich mag ich, Billy, und ich werde nicht zulassen, dass du als Mittagessen für ein zerfleddertes Löwenmonster-Dingsda endest.«

»Es ist eine Sphinx«, warf Machiavelli ein. Er stand wieder an den Stäben seiner Zelle. »Virginia Dare«, begann er vorsichtig, »ich bewundere dich ungemein für das, was du für deinen Freund tun willst. Aber ich bitte dich inständig, an die größeren Zusammenhänge zu denken.«

»Oh, hier täuschst du dich aber, Italiener«, warf Dee rasch ein. »Virginia denkt sehr wohl an die größeren Zusammenhänge. Nicht wahr, meine Liebe?«

Virginia lächelte. »Der Doktor hat mir die Welt versprochen«, antwortete sie leise. »Um genau zu sein, hat er mir alle Welten versprochen.«

Damit legte sie ihre Flöte an die Lippen. Salbeiduft zog durch den Zellenblock, als eine wunderschöne, zarte, engelsgleiche Melodie von den Wänden widerhallte.

Josh spürte, wie Clarent im Takt zu dem uralten Rhythmus vibrierte und pulsierte. Und dann begann auch Durendal, das Schwert, das noch auf seinem Rücken in der Scheide steckte, wie ein zweites Herz zu schlagen.

Und Josh spürte, wie ein schrecklicher Hunger und gleichzeitig eine wilde Wut ihn durchströmten. Sie fuhren durch seinen Körper, bis sich ein roter Nebel vor seine Augen schob und er die Welt wie durch einen purpurroten Film sah. Seine Aura loderte auf. Das Gold war von blutroten Streifen durchzogen. Von den Stäben vor den Zellen stoben Funken auf, sie zischten und knisterten im Takt zu Virginias gespenstischer Musik.

Und dann erwachten sämtliche Kreaturen in den Zellen.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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