KAPITEL ACHTZEHN

Das ist was total anderes als Auto fahren.« Josh biss die Zähne zusammen und umklammerte das Steuerrad, als das kleine Rennboot, das Dee im Jachthafen von Treasure Island gemietet hatte, in die nächste Welle krachte und es ihn aus dem harten Vinylsitz hob.

Virginia Dare ignorierte seinen Protest. »Schneller, schneller!«, drängte sie. Sie saß neben ihm auf dem Platz des Copiloten. Ihr langes Haar war voller Wassertropfen und flatterte hinter ihr her. Als sie sich zu Josh umdrehte und ihn mit glänzenden Augen anschaute, war er überrascht, wie jung sie aussah.

»Nein«, krächzte Dee vom hinteren Teil des Bootes. Der Magier hing bleich und schwitzend über dem Heck. Nachdem Josh das Boot vorsichtig aus dem Schutz des Jachthafens in das aufgewühlte Wasser der Bucht manövriert hatte, war er praktisch sofort seekrank geworden. »Langsamer, langsamer«, bat er kläglich.

Josh musste zugeben, dass es ihm ein ganz klein wenig Vergnügen bereitete, am längeren Hebel zu sitzen. Er blickte Virginia an und sie grinsten beide. Dann wies Virginia mit dem Kinn auf den Steuerknüppel. Josh drückte ihn nach vorn und die beiden starken Außenbordmotore heulten auf und wühlten das Wasser direkt neben Dees Kopf zu weißem Schaum auf. Sie hörten das erstickte Quieken des Magiers, und als sie sich wieder zu ihm umdrehten, war er bis auf die Haut durchnässt und blickte sie finster an.

»Das ist nicht witzig. Überhaupt nicht witzig. Und ich gebe dir die Schuld, Virginia.«

»Ich dachte, eine kleine Dusche würde dich aufwecken.« Sie wandte sich an Josh. »Als Seemann war er schon immer eine Niete. Das war einer der Gründe, weshalb er die spanische Armada verpasst hat. Und einen empfindlichen Magen hatte er auch schon immer«, fügte sie hinzu. »Was es umso erstaunlicher macht, dass er ausgerechnet Schwefelgeruch für sich ausgewählt hat.«

»Ich mag den Geruch«, murmelte Dee von hinten.

»Moment mal!« Josh vergaß für einen Augenblick den seekranken Magier. »Man kann sich seinen Auraduft selbst aussuchen?« Das hörte er zum ersten Mal. Er fragte sich, ob er seinen vielleicht ändern sollte.

»Selbstverständlich. Ausgenommen diejenigen mit einer goldenen oder silbernen Aura. Sie haben keine Wahl. Seit undenklichen Zeiten haben sie anscheinend immer denselben Geruch.« Sie drehte sich wieder zu Dee um. Das Haar wehte ihr um den Kopf, und eine Strähne blieb in ihrem Mundwinkel hängen, während sie sprach. »Wie hast du es geschafft, das Boot hier zu mieten?«

»Ich habe höflich gefragt«, nuschelte er. »Wenn ich will, kann ich sehr überzeugend sein.« Er blickte hinüber zum Jachthafen von Treasure Island, wo ein älterer Herr mit einer weißen Baseballkappe auf dem Anlegesteg saß und verdutzt ins Wasser blickte. Nach einer Weile schüttelte der Mann den Kopf, stand auf und ging langsam zum Clubhaus zurück.

»Wir haben das Boot doch nicht gestohlen, oder?«, fragte Josh. Bei dem Gedanken war ihm nicht ganz wohl.

»Wir haben es geborgt.« Dee grinste. »Er hat mir die Schlüssel freiwillig gegeben.«

»Aber du hast doch hoffentlich nicht wieder deine Aura eingesetzt?«, fragte Virginia besorgt. »Die würde alles auf den Plan rufen –«

»Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«, unterbrach Dee sie ärgerlich. Dann musste er sich allerdings wieder über den Bootsrand lehnen, weil ihm erneut übel wurde.

Virginia grinste und blinzelte Josh zu. »Gar nicht so einfach, den Boss heraushängen zu lassen, wenn man sich übergeben muss, wie?«

»Ich hasse dich, Virginia Dare«, sagte Dee.

»Und ich weiß, dass du das nicht wirklich ernst meinst«, erwiderte sie leichthin.

»Oh doch, das meine ich ernst.«

Virginia tippte Josh auf die Schulter und zeigte auf die Küste zu seiner Linken. »Halte dich immer dicht an Treasure Island. Wir folgen der Küste bis zur Nordspitze. Von dort sollten wir Alcatraz dann in der Bucht liegen sehen.«

Bevor Josh etwas darauf erwidern konnte, tauchte plötzlich ein riesiger Pier wie eine Betonwand direkt vor ihnen auf. Er riss das Steuer nach rechts, übersteuerte und das Boot beschrieb eine scharfe Kurve. Fast wäre Dee über Bord gegangen. Wasser schwappte ins Boot. Der Magier suchte krampfhaft Halt, rutschte jedoch aus und landete in einer öligen Pfütze.

Virginia lachte schallend.

»Du vergisst, dass ich keinen Sinn für Humor habe«, fauchte Dee.

»Ich schon.« Virginia wandte sich wieder an Josh und wies geradeaus. »Halte dich rechts und fahre um den Pier herum. Dann ziehst du wieder nach links und hältst dich dicht an der Küste. Aber nicht zu dicht«, fügte sie hinzu. »Es ist gut möglich, dass sich ein paar Felsbrocken gelöst haben. Treasure Island ist nämlich eine künstliche Insel. Da besteht immer die Gefahr, dass sie auseinanderbricht. Ich habe zugeschaut, wie sie in den 1930er-Jahren gebaut wurde. Damals lag sie noch höher als heute. Die ganze Insel senkt sich langsam ab. Beim nächsten größeren Erdbeben wird sie wahrscheinlich zerspringen.«

Josh betrachtete die felsige Küste. Die meisten Gebäude dort schienen von der Industrie genutzt zu werden und viele sahen ziemlich heruntergekommen aus. »Sieht verlassen aus. Wohnt hier eigentlich noch jemand?«

»Ja. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar Freunde hier. Sie wohnen auf der anderen Seite der Insel.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt Freunde hast«, grummelte Dee.

»Im Gegensatz zu dir, Doktor, bin ich ein guter Freund«, erwiderte Virginia, ohne sich umzudrehen. Dann fuhr sie fort: »Die Insel war ein Marinestützpunkt, bis dieser in den späten 90er-Jahren aufgelöst wurde. Danach wurden etliche Filme und ein paar Fernsehserien hier gedreht.«

»Warum heißt sie eigentlich Treasure Island, also Schatzinsel?«, wollte Josh wissen. »Lag hier mal ein Schatz?« Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte er bei der Vorstellung laut gelacht, doch im Augenblick war er bereit, fast alles zu glauben.

Virginias Lachen war ansteckend. Josh stellte fest, dass sie ihm immer sympathischer wurde. »Nein. Sie wurde nach dem Buch von Robert Louis Stevenson benannt. Stevenson lebte ungefähr ein Jahr in San Francisco, bevor er seinen Roman ›Die Schatzinsel‹ schrieb.« Als sie die Nordspitze der Insel umrundeten, erhob sich Virginia und blickte zurück. »Wenn du mich fragst, war die Namensgebung ein Witz. Da ist eine Insel, gebaut auf Abfall und Schrott, und sie wird ›Schatzinsel‹ genannt.« Sie wandte sich wieder nach vorn und zeigte auf ein überraschend kleines Felsengebilde mitten in der Bucht. »Und da drüben liegt Alcatraz. Halte einfach immer darauf zu.«

Josh grunzte, als das Boot erneut auf eine Welle traf. Es wurde aus dem Wasser gehoben und fiel mit solcher Wucht zurück, dass er fürchtete, seine Knochen würden aus den Gelenken springen. »Die Insel ist weiter weg, als ich dachte. Ich war noch nie so weit von der Küste entfernt. Und ein Boot habe ich erst recht noch nie gesteuert.«

»Neue Erfahrungen kann man nie genug sammeln«, sagte Virginia.

»Ich bin ein wenig nervös«, gab er zu.

»Weshalb?« Virginia setzte sich wieder auf den Vinylsitz und schaute ihn neugierig an.

Unter ihrem forschenden Blick fühlte Josh sich plötzlich unbehaglich. »Na ja«, antwortete er nach einer kleinen Pause, »es kann schließlich alles Mögliche passieren. Das Boot könnte sinken, der Motor könnte den Geist aufgeben oder …«

»Oder was? Soll ich dir was sagen? Meiner Erfahrung nach vergeuden die Humani zu viel Zeit damit, sich über Dinge Gedanken zu machen, die nie eintreffen werden. Ja, das Boot könnte sinken … wird es aber wahrscheinlich nicht. Der Motor könnte abdrosseln … aber ich bezweifle es. Genauso gut könnten wir vom Blitz getroffen werden oder –«

Im Heck des Bootes rappelte sich Dr. John Dee plötzlich auf. »Oder von Meerjungfrauen verspeist«, ergänzte er nervös. »Mir ist gerade eingefallen, dass die Insel ringsherum von Nereiden bewacht wird.« Er hüstelte verlegen. »Und ich habe ihnen Anweisung gegeben, nichts näher als fünfzig Fuß ans Ufer herankommen zu lassen.«

Virginia wirbelte herum. »Die Insel ist umgeben von Meerjungfrauen?«

»Der Alte Mann aus dem Meer ist auf Alcatraz. Er hat die wilden Nereiden mitgebracht«, erklärte Dee. »Ich muss dringend Machiavelli erreichen. Er muss Nereus sagen, dass wir auf dem Weg zu ihnen sind.« Dee zog sein Handy aus der Tasche, doch als er es aufklappte, floss Wasser heraus. Sofort zog er das Telefon auseinander, schüttelte die Batterie heraus und wischte sie an seinem schmutzigen Hemd ab.

Josh blickte Virginia an. »Ich habe keine Ahnung, wovon er eben geredet hat.«

»Nereus, der Alte Mann aus dem Meer, ist ein besonders übler Vertreter des Älteren Geschlechts«, erklärte Virginia. »Von der Taille an aufwärts sieht er aus wie ein Mensch, unten ist er ein Krake. Er hat sich die tieferen Teile der Ozeane unter den Nagel gerissen. Das größte seiner Unterwasser-Schattenreiche berührt die Erde ungefähr an der Stelle, die als Bermudadreieck bekannt ist.«

»Wo immer wieder Schiffe verschwinden?«, fragte Josh.

»Genau dort. Die Wände zwischen seiner Welt und dieser hier sind brüchig geworden und gelegentlich gleiten Schiffe oder Flugzeuge aus dieser Welt in seine oder irgendein gruseliges Seeungeheuer aus seiner Welt schlängelt sich in das Schattenreich Erde hinein. Die Nereiden sind seine Töchter.« Virginia lächelte. »Lass dich von ihrem Lächeln oder ihren Liedern nicht dazu verleiten, zu nah ans Wasser zu gehen. Sie sind Fleischfresser.«

Dee setzte eilig sein Handy wieder zusammen, schaltete es ein – und schleuderte es genervt ins Wasser. »Nichts. Ich habe keine Möglichkeit, mit Machiavelli Kontakt aufzunehmen.«

Virginia brachte ihre Flöte zum Vorschein und ließ sie um ihre Finger kreisen. »Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, Doktor. Ich kann sie doch mit meiner Flöte ganz leicht –«

Bevor sie den Satz beenden konnte, kam eine Frau mit grüner Haut, grünem Haar und einem Fischschwanz aus dem Wasser geschossen, schnappte sich die Flöte und tauchte auf der anderen Seite des Bootes wieder ins Meer ein.

Virginia blickte auf ihre leeren Hände. Ihr Schrei war grauenhaft. Sie streifte ihre rußgeschwärzte Jacke und die Schuhe ab, hechtete über den Bootsrand und verschwand in den Wellen, ohne eine Spur zu hinterlassen.

»Doktor!«, brüllte Josh über den Lärm des Motors. Er hob den linken Arm und zeigte aufs Wasser. Zum Glück zitterte seine Hand nicht zu sehr.

Dee kam nach vorn und beugte sich über den Bug des Bootes.

Das Wasser vor ihnen war gesprenkelt mit Frauenköpfen. Grünes Haar breitete sich um sie herum aus wie Tang. Wie auf ein Zeichen hin öffneten sie alle miteinander den Mund und entblößten ihre Piranha-Zähne. Und dann setzten sie sich in Bewegung und schwammen wie Delfine auf das Boot zu, mal über und mal unter der Wasseroberfläche.

»Jetzt haben wir ein Problem«, sagte Dee. »Und zwar ein ganz gewaltiges.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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