KAPITEL VIERUNDVIERZIG

Sophie hob den Blick von der Smaragdtafel. In ihren Augen schwammen Tränen, und ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie herumgebrüllt. Sie hatte hundert Fragen, aber keine Antworten. Selbst das Wissen der Hexe von Endor half nicht weiter. Die wusste auch nicht, wie Abraham das alles hatte voraussehen können.

Als Sophie in die Runde blickte, fiel ihr sofort auf, dass niemand sprach. Einige hatten ihren Text gelesen, andere konzentrierten sich noch auf ihre Tafel. Den Reaktionen nach zu urteilen, hatten alle sehr persönliche Nachrichten erhalten, und das von einem Mann – nein, Abraham war gewiss mehr als einfach ein Mann –, der vor zehntausend Jahren gelebt hatte.

Hel weinte. Schwarze Tränen tropften auf die grüne Tafel und brannten sich in den Stein. Es zischte und grauer Rauch stieg zum Himmel auf. Sie hob die Tafel an ihre Lippen und küsste sie. Für einen Augenblick lösten sich ihre tierischen Züge auf, und man sah sie, wie sie früher gewesen war: jung und sehr hübsch.

Perenelle legte ihre grüne Tafel auf den Tisch und bedeckte sie mit den Händen. Sie blickte zu Sophie hinüber und nickte. Tränen ließen ihre Augen größer erscheinen. Ihre Miene war unaussprechlich traurig.

Prometheus und Mars blickten gleichzeitig von ihren Tafeln auf. Wortlos reichten sie sich über den Tisch hinweg die Hände.

Nitens Gesicht war eine unergründliche Maske, doch Sophie bemerkte, dass sein Zeigefinger über dem Stein unaufhörlich kreisende Bewegungen ausführte, als schriebe er die Zahl Acht.

Odin steckte die Tafel ein. Dann streckte er die Hand aus und tätschelte den Arm seiner Nichte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ein Lächeln bei ihr auslöste.

Das Gesicht von Black Hawk war ausdruckslos, aber er klopfte mit den Fingern einen ungleichmäßigen Takt auf die Rückseite der Smaragdtafel.

Nicholas Flamel steckte die Tafel in eine seiner Hosentaschen und griff nach der Hand seiner Frau, und als er sie anschaute, glaubte Sophie, so etwas wie Ehrfurcht in seinem Blick zu erkennen, als sähe er sie zum ersten Mal.

Tsagaglalal brach schließlich das Schweigen. »Ich habe keine Ahnung, was mein Mann euch geschrieben hat. Die Mitteilungen betreffen jeden Einzelnen von euch ganz persönlich. Sie sind auf eure DNA und eure Aura abgestimmt.« Die alte Dame saß am Kopfende des Gartentisches. Mit einer schwarzen dreieckigen Steinscheibe, die einer Pfeilspitze ähnelte, schälte sie sorgfältig einen grünen Apfel.

Sophie fiel auf, dass Tsagaglalal die grünen Apfelschalen so gelegt hatte, dass sie den Zeichen, die sie beim ersten Blick auf ihre Tafel erkannt hatte, nicht unähnlich waren. Sie runzelte die Stirn. Sie hatte schon einmal gesehen, wie jemand das gemacht hatte, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, wo oder wann das gewesen war … Vielleicht handelte es sich auch um eine Erinnerung der Hexe und gar nicht um ihre eigene.

Tsagaglalal wies auf die leeren Stühle. »Setzt euch zu mir«, bat sie, und einer nach dem anderen setzten sie sich an den Tisch. Nicholas und Perenelle saßen nebeneinander, ihnen gegenüber saßen Odin und Hel. Mars und Prometheus sowie Niten und Black Hawk hatten sich ebenfalls einander gegenüber gesetzt. Sophie saß allein am unteren Ende des Tisches, gegenüber von Tsagaglalal.

»Einige der hier Anwesenden haben meinen Mann persönlich gekannt«, begann sie. »Einige unter euch …«, und dabei blickte die alte Dame auf Mars und Prometheus, »hat er zu seinen engsten Freunden gezählt.« Ihr Blick ging zu Odin und Hel. »Und auch wenn andere sich nie auf seine Seite gestellt hätten, möchte ich doch davon ausgehen, dass ihr ihn alle respektiert habt.«

Sämtliche Älteren am Tisch nickten zustimmend.

»Bereits vor der Zerstörung von Danu Talis zeigte unsere Welt Anzeichen von Verfall. Die Älteren waren die Herren der Welt. Es gab keine Erdenfürsten mehr, die Erstgewesenen waren verschwunden und die Archone besiegt worden. In den neuen Rassen, einschließlich der Humani, sah man lediglich bessere Sklaven. Und da es niemanden mehr zu bekämpfen gab, begannen die Angehörigen des Älteren Geschlechts, sich untereinander zu bekriegen.«

»Eine schreckliche Zeit«, murmelte Odin mit seiner tiefen Bassstimme.

Tsagaglalal blickte in die Gesichter am Tisch. »Einige von euch waren mit mir auf der Insel, als sie unterging. Ihr wisst, wie es damals war.«

Die Älteren nickten.

»Und jetzt will Dr. John Dee dafür sorgen, dass es nie passiert ist.«

Hel blickte auf. »Ist das schlecht?«, fragte sie. Dann erst schien sie zu begreifen, was sie gesagt hatte. »Wo bleiben wir in diesem Fall?«

Tsagaglalal nickte. »Diese Welt und die zehntausendjährige Geschichte, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist, wird einfach aufhören zu existieren. Noch wichtiger aber ist Folgendes: Wenn Danu Talis nicht untergeht, werden die Krieg führenden Älteren die Insel zerstören. Und nicht nur die Insel – den gesamten Planeten.«

»Dann muss man Dee stoppen«, sagte Odin ruhig. Er nickte seiner Nichte zu. »Aber deshalb sind wir ja hier. Wir sind gekommen, um Dee als Strafe für seine Verbrechen umzubringen.«

»Ich bin aus demselben Grund hier«, bekannte Mars.

»Und wir wissen, dass er auf Alcatraz ist«, warf Hel ein. »Gehen wir hin und bringen die Sache zu Ende.«

»Ich kann euch rüberbringen«, bot Black Hawk sofort an. »Ich habe ein Boot.«

»Ich komme mit«, sagte Sophie. »Josh ist dort.«

»Nein, du gehst nicht«, bestimmte Tsagaglalal entschieden. »Du bleibst hier.«

»Nein.« Unter keinen Umständen würde die alte Frau – wer immer sie auch war – Sophie davon abhalten können, nach Alcatraz zu gehen.

»Wenn du deinen Bruder je wiedersehen möchtest, bleibst du hier bei mir.«

Prometheus beugte sich vor und klopfte auf die grüne Tafel, die er immer noch in der Hand hielt. »Auch mir wurde gesagt, dass ich hierbleiben soll.«

»Und mir«, meldete sich Niten. Der Schwertkämpfer blickte Tsagaglalal fragend an. »Weißt du, warum?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es«, flüsterte Perenelle und hielt ihre eigene Tafel hoch. »Für mich gab es keine Botschaft aus der Vergangenheit. Als ich auf meine Tafel schaute, habe ich Alcatraz gesehen und den Geist von Juan Manuel de Ayala, der Mann, der der Insel ihren Namen gab und jetzt über sie wacht. Er hat mir zur Flucht verholfen, als Dee mich dort festgehalten hat. De Ayala hat durch die Tafel zu mir gesprochen. Ich bin hoch über der Insel geschwebt und habe durch seine Augen gesehen.«

»Und was hast du gesehen?«, fragte Flamel.

»Dee und Virginia Dare, Josh, Machiavelli und Billy the Kid. Und den Lotan.«

»Den Lotan«, wiederholte Odin unbehaglich. »Voll ausgewachsen?«

»Voll ausgewachsen. Aber es gibt Meinungsverschiedenheiten unter den Unsterblichen«, fuhr Perenelle fort. »Ich habe nicht gehört, was gesprochen wurde, sondern nur gesehen, was passiert ist. Und mir schien, als wollten Machiavelli und Billy the Kid nicht, dass der Lotan auf die Stadt losgelassen wird. Es gab eine Auseinandersetzung und am Ende waren die beiden bewusstlos.«

»Und der Lotan?«, fragte Odin. »Ich habe gesehen, was er anrichten kann. Eine schreckliche Kreatur.«

»Dee hat ihn ins Wasser geschickt. Er kommt in diesem Moment auf die Stadt zugeschwommen.« Sie blickte zuerst Prometheus, dann Niten an. »Deshalb wurdet ihr beide gebeten hierzubleiben. Ihr müsst euch dem Monster in den Weg stellen und die Stadt beschützen. Die Kreatur schwimmt auf den Embarcadero zu. Es dauert keine Stunde mehr, bis sie an Land kommt.«

»Nehmt meinen Wagen«, bot Tsagaglalal sofort an. »Er steht vor dem Haus.« Sie schob den Schlüssel über den Tisch und Niten schnappte ihn sich. Er lief bereits zum Haus, als Nicholas ebenfalls aufstand.

»Wir kommen mit«, rief er ihm hinterher, und Perenelle nickte.

Plötzlich waren alle in Bewegung. Prometheus erhob sich, beugte sich zu Tsagaglalal hinunter und küsste sie auf die Wange. »Genau wie früher, was?«

Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Pass auf dich auf«, flüsterte sie.

Mars kam um den Tisch herum und umarmte seinen ehemaligen Feind. Die Auren der beiden Älteren knisterten und zischten und für einen Augenblick erschien das Bild von zwei Kriegern in exotischer roter Rüstung. »Kämpfe und lebe«, sagte Mars. »Und wenn das alles vorüber ist, bleibt noch Zeit für viele Abenteuer. Genau wie früher.«

»Genau wie früher.« Prometheus drückte die Schulter des Älteren. »Kämpfe und lebe.«

»Ich hole meinen Jeep.« Black Hawk verließ den Tisch mit einem unmelodischen Pfeifen.

»Wartet«, bat Sophie. »Perenelle, was ist mit Josh? Was ist mit meinem Bruder?«

Alle wandten sich der Zauberin zu, und plötzlich wusste Sophie, was ihr Blick von eben zu bedeuten hatte. »Er hat sich erneut für Dee und Virginia Dare entschieden. Sophie, dein Bruder ist unwiederbringlich für uns verloren.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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