KAPITEL SECHS

Du sollst gehen, nicht rennen«, befahl Niten. Eisenharte Finger bohrten sich in Sophies Schulter und zwangen sie, stehen zu bleiben.

Sie schüttelte die Hand ab. »Wir müssen –«

»Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen«, erklärte der schlanke Japaner ruhig. »Lass die Peitsche unter deiner Jacke verschwinden.«

Sophie hatte gar nicht gemerkt, dass sie Perenelles Lederpeitsche mit dem silbernen und goldenen Griff immer noch in der rechten Hand hielt. Sie wickelte die Schnur fest um den Griff und steckte sie unter den linken Arm.

»Schau dich um«, fuhr Niten fort. »Was siehst du?«

Sophie drehte sich um. Sie standen am Fuß des Telegraph Hill. Eine ölig schwarze Rauchwolke, durchsetzt mit züngelnden Flammen, stieg hoch in den Himmel hinauf. Sirenen heulten, und Autos hupten, während die Leute ringsherum versuchten, einen Blick auf die Feuersbrunst zu erhaschen, die eines der eleganten Gebäude gleich unterhalb des Coit Towers verwüstete.

»Ich sehe Feuer … Rauch …«

Das dumpfe Geräusch einer Explosion im Innern des Gebäudes ertönte, und Glasscherben und Teile des Mauerwerks regneten auf den rotweißen VW-Bus herunter, der davor parkte. Sämtliche Fenster auf der rechten Wagenseite wurden pulverisiert. Eine Spur von Bestürzung huschte über Nitens für gewöhnlich so ausdrucksloses Gesicht. »Schau dir die Leute an«, sagte er. »Eine Kriegerin muss immer wissen, was in ihrer Umgebung vor sich geht.«

Sophie betrachtete die Gesichter. »Alle schauen hinauf zu dem brennenden Haus«, erwiderte sie leise.

»Ganz genau. Und das müssen wir auch, wenn wir nicht auffallen wollen. Also dreh dich um und schau hinauf.«

»Aber Josh …«

»Josh ist nicht mehr da.«

Sophie schüttelte den Kopf.

»Dreh dich um und schau hinauf«, wiederholte Niten. »Wenn man dich festnimmt, hast du überhaupt keine Chance mehr, deinem Bruder zu helfen.«

Das Mädchen drehte sich um und blickte wieder auf das Feuer. Niten hatte recht, aber trotzdem fühlte es sich so falsch an, hier zu stehen, anstatt ihrem Zwillingsbruder zu folgen. Jede Sekunde Verzögerung bedeutete, dass Josh ihr weiter entglitt. Das Bild des brennenden Gebäudes zerfiel und löste sich auf, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie blinzelte und wischte sie mit den Handrücken fort. Das Ergebnis waren rußige Streifen auf ihren Wangen. Der Gestank von brennendem Gummi sowie der stechende Geruch von Öl und angesengtem Metall vermischten sich mit anderen giftigen Dämpfen, zogen über die gaffende Menge hinweg und trieben sie zurück. Niten und Sophie ließen sich mittreiben.

Josh ist nicht mehr da.

Sophie versuchte, den Sinn der Worte zu erfassen, doch es war ihr fast nicht möglich. Er hatte sie allein gelassen. Eben war er noch in Reichweite gewesen, doch als sie ihm hatte helfen wollen, hatte er sich mit einer Mischung aus Entsetzen und Abscheu von ihr abgewandt und war Dee und Virginia Dare gefolgt.

Josh ist nicht mehr da.

Ein Gefühl tiefster Verzweiflung überkam sie. Ihr Magen hob sich und ihre Kehle schmerzte. Ihr Zwilling, ihr kleiner Bruder, hatte geschworen, sie nie zu verlassen. Und jetzt hatte er es doch getan.

Da strömten die Tränen. Tiefe, qualvolle Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper und schnürten ihr die Luft ab.

»Man wird auf dich aufmerksam werden«, sagte Niten leise. Er trat näher an Sophie heran und legte leicht die Finger seiner linken Hand auf ihren rechten Unterarm. Augenblicklich war das Mädchen in eine nach Gewürzen und Holz duftende Wolke eingehüllt. Es roch intensiv nach grünem Tee und ein Gefühl der Ruhe überkam sie. »Du musst tapfer sein, Sophie. Die Starken überleben, aber die Tapferen triumphieren.«

Das Mädchen holte tief Luft und blickte in die braunen Augen des Mannes. Es war ein Schock, als sie plötzlich merkte, dass sie in nicht geweinten Tränen schwammen. Der Schwertkämpfer blinzelte und die bläuliche Flüssigkeit rollte seine Wangen hinunter.

»Du bist nicht die Einzige, die heute einen geliebten Menschen verloren hat«, fuhr Niten leise fort. »Ich kenne Aoife seit über vierhundert Jahren. Sie war …« Er hielt inne und sein Gesicht entspannte sich. »Sie war frech und fordernd, sie konnte einen auf die Palme bringen, war egoistisch und hochmütig … und bedeutete mir sehr, sehr viel.«

Blaugrüner Rauch kräuselte sich aus dem brennenden Gebäude und waberte durch die Menge.

Sophie sah, wie die Gaffer sich hustend von dem Rauch abwandten. Die meisten Leute begannen zu weinen, da Rauch und Asche ihnen in den Augen brannten. Nitens Tränen fielen nicht auf.

»Du hast sie geliebt«, flüsterte Sophie.

Er nickte kaum merklich. »Und sie hat mich auf ihre Art ebenfalls geliebt, auch wenn sie es nie zugegeben hätte.« Der Schwertkämpfer verstärkte den Druck seiner Finger auf dem Arm des Mädchens, und als er weitersprach, redete er in dem knappen, eleganten Japanisch, das er in seiner Jugend gesprochen hatte. »Aber sie ist nicht tot. Selbst der Archonin wird es nicht gelingen, Aoife von den Schatten zu töten. Vor zweihundert Jahren hat sie sich ganz allein durch das Jigoku-Schattenreich gekämpft, als mich Untertanen des Shinigami, des Totengottes, gekidnappt hatten. Sie hat mich gefunden. Ich werde sie finden.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Genauso wie du deinen Bruder finden und retten wirst.«

Sophie nickte. Sie würde Josh finden und ihn retten, egal was kam. »Ja. Ja, das werde ich. Was muss ich tun?«, fragte sie. Erst jetzt merkte sie, dass sie in perfektem Japanisch geantwortet hatte.

»Komm mit.« Niten schlängelte sich geschickt durch die sich rasch zerstreuende Menge. Er eilte den Telegraph Hill Boulevard hinunter Richtung Lombard Street.

Sophie versuchte, ihm immer dicht auf den Fersen zu bleiben, weil sie ihn in der Menge nicht verlieren wollte. Niten bewegte sich mühelos zwischen den Touristen und Gaffern hindurch, ohne auch nur einen einzigen von ihnen anzurempeln. »Wohin gehen wir?« Sie musste schreien, um sich über dem Lärm der heranbrausenden Feuerwehrautos und der Polizeisirenen verständlich zu machen.

»Zu Tsagaglalal.«

»Tsagaglalal«, wiederholte das Mädchen. Der Name rief die Erinnerungen der Hexe von Endor auf den Plan. »Die Wächterin.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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