KAPITEL FÜNFZIG

Du wirst von einigen zu hören bekommen, dass die Magie des Feuers oder des Wassers oder selbst die der Luft die mächtigste von allen ist«, begann Tsagaglalal. »Andere würden dem widersprechen – sie würden behaupten, dass die Magie der Erde alle anderen überragt. Sowohl die einen als auch die anderen haben unrecht.«

Sophie saß immer noch auf dem Boden, den Rücken an den Apfelbaum gelehnt, die Hände lagen im Gras.

Tsagaglalal seufzte. »Ich glaube, dass in Wahrheit alle Zweige der Magie gleich stark sind. Ich habe sie mein Leben lang studiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie alle gleich sind.«

»Aber die vier Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde – unterscheiden sich doch«, widersprach Sophie.

Tsagaglalal nickte. »Das ist richtig, aber alle Elemente werden von denselben Kräften kontrolliert. Die Energie, mit der du das Feuer kontrollierst, ist dieselbe wie die, mit der du Wasser in unterschiedliche physikalische Zustände versetzt oder Luft verdichtest.« Sie klopfte auf den Boden. »Mit der Erde ist es dasselbe. Die Energie kommt von innen, es ist die Kraft deiner Aura.«

Der Garten war plötzlich erfüllt von Jasminduft. Tsagaglalal strich mit der Handfläche über den Boden und ein Busch leuchtend weißgelber Gänseblümchen erschien. »Was meinst du? War das jetzt Erdmagie?«

Sophie war sich nicht ganz sicher, trotzdem nickte sie. »Ich denke schon …«

Tsagaglalal lächelte. »Bist du sicher? Warum nicht Wassermagie? Die Pflanzen brauchen Wasser zum Leben. Vielleicht war es aber auch Luftmagie – sie brauchen schließlich auch Sauerstoff.«

»Und Feuer?«, fragte Sophie mit einem kleinen Lächeln.

»Sie brauchen auch Wärme, damit sie wachsen können«, bestätigte Tsagaglalal.

»Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus. Was ist dann die Erdmagie? Willst du etwa sagen, dass es sie gar nicht gibt?«

»Nein. Ich will damit sagen, dass es keine individuelle Magie gibt. Es sollte nicht unterschieden werden zwischen Luft, Erde, Feuer und Wasser. Und warum soll man überhaupt bei diesen vier Unterteilungen aufhören? Warum kann es nicht auch eine Holzmagie geben oder eine Seidenmagie oder eine Fischmagie?«

Sophie blickte sie verständnislos an.

»Ich will dir das Geheimnis verraten, das mir mein Ehemann offenbart hat.« Die alte Frau beugte sich zu Sophie hin und hüllte sie in den süßen Duft ihrer Aura ein. »Magie an sich gibt es gar nicht. Es ist lediglich ein Wort. Ein albernes, dummes, überstrapaziertes Wort. Es gibt nur deine Aura … Die Chinesen haben ein treffenderes Wort dafür: Qi. Lebenskraft. Energie. Es ist die Energie, die in dir fließt. Sie kann geformt, gestaltet, gelenkt werden.« Sie zupfte einen einzelnen Grashalm ab und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Was siehst du?«, fragte sie.

»Einen Grashalm.«

»Was noch?«

»Er … ist grün«, antwortete Sophie zögernd.

»Schau noch einmal hin. Schau genauer. Mehr in die Tiefe«, befahl Tsagaglalal.

Sophie blickte angestrengt auf den hin und her schwankenden Grashalm. Ihr fiel das zarte Muster auf, das an der Unterseite entlanglief, die Spitze, die schon ein wenig braun war …

»Benutze deine Aura, Sophie. Schau den Grashalm an.«

Sophie ließ es zu, dass ihre Aura sich wie der Finger eines silbernen Handschuhs um ihren Zeigefinger legte.

»Schau in ihn hinein«, drängte Tsagaglalal. »Sieh ihn.«

Sophie berührte den Grashalm … und sofort sah sie …

… die Struktur des Grases ins Riesenhafte vergrößert, als sei der Halm ein ganzer Garten … die äußere Lage schälte sich ab und darunter kamen Adern und Fasern zum Vorschein … dann lösten diese sich auf und ließen die Zellen erkennen … und darin die Moleküle … und schließlich die Atome …

Plötzlich hatte sie das Gefühl zu fallen. Doch ging es hinauf oder hinunter? Flog sie ins All oder fiel sie immer tiefer …

… hinein in Protonen von der Größe eines Planeten … in Neutronen und Elektronen, die kreisenden Monden glichen … und dann die noch kleineren Quarks und Leptonen, die hin und her schossen wie Kometen …

»Ich kann dich nicht in Erdmagie unterrichten.« Tsagaglalals Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, doch dann wurde Sophie zu dem Klang zurückgezogen. Sie sah alles in umgekehrter Reihenfolge, mikroskopisch klein wurde zu winzig, winzig zu klein … bis sie wieder den Grashalm vor sich sah. Einen Augenblick lang erschien er ihr noch so groß wie ein Wolkenkratzer, doch dann zog Tsagaglalal ihre Hand zurück und er nahm wieder seine ganz normale Größe an.

»Du hast gesehen, woraus wir gemacht sind, jeder Einzelne und wir alle. Selbst ich, die ich aus Ton geformt und von Prometheus’ Aura mit Leben erfüllt wurde, trage tief in mir dieselbe Struktur.«

Sophie schwirrte der Kopf. Sie presste die Hände an die Schläfen. Gerade wenn sie glaubte, sie hätte alles gesehen, stürzte etwas Neues auf sie ein. Das alles zu verkraften, war einfach zu viel.

»Wenn du mit Wassermagie arbeiten willst, formst du mit deiner Fantasie Wasser- und Sauerstoffatome und lässt sie nach deinem Willen agieren.« Tsagaglalal beugte sich wieder vor und nahm Sophies Hände in ihre. »Magie ist nichts weiter als Fantasie. Schau nach unten«, befahl sie.

Sophie blickte zwischen ihren ausgestreckten Beinen auf den Boden.

»Stell dir vor, der Boden hier ist mit blauen Blumen bedeckt …«

Sophie wollte den Kopf schütteln, doch Tsagaglalal drückte ihre Finger schmerzhaft zusammen. »Tu es.«

Sophie versuchte, das Bild der blauen Blumen in ihrem Kopf entstehen zu lassen.

Zwei winzige Glockenblumen erschienen.

»Ausgezeichnet«, sagte Tsagaglalal. »Jetzt noch einmal. Stelle sie dir in allen Einzelheiten vor. Visualisiere sie. Lass sie durch die Kraft deiner Fantasie entstehen.«

Sophie konzentrierte sich. Sie wusste, wie Glockenblumen aussahen. Ganz deutlich standen sie vor ihrem geistigen Auge.

»Jetzt stell dir vor, das Gras verwandelt sich in Glockenblumen. Verwandle es in deinem Kopf … zwinge es, sich zu verwandeln … glaub, dass es sich verwandelt. Du musst glauben, Sophie Newman. Du wirst glauben müssen, um zu überleben.«

Sophie nickte. Sie glaubte fest, dass die Wiese jetzt voller Glockenblumen war.

Und als sie die Augen öffnete, war es tatsächlich so.

Tsagaglalal klatschte entzückt in die Hände. »Siehst du? Daran zu glauben, war alles.«

»Aber war es Erdmagie?«, fragte Sophie.

»Darin liegt das Geheimnis jeder Magie. Wenn du dir etwas vorstellen kannst, wenn du es deutlich vor dir siehst, und wenn deine Aura, dein Qi, stark genug ist, wirst du es auch entstehen lassen können.«

Tsagaglalal versuchte aufzustehen. Sophie sprang mühelos auf und half der alten Frau auf die Beine. »Geh jetzt ins Haus und zieh dir was anderes an, ja? Am besten eine strapazierfähige Jeans, festes Schuhwerk und einen warmen Pulli.«

»Wohin gehe ich?«

»Zu deinem Bruder«, antwortete Tsagaglalal.

Nichts hätte Sophie in diesem Moment lieber gehört. Sie drückte ihrer Tante rasch einen Kuss auf die Wange und lief dann durch den Garten zum Haus.

»Ich glaube allerdings nicht, dass es ein glückliches Wiedersehen wird«, murmelte Tsagaglalal.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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