KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

Sophie Newman blickte auf die grüne Tafel. Sie war ungefähr zehn Zentimeter breit und zwanzig Zentimeter lang. Der Stein fühlte sich kühl an. Beide Seiten waren mit dünnen schmalen Zeichen bedeckt, eine Schrift, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte: Dreiecke, Halbkreise, Striche, Symbole, die entfernt an mathematische Zeichen erinnerten, und Punkte. Für sie jedenfalls unmöglich zu entziffern.

Sie drehte die Tafel um und strich mit dem Finger über die waagerecht verlaufenden Textzeilen auf der glatten Oberfläche. Schlieren ihrer silbernen Aura ringelten sich über die Tafel. Sie hielt den Atem an. Die Schrift kam in Bewegung, sie veränderte sich permanent und immer wieder entstand Neues. Sophie erkannte Keilschrift und ägyptische Hieroglyphen, aztekische Schriftzeichen und solche aus dem keltischen Baumalphabet, chinesische Piktogramme, schwungvolle arabische Zeichen, dann griechische und altnordische Runen … und endlich lateinische Buchstaben.

Es war ein Brief.

Ich bin Abraham von Danu Talis, zuweilen der Weise genannt, und ich grüße die Silberaura.

Ich weiß viel über dich. Ich kenne deinen Namen, weiß, wie alt du bist und dass du weiblich bist. Ich habe das Leben deiner Vorfahren über zehn Jahrtausende hinweg verfolgt. Du bist eine ganz besondere junge Frau, die Letzte in einer Reihe ebenso besonderer Frauen.

Du lebst in einer Welt, die mir unbegreiflich ist, so wie ich in einer Zeit zu Hause bin, die du nicht verstehen könntest. Doch du und ich, wir sind miteinander verbunden, und zwar durch diese Tafel, die ich persönlich beschrieben habe und von der ich hoffe, dass meine liebe Frau sie dir überreicht hat.

Während ich dies schreibe, sitze ich in einem Turm am Rande der bekannten Welt auf der Insel Danu Talis. Im Lauf der Geschichte wird die Insel andere Namen erhalten, doch dies ist ihr ursprünglicher, ihr wahrer Name. Du solltest wissen, dass deine Welt und meine ein und dieselbe sind, wenn auch durch Jahrtausende voneinander getrennt. Des Weiteren solltest du darauf vertrauen, dass ich im Grunde meines Herzens für unsere beiden Welten nur das Beste will. Ich habe meine geliebte Tsagaglalal damit beauftragt, diese Botschaft über alle Zeiten zu dir zu bringen. Bis du sie liest, hat sie über deine Mutter und deine Großmutter gewacht und über sämtliche anderen Frauen in deinem Clan, seit es ihn gibt. Und ihr Bruder hat dasselbe bei den Männern getan.

Das Eine musst du wissen: Deine Welt beginnt mit dem Tod von meiner.

Aber du solltest auch wissen, dass es Zeitstränge gibt, in denen meine Welt nicht untergeht. Und in diesen Zeitsträngen wird deine Welt nie geschaffen. Andere Lebensformen entstehen und herrschen über den Planeten.

Es gibt Zeitstränge, in denen dunkle Mächte die Insel Danu Talis in Besitz nehmen und regieren, in denen die Humani Sklaven bleiben, bis sie ausgelöscht und durch eine neue Rasse ersetzt werden.

Dann wiederum gibt es Zeitstränge, in denen deine Welt – deine moderne Welt mit all ihrem glänzenden Metall und Glas, mit euren Schrecken erregenden Waffen und unvorstellbaren Wundern – dem Chaos und ewiger Nacht anheimfällt.

Und dann gibt es einige Zeitstränge, in der eure Welt ganz einfach nicht existiert. Dort wo euer Planet und sein Mond sich jetzt im All drehen, ist nichts als Staub und Steine.

Ich habe immer gewusst, dass das Schicksal unserer Welten – deiner wie meiner – in den Händen einzelner Individuen liegt. Das Handeln einer einzigen Person kann den Lauf einer Welt verändern und Geschichte schreiben.

Und du bist eine dieser Personen.

Du bist mächtig. Eine Silberaura, wie ich sie mächtiger nie gesehen habe. Und du bist auch mutig. Das steht außer Zweifel.

Du hast alles, was es braucht, um die Geschichte zu verändern. Aber um das zu tun, wirst du mir vertrauen müssen. Das mag schwierig werden, denn ich weiß, dass du in deinem Leben bisher niemandem vertraut hast außer deinem Zwillingsbruder. Und meine Nachforschungen haben ergeben, dass du jetzt von deinem Bruder getrennt bist. Wenn es dir ein Trost ist, kann ich dir sagen, dass ihr wieder vereint sein werdet, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich bitte dich, jemandem zu vertrauen, dem du nie begegnet bist, der dir aus einer Zeit vor zehntausend Jahren schreibt und in einer Welt lebt, die dein Begreifen übersteigt. Doch wenn du mir vertraust und tust, was getan werden muss, und wenn du es dann auch noch erfolgreich tust, wirst du die Welt retten. Nicht nur meine Welt und deine, sondern all die unsichtbaren Schattenreiche mit allen, die darin wohnen. Milliarden fühlender Geschöpfe werden dir ihr Leben verdanken.

Versagst du, werden diese Milliarden Geschöpfe sterben.

Doch ich muss dir nun auch gestehen, dass der Erfolg seinen Preis hat. Du wirst teuer dafür bezahlen müssen. Dein Herz wird tausendfach brechen und du wirst meinen Namen jetzt und in alle Ewigkeit verfluchen.

Nun musst du dich entscheiden. Vor tausend Jahren habe ich eine Prophezeiung gemacht, die mit den Worten endete: Die zwei, die eins sind, müssen das Eine werden, das alles ist. Einer, um die Welt zu retten, einer, um sie zu zerstören.

Welcher bist du, Sophie Newman?

Welcher bist du?

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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