KAPITEL DREIZEHN
An der wilden nordöstlichen Küste von Danu Talis stieg vor der Stadt Murias ein unglaublich hoher, unwahrscheinlich schlanker, in sich gedrehter Glasturm direkt aus dem Meer auf. Die Stadt war uralt, doch der Turm war noch Jahrtausende älter. Als die Großen Älteren die Insel Danu Talis erschufen, indem sie den Meeresboden mithilfe der Elemente-Magie in einem außergewöhnlichen Schöpfungsakt anhoben, waren der gläserne Turm und die Überreste der Stadt eines Erdenfürsten mit an die Oberfläche gerissen worden. Ein Großteil der alten Stadt bestand nur noch aus riesigen Kugeln aus geschmolzenem Glas, durchzogen von Fäden aus reinem Gold. Es waren die sichtbaren Beweise für die entsetzlichen Schlachten, die die Erdenfürsten mit den Archonen und den Großen Älteren in der Zeit vor der Zeit ausgetragen hatten.
Doch der spitze Kristallturm strahlte in makellosem Glanz. Die unglaubliche Hitze, die die umliegenden Gebäude zum Schmelzen brachte, hatte ihm nichts anhaben können. Er stand auf einer felsigen Landzunge, die bei Flut zur Insel wurde. Der Turm aus glattem weißem, quarzähnlichem Kristall änderte je nach Wetter und Gezeiten seine Farbe, war mal von einem kühlen Grau, mal eisblau, alabasterweiß oder meergrün. Wenn die Flut gegen die glatten Mauern schlug, zischte und brodelte das Salzwasser, sodass der Turm ständig von einer Dampfwolke eingehüllt war. Die Steine selbst blieben dabei jedoch kalt. Nachts leuchtete der Turm in einem schwachen, phosphoreszierenden Licht, das die Farbe von Milch hatte. Es pulsierte in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus wie ein großes Herz und schickte farbige Schlieren in Rot und Lila bis hinauf zur Spitze. Während der Wintermonate, wenn verheerende Hagelstürme vom ewigen Eis auf dem Gipfel der Welt hereinbrausten und Murias unter einer dicken Schnee- und Eisschicht begruben, blieb der Turm unberührt.
Die Bewohner Murias’, Ältere und Große Ältere, empfanden angesichts des Turms eine Mischung aus Bewunderung und Furcht. Wunder waren ihnen nicht fremd, sie waren Meister der Elemente-Magie, und es gab nur wenig, das sie nicht vermocht hätten. Sie wussten, dass sie Bewohner einer alten Welt waren, einer uralten Welt, und dass Reste ihrer urzeitlichen Vergangenheit noch in allen Ecken lauerten. Über Generationen hinweg hatten die Großen Älteren und die Älteren, die nach ihnen kamen, gegen die Archonen gekämpft und sie besiegt. Selbst die Letzten der schrecklichen Erdenfürsten hatten sie vernichtet. Ihre Kräfte – sie beruhten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, gelenkt von Aura-Energie – machten sie fast unverwundbar. Doch selbst sie fürchteten den einzigen Bewohner des Turms.
In den Legenden wurde die Insel Tor Ri genannt, was in der alten Sprache von Danu Talis »Turm des Königs« bedeutete. Doch kein König lebte hier.
Der Kristallturm war das Zuhause von Abraham dem Weisen.
Der große, rothaarige Krieger in der glänzenden purpurroten Rüstung wankte durch die schmale Tür. Er atmete schwer, beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Diese Treppe bringt mich noch mal ins Grab, Abraham«, keuchte er. »Sie will kein Ende nehmen und raubt mir jedes Mal den Atem. Irgendwann werde ich die Stufen zählen.«
»Zweihundertachtundvierzig«, erwiderte der große, kantige Mann. Er stand mitten im Raum und betrachtete konzentriert eine blauweiße Kugel, die sich vor seinem Gesicht in der Luft drehte.
»Ich dachte, es seien mehr. Mir kommt es immer vor, als dauerte das Treppensteigen eine Ewigkeit.«
Abraham drehte sich halb zu ihm um. Über die rechte Seite seines Gesichts fiel Licht von der rotierenden Kugel und verlieh seiner kalkweißen Haut einen ungesunden bläulichen Schimmer. »Auf dem Weg hier herauf bist du durch mindestens ein Dutzend Schattenreiche gekommen, Prometheus, alter Freund. Was glaubst du, weshalb ich dir geraten habe, nie auf den Stufen zu verweilen?«, fügte er mit einem pfiffigen Lächeln hinzu. »Du bringst Neuigkeiten?«
Abraham der Weise wandte sich dem hochgewachsenen Krieger jetzt ganz zu.
Prometheus straffte die Schultern. Die verinnerlichte Disziplin eines Kriegers ließ sein Gesicht wie von selbst zu einer ausdruckslosen Maske werden. Bevor er etwas sagen konnte, senkte sich die blaue Kugel ein Stück weit ab und schwebte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm in der Luft stehen blieb.
»Was siehst du, alter Freund?«
Prometheus blinzelte und konzentrierte sich auf die Kugel. »Die Welt …«, begann er. Dann runzelte er die Stirn. »Aber etwas stimmt nicht mit ihr. Es gibt zu viel Wasser«, stellte er mit Blick auf die immer noch rotierende Kugel gedehnt fest. Als er die Umrisse einiger Kontinente erkannte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Danu Talis fehlt.«
Abraham hob die Hand – er trug metallene Handschuhe – und steckte seinen Zeigefinger in die Kugel. Sie platzte wie eine Seifenblase. »Danu Talis ist nicht mehr«, bestätigte er. »Das ist nicht die Welt, wie sie sein wird, sondern wie sie sein könnte.«
»Wie bald?«
»Bald.«
Prometheus betrachtete Abraham den Weisen eingehend. Lange bevor der Ältere ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er die Legenden von dem geheimnisumwehten Wanderlehrer gehört, einem Mann, von dem es hieß, er sei weder Älterer noch Archon, sondern älter als beide, selbst älter als die Erdenfürsten. Es wurde berichtet, dass er aus der Zeit vor der Zeit stammte, doch Abraham selbst sprach nie über sein Alter. Prometheus’ ältere Schwester Zephaniah hatte ihm erzählt, dass es in der Geschichte jedes Volkes einen Lehrer gebe, einen weisen Seher, der den Vorfahren in der fernen Vergangenheit Wissen und Weisheit gebracht hatte. Beschreibungen von dem Gelehrten gab es nur sehr wenige … Doch viele Geschichten berichteten von einer Gestalt, die Abraham der Weise hätte sein können.
Das hellblonde Haar, die grauen Augen und die blasse Haut ließen vermuten, dass der Magier aus einem der weit entfernten Nordländer kam. Allerdings war er viel größer als die Menschen dort und seine Züge waren feiner. Er hatte hohe, stark hervortretende Wangenknochen und leicht schräg stehende Augen. Und an jeder Hand hatte er einen Finger zusätzlich.
Vor einigen Jahrzehnten hatte bei Abraham der Wandel eingesetzt.
Prometheus wusste, dass es Schilderungen gab, nach denen alle Großen Älteren diesen Wandel durchliefen. Vielleicht war das ein Hinweis darauf, dass Abraham dieser Rasse entstammte. Aber da so wenige von ihr überlebt hatten und sich keiner je in der Öffentlichkeit zeigte, wusste niemand, wie es wirklich war. Zephaniah hatte ihm erklärt, dass etwas – es mochte eine Krankheit sein, eine Mutation oder sogar eine Regeneration – die DNA der Großen Älteren nach und nach veränderte, nachdem sie ein extrem hohes Alter erreicht hatten.
Die Großen Älteren unterlagen dem Wandel. Und bei jedem ging der Wandel anders vonstatten.
Einige verwandelten sich komplett in Bestien. Sie bekamen ein Fell und Reißzähne. Aus anderen wurden Hybridwesen, denen Flügel oder Flossen wuchsen. Einige schrumpften, während andere gigantisch groß wurden. Viele verloren den Verstand.
Abraham verwandelte sich langsam in eine wunderschöne Statue. Seine goldene Aura leuchtete nicht länger über seiner Haut. Sie hatte sich direkt darauf gelegt und mit ihr verbunden, sodass er jetzt eine Haut aus Metall hatte. Die linke Seite seines Gesichts war von der Stirn bis zum Kinn und von der Nase bis zum Ohr eine Maske aus reinem Gold. Nur sein Auge war ihm geblieben, auch wenn das Weiße sich safrangelb verfärbt hatte und die graue Iris von Goldfäden durchzogen war. Auf der linken Seite waren die Zähne im Ober- und Unterkiefer aus purem Gold und seine linke Hand schien in einem goldenen Handschuh zu stecken. Prometheus wusste allerdings, dass die Haut selbst zu Gold geworden war.
Irgendwann merkte Prometheus, dass Abraham ihn beobachtete. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Magiers. »Du hast mich erst gestern gesehen«, sagte er leise. »Ich habe mich in der Zwischenzeit nicht verändert.«
Prometheus nickte. Er war feuerrot geworden.
Der Wandel war schrecklich und schön zugleich. Und obwohl Abraham nie darüber sprach, wussten sowohl er als auch Prometheus, dass er nur auf eine Art enden konnte: Der Wandel würde aus Abraham eine lebende Statue machen. Der Weise würde nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen können, nur sein Geist würde seine Wachheit und Neugier behalten. Prometheus hatte nie gefragt, doch er vermutete, dass Abraham ganz genau wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb.
»Sag mir, was es Neues gibt«, bat Abraham.
»Es ist nichts Gutes«, warnte Prometheus. Er sah den schmerzvollen Ausdruck auf der noch lebendigen Gesichtshälfte des Magiers, trotzdem fuhr er rasch fort: »Die Fremden sind – wie du es vorhergesagt hast – auf den Hügeln im Süden der Stadt aufgetaucht. Aber die Anpu haben sie erwartet. Sie wurden gefangen genommen und in den Vimanas weggeschafft. Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt sind, vermute aber, dass sie in die Kerker unter dem Kaiserpalast gebracht wurden.«
»Dann sind sie für uns verloren und wir sind dem Untergang geweiht.« Abraham wandte sich ab. Er hob beide Arme und die blauweiße Kugel hing wieder in der Luft. Weiße Wolkenfetzen wirbelten um die Kugel herum und schwebten über den braunen Landmassen.
»Was geschieht jetzt?«, fragte Prometheus.
Abraham legte beide Hände – die aus Metall und die aus Fleisch und Blut – um die schwebende Welt. Dann drückte er zu. Blaue, weiße und braune Körnchen rieselten wie Sand zwischen seinen Fingern hervor. Er drehte sich zu Prometheus um und die metallische Seite seines Gesichts leuchtete. »Jetzt endet die Welt.«