KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

Das dreieckige Vimana war so ausladend, dass es den Vulkankrater am oberen Rand fast ganz ausfüllte. Als es sich absenkte, stieß es mit zwei der kleineren Fluggeräte zusammen. Eines explodierte in einem Feuerball, das andere schleuderte in die nackte Felswand und zerbarst. Flammen loderten auf und glühende Metallteile schossen in alle Richtungen.

Sämtliche Gefangenen brachten sich im hinteren Teil ihrer Zellen in Sicherheit, als Metallsplitter von den Wänden abprallten. Nur Scathach blieb am vorderen Rand stehen und beobachtete das Näherkommen des Rukma Vimanas. Sie drehte den Kopf weg, als ein brennendes Stück Rumpf, so lang wie ihr Arm, über ihrem Kopf gegen die Felswand prallte. Das riesige Kampf-Vimana streifte ein weiteres kleines Vimana. Die fliegende Scheibe geriet zu dicht an die Kraterwand und es riss ihr die Seite auf. Als sie an ihrer Zelle vorbeitrudelte, erhaschte Scathach einen Blick auf die beiden Anpu, die verzweifelt versuchten, das Vimana wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es tauchte in die Lava ein und explodierte in einer gewaltigen Feuerkugel. Eine Magmawolke wurde hoch in die Luft geschleudert. Der geschmolzene Fels blieb an der Kraterwand kleben und tropfte dann langsam wieder nach unten.

Das ausladende Rukma-Vimana senkte sich langsam ab. Die spitze Nase und die Flügelspitzen berührten fast die Schachtwände. Die Schattenhafte nickte anerkennend. Da saß ein Meister am Kontrollpult. Immer weiter senkte das Luftschiff sich ab, vorbei an den Zellen von Shakespeare und Palamedes.

Das letzte kleinere Vimana flitzte um das größere Schiff herum, immer darauf bedacht, ihm nicht zu nah zu kommen. Scathach versuchte angestrengt, sich zu erinnern, was sie über die Maschinen wusste, aber es war herzlich wenig. Sie nahm nicht an, dass die kleineren Schiffe bewaffnet waren, vermutete jedoch, dass mindestens eines zur Stadt zurückgeflogen war und Verstärkung angefordert hatte. Das große Vimana war jetzt so nah, dass Scathach Genaueres erkennen konnte. Im Gegensatz zu den kleineren Maschinen, die aus Metall waren, bestand es aus poliertem Kristall und glänzender Keramik. Es war fast vollständig durchsichtig und im Inneren bewegte sich eine einzelne Gestalt.

Die Luft vibrierte vom Summen des elektromagnetischen Motors, ein hohes Heulen, das ihr durch Mark und Bein ging. Statische Elektrizität knisterte durch ihr rotes, aufgespiktes Haar. Die Vibrationen übertrugen sich auf die schwarzen Kraterwände, und sie sah, wie winzige Risse sich über die Oberfläche zogen. Plötzlich brach vor ihren Füßen ein Stück Fels ab und fiel hinunter in die Lava. Scathach tänzelte nach hinten, als der Höhlenrand zu Staub zerfiel.

Ein Flügel schwang herum, bis er fast direkt über ihr war. Das rote Licht an der Flügelspitze zersprang, und es regnete schwarze Steinchen, als das Vimana an der Wand entlangratschte. Scathach wusste, dass es stecken bleiben würde, falls es sich noch weiter absenkte. Sie kauerte sich hin, atmete tief die schwefelhaltige Luft ein, hustete und schnellte im selben Moment nach oben, in dem sich die Wände ihrer Zelle durch die Vibrationen auflösten und zerbröselten. Es gelang ihr, sich knapp hinter der Flügelspitze links und rechts festzuhalten, doch ihre rechte Hand rutschte auf der glatten gläsernen Oberfläche ab, und sie versuchte verzweifelt, den Flügelrand wieder zu packen, bevor sie auch noch mit der linken Hand abrutschte. Als sie zwischen ihren Beinen nach unten schaute, wurde ihr bewusst, dass zwischen ihr und dem zähen Lavasee nichts war. Das Rukma begann zu steigen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Ein kleines rundes Vimana neigte sich zu ihr hin. Offensichtlich versuchte es, sie von der größeren Maschine herunterzustoßen. Sie trat nach ihm, verlor dabei jedoch fast den Halt.

Das gläserne Rukma-Vimana stieg langsam weiter nach oben und Scathach hing immer noch an der Tragfläche. Sie versuchte erneut, sich auf das Schiff zu schwingen, doch die Oberfläche war zu glatt. Sie merkte, dass sie sich nicht mehr lange würde halten können. Und plötzlich fiel ihr ein, dass ihr einmal jemand gesagt hatte, sie würde an einem exotischen Ort sterben. Exotischer, als im Krater eines aktiven Vulkans unter einem Kampfvimana zu baumeln, ging es ja wohl kaum.

Das kleinere Vimana kam wieder angeflogen. Bald war es so nah, dass sie unter der Kristallkuppel die anzüglich grinsenden Hundegesichter erkennen konnte. Die Anpu bleckten die Zähne und schwenkten erneut in ihre Richtung. Dieses Mal würden sie sie treffen.

Und dann landete Johanna von Orléans mitten auf der Glaskuppel.

Sie war vom Eingang ihrer Zelle heruntergesprungen und klammerte sich an der Kuppel fest. Den beiden Anpu in der fliegenden Scheibe war vor Schreck der Unterkiefer heruntergeklappt. Johanna lächelte sie allerliebst an. »Bonjour.« Das Vimana wackelte, legte sich dann auf die Seite und ruckte nach rechts und links. Der Anpu-Pilot versuchte, sie mit diesen Manövern abzuwerfen. »Du vergeudest deine Zeit«, rief sie und lachte. »Ich bin stärker, als ich aussehe! Mein ganzes Leben lang hab ich ein Schwert getragen – ich kann mich stundenlang festhalten.«

Als das Fahrzeug direkt unter Scathach war, löste die ihren Griff, und sie ließ sich neben Johanna auf die Kuppel fallen. Das Kampfvimana sackte durch den Ruck ein gutes Stück ab. Die Französin lachte. »Kommt eine Frau zum Piloten und fragt, wo der Fallschirm …«

»Komm bloß nicht auf die Idee, mir jetzt irgendwelche dämlichen Witze zu erzählen«, warnte Scathach ihre Freundin.

Das Vimana wackelte und begann zu kreiseln, doch die beiden Frauen hielten sich auf der durchsichtigen Kuppel gut fest, als der Pilot sein Fluggerät in Schräglage brachte und erneut versuchte, sie abzuschütteln.

»Solange er nicht zu nah an die Lava kommt, kann uns eigentlich nichts passieren«, sagte Scatty.

Im nächsten Moment fiel das Vimana senkrecht nach unten und glitt gefährlich nah über der stinkenden, blubbernden Lavasee hin und her.

»Ich glaube, er hat dich gehört.« Johanna hustete. Es war kaum noch möglich zu atmen. Ihre Haut war von einem Schweißfilm überzogen und die Spitzen ihrer kurzen kastanienbraunen Haare kräuselten sich in der sengenden Hitze. »Meine Hände werden nass. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch festhalten kann.«

»Nicht aufgeben«, sagte Scathach. Sie schloss die rechte Hand zur Faust und legte den Daumen über den Zeigefinger. Dann zog sie den Arm zurück. »Wenn du unbedingt mit Erfolg ein Loch in etwas schlagen musst …«, die Kriegerin ächzte, als sie mit unglaublicher Kraft ihre Faust in die Glaskuppel krachen ließ, »… gibt es nichts Besseres als einen Jeet-Kune-Do-Schlag.« Die Kuppel bekam einen Sprung. Die beiden Anpu blickten auf, Augen und Münder entsetzt aufgerissen. »Ist wahrscheinlich doch nicht so unzerbrechlich, wie ihr dachtet!« Scathach schlug erneut zu und das Glas zerbarst unter ihrer Faust. Heiße, stinkende Luft drang zu den Anpu hinein. Sie husteten bellend und krümmten sich. Der Pilot ließ das Fahrzeug aufsteigen, weg von der tödlichen Hitze.

»Viel zu schnell!«, rief Scathach. »Das gibt einen Zusammenstoß!«

Der Rand des Vimanas streifte einen Felsen. Es gab ein ekliges Geräusch, als Metall sich verbog und weggerissen wurde. Das Fahrzeug wackelte und hätte Scatty und Johanna fast abgeworfen, aber es stieg weiter nach oben. Und dann stieß es gegen den Flügelrand des großen Kampfvimanas, das immer noch an derselben Stelle in der Luft stand. Metall schrammte an Glas entlang und ein großes Stück vom Rand der fliegenden Scheibe wurde abgerissen. Der Aufprall war jedoch so heftig, dass die beiden Frauen den Halt verloren. Johanna schrie und Scathach stieß trotzig ihren Kriegsruf aus …

… und starke Hände ergriffen die beiden Frauen und zogen sie von dem Vimana, nur eine Sekunde, bevor es in die Kraterwand krachte und zerschellte.

Palamedes setzte Scatty und Johanna vorsichtig ab. Er stand neben Saint-Germain auf der Tragfläche des Rukma-Vimanas. Der Graf schloss seine Frau in die Arme und drückte sie an sich. Sprechen konnten beide nicht.

»Bisher war es immer so, dass ich dir das Leben gerettet habe«, sagte Scathach lächelnd und drückte Palamedes’ Arm.

»Ich dachte, es sei an der Zeit, mich zu revanchieren.« Die tiefe Stimme des sarazenischen Ritters zitterte. »Das war knapp, Schattenhafte.«

»Vielleicht ist heute einfach nicht mein Todestag«, erwiderte Scatty leichthin.

Palamedes drückte ihre Schulter. »Der Tag ist noch nicht um«, warnte er ernst. »Kommt, wir müssen rein.« Er drehte sich um und wies dann mit dem Daumen nach oben zum Kraterrand. »Unsere Freunde mit den Hundeschnauzen warten schon.«

Scathach folgte Palamedes über die Tragfläche des Rukmas zu einer langen ovalen Öffnung an der Oberseite des Schiffes. »Wie bist du auf das Fahrzeug gekommen?«

»Als die Tragfläche auf einer Höhe mit meinem Zellenboden war, habe ich einfach einen Schritt gemacht und stand darauf«, erzählte der Ritter. »Bei Francis war es genauso.« Er schwang sich in die Öffnung. Die Schattenhafte sah durch die Kristallhaut des Fahrzeugs seine verzerrten Umrisse. Sie wartete, bis Johanna und nach ihr Saint-Germain im Inneren des Vimanas verschwunden waren. Erst dann hielt sie sich am Rand der Öffnung fest und schwang sich hinein.

»Dann war das eine Rettungsaktion«, sagte sie. »Und ich war sicher, dass wir umgebracht werden sollten.«

Eine Gestalt bewegte sich in dem Rukma. »Wenn sie euch einfach nur umbringen wollten, warum hätte sie dann einen Kampfvimana schicken sollen?«, fragte eine tiefe Stimme.

»Wahrscheinlich weil sie wussten, mit wem sie es zu tun haben«, antwortete Scatty und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Ich bin Scathach die Kriegerin, die Schattenhafte, die Dämonenschlächterin, die Königsmacherin, die –«

»Nie von dir gehört.« Ein hünenhafter rothaariger Krieger in einer glänzenden roten Rüstung trat unter die Öffnung und strich mit dem Finger am Rand entlang. Mit leisem Zischen schloss sich eine gläserne Kuppel.

»Onkel!« Mit einem Freudenschrei warf Scathach sich auf den rothaarigen Mann.

Doch der fing sie auf, bevor sie sich ihm an die Brust werfen konnte, und hielt sie auf Armeslänge von sich. Ihre Füße baumelten über dem Boden. »Ich bin Prometheus und ich habe keine Nichte. Ich habe dich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen und habe keine Ahnung, wer du bist.« Er stellte sie vorsichtig ab und trat einen Schritt zurück.

Johanna musste lachen, als sie Scathachs Gesichtsausdruck sah. Dann ergriff sie ihre Hand und nahm sie zur Seite. »Du musst meiner Freundin verzeihen. Sie vergisst, wo sie ist … und wann sie wo ist«, fügte sie vielsagend hinzu und blickte die Schattenhafte dabei an.

Scathach nickte. Die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Du hast mich an jemanden erinnert«, erklärte sie Prometheus. »An jemanden, der mir sehr lieb ist.«

Der rothaarige Ältere nickte nur und wandte sich dann ab. Die anderen folgten ihm einen langen Flur hinunter in einen abgesenkten runden Bereich in der Mitte des Rukma. Er setzte sich in einen körpergerecht geformten Stuhl und legte die Arme auf die Lehnen. Im selben Moment wurde die gesamte Kristallwand vor ihm hell und bewegliche Textzeilen und Zeichen überlagerten sich auf dem Glas. Auf der linken Seite der Wand tanzten rote Punkte.

Prometheus zeigte mit dem Finger darauf. »Das ist nicht gut. Wir müssen schnell hier raus. Wie es aussieht, ist die gesamte Vimana-Flotte auf dem Weg hierher.«

»Wohin bringst du uns?«, wollte Saint-Germain wissen.

»Ich bringe euch –«

Eine Stimme, klar und deutlich und unheimlich ruhig, schallte durch den runden Kontrollraum. »Prometheus, mein Freund, ich brauche dich auf der Stelle. Der Turm wird angegriffen.« Im Hintergrund waren deutlich ein paar schwere, dumpfe Explosionen zu hören.

»Bin schon unterwegs«, sagte Prometheus in den Raum hinein.

»Und unsere Freunde?«, fragte die Stimme. »Sind sie in Sicherheit?«

»Ja. Sie waren genau dort, wo du vermutet hast, in den Zellen des Huracan. Jetzt sind sie bei mir.«

»Gut. Dann beeile dich jetzt, alter Freund. Beeile dich.«

»Wer war das?«, fragte Scathach, obwohl sie sich, wie die anderen auch, die Antwort schon denken konnte.

»Das war euer Retter. Abraham der Weise.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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